3

»Erlaubt einfach, daß ich ihn töte«, sagte Cara. »Ich brauche ihn bloß mit dem Strafer an der richtigen Stelle zu berühren, und sein Herz bleibt stehen. Er wird nicht leiden.«

Zum ersten Mal zog Kahlan Caras oft wiederholte Bitte ernsthaft in Erwägung. Sie war zwar bereits früher schon gezwungen gewesen, Menschen zu töten, und hatte Hinrichtungen angeordnet, trotzdem gab sie der Regung des Augenblicks nicht nach. Sie mußte diese Sache noch durchdenken. Schließlich konnte dies Jagangs eigentlicher Plan sein, obwohl sie sich nicht recht vorstellen konnte, was er davon hätte. Aber hinter seinen Anordnungen mußten irgendwelche Machenschaften stecken. Er war nicht dumm. Er wußte, daß man Marlin zumindest gefangennehmen würde.

»Nein«, antwortete Kahlan. »Noch wissen wir nicht genug. Vielleicht ist das das Falscheste, was wir überhaupt tun können. Wir dürfen nichts unternehmen, bis wir uns die Sache gründlich überlegt haben. Bereits jetzt sind wir in einen Sumpf hineinspaziert, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, wo wir hintreten.«

Cara nahm die altbekannte Weigerung mit einem Seufzer auf. »Was wollt Ihr also tun?«

»Ich bin mir noch nicht sicher. Jagang muß gewußt haben, daß man ihn zumindest festnehmen würde, und dennoch hat er es befohlen. Warum? Das müssen wir herausfinden. Bis dahin ist es wichtig, ihn an einem sicheren Ort zu verwahren, wo er weder fliehen noch jemandem etwas antun kann.«

»Mutter Konfessor«, meinte Cara mit übertriebener Geduld, »er kann nicht entkommen. Ich habe die Kontrolle über seine Kraft.

Glaubt mir, ich weiß, wie man einen Menschen beherrscht, wenn ich die Herrschaft über seine Magie besitze. Er ist nicht in der Lage, irgend etwas gegen meinen Willen zu tun. Hier, ich will es Euch beweisen.«

Sie riß die Tür auf. Überraschte Soldaten griffen zu den Waffen, während sie das Zimmer stumm musterten. Im zusätzlichen Licht von jenseits der Tür erkannte Kahlan das wahre Ausmaß des Chaos. Eine Gischt aus Blut war quer über das Regal gespritzt. Blut durchtränkte auch den dunkelroten Teppich. Der Fleck reichte bis weit über die Grenze des goldenen Zierstreifens. Marlins Gesicht bot einen blutigen Anblick. Auf der Seite seiner beigefarbenen Uniformjacke befand sich ein dunkler, feuchter Fleck.

»Du da«, sagte Cara. »Gib mir dein Schwert.« Der blonde Soldat zog die Waffe und reichte sie ohne Zögern herüber. »Ihr werdet«, verkündete sie, »mir jetzt alle zuhören. Ich werde der Mutter Konfessor hier einen Beweis dafür liefern, welche Macht eine Mord-Sith besitzt. Widersetzt sich einer von Euch meinen Befehlen, wird er sich mir gegenüber zu verantworten haben« – damit deutete sie auf Marlin – »genau wie er.«

Nach einem weiteren flüchtigen Blick auf den bedauernswerten Mann auf dem Fußboden nickten ein paar der Soldaten, und die anderen gaben murmelnd ihr Einverständnis zu verstehen.

Cara deutete mit dem Schwert auf Marlin. »Wenn er es bis zur Tür schafft, müßt ihr ihn laufenlassen – dann soll er seine Freiheit wiederbekommen.« Die Soldaten murrten, damit waren sie nicht einverstanden. »Keine Widerworte!«

Die d'Haranischen Soldaten verstummten. Eine Mord-Sith bedeutete Ärger genug, aber wenn sie die Herrschaft über die Magie eines Menschen hatte, dann war das etwas, das alle Schwierigkeiten überstieg: Sie befaßte sich mit Magie. Und die Wachen hatten nicht das Bedürfnis, ihre Finger in einen Hexenkessel zu stecken, in dem sie herumrührte.

Cara schlenderte hinüber zu Marlin und hielt ihm das Schwert hin, das Heft voran. »Nimm schon.« Der Angesprochene zögerte, dann griff er hastig nach dem Schwert, als sie warnend die Stirn runzelte.

Cara schaute Kahlan an. »Wir lassen unseren Gefangenen immer ihre Waffen. Das soll sie ständig daran erinnern, daß sie hilflos sind und gegen uns nicht einmal ihre Waffen etwas taugen.«

»Ich weiß«, erwiderte Kahlan mit schwacher Stimme. »Richard hat es mir erzählt.«

Cara gab Marlin ein Zeichen aufzustehen. Da er sich ihr nicht schnell genug bewegte, versetzte sie ihm einen Faustschlag gegen die gebrochene Rippe.

»Worauf wartest du? Steh auf! So, und jetzt stell dich da drüben hin!«

Nachdem er vom Teppich heruntergetreten war, packte sie eine Ecke davon und schlug ihn um. Sie zeigte auf den polierten Holzfußboden und schnippte mit den Fingern. Marlin eilte zu der Stelle und stöhnte bei jedem Schritt vor Schmerzen laut auf.

Cara packte ihn am Genick und drückte ihn nach vorn. »Spucken!«

Marlin hustete Blut und spie auf den Boden vor seinen Füßen. Cara riß ihn in die Senkrechte hoch, packte den Kragen seiner Uniformjacke und riß sein Gesicht zu sich.

Sie biß die Zähne aufeinander. »So, und jetzt hör mir gut zu. Du weißt, welche Schmerzen ich dir bereiten kann, wenn du mein Mißfallen erregst. Brauchst du noch einen weiteren Beweis dafür?«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Herrin Cara.«

»Guter Junge. So, du wirst jetzt genau das tun, was ich dir sage. Falls nicht, falls du dich meinen Befehlen oder Wünschen widersetzt, wird deine Magie dir die Eingeweide auswringen wie einen Putzlumpen. Solange du dich mir widersetzt, werden die Schmerzen zunehmen. Ich werde nicht zulassen, daß die Magie dich tötet, aber genau das wirst du dir wünschen. Du wirst mich anbetteln, dich zu töten, um den Schmerzen zu entgehen. Doch diesen Wunsch werde ich meinem kleinen Spielgefährten nicht erfüllen.«

Marlins Gesicht war aschfahl geworden.

»So, und jetzt stell dich auf die Stelle, wo du hingespien hast.« Der Mann stellte beide Füße auf den roten Fleck. Cara packte sein Kinn mit einer Hand und zielte mit dem Strafer auf sein Gesicht.

»Es ist mein Wunsch, daß du genau dort stehenbleibst, auf der Stelle, wo deine Spucke ist, bis ich dir etwas anderes befehle. Von jetzt an darfst du nicht mal einen Finger gegen mich oder sonst jemanden erheben, nie mehr. So lautet mein Wunsch. Hast du verstanden? Hast du vollkommen verstanden, was ich wünsche?«

Er nickte, so gut das mit ihrer Hand, die sein Kinn im Klammergriff hielt, möglich war. »Ja, Herrin Cara. Ich werde Euch nie etwas antun – das schwöre ich. Ihr wollt, daß ich auf meiner Spucke stehe, bis Ihr mir die Erlaubnis erteilt, etwas anderes zu tun.« Wieder kamen ihm die Tränen. »Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, das schwöre ich. Bitte, tut mir nicht weh.«

Cara stieß sein Gesicht zurück. »Du widerst mich an. Männer, die so leicht zu brechen sind wie du, widern mich an. Ich hatte Mädchen, die unter meinem Strafer länger ausgehalten haben«, brummte sie. Sie deutete hinter sich. »Diese Männer werden dir nichts tun. Sie werden nichts unternehmen, um dich aufzuhalten. Wenn du es gegen meinen Wunsch bis zur Tür schaffst, bist du frei, und die Schmerzen werden verschwunden sein.« Sie funkelte die Soldaten wütend an. »Ihr habt mich alle gehört, oder? Wenn er es bis zur Tür schafft, ist er frei.« Die Soldaten nickten. »Wenn er mich tötet, ist er frei.«

Diesmal waren sie erst einverstanden, als Cara ihren Befehl brüllend wiederholte. Cara richtete ihren heißglühend funkelnden Blick auf Kahlan. »Das gilt auch für Euch. Wenn er mich tötet oder die Tür erreicht, ist er frei.«

Wie unwahrscheinlich dies auch war, Kahlan war nicht bereit, dergleichen zuzustimmen. Marlin hatte die Absicht, Richard zu töten. »Warum tut Ihr das?«

»Weil es nötig ist, daß Ihr versteht. Ihr müßt auf mein Wort vertrauen.«

Kahlan preßte den Atem heraus. »Macht weiter«, sagte sie, ohne den Bedingungen zuzustimmen.

Cara drehte Marlin den Rücken zu und verschränkte die Arme. »Du kennst meine Wünsche, mein kleiner Spielgefährte. Wenn du die Absicht hast zu fliehen, dann ist dies deine Chance. Schaffst du es bis zur Tür, bist du frei. Wenn du mich für das, was ich dir angetan habe, töten willst, dann hast du auch dazu jetzt Gelegenheit.

Weißt du«, fügte sie hinzu, »ich glaube, ich habe längst noch nicht genug von deinem Blut gesehen. Wenn wir mit all diesem Unfug fertig sind, werde ich dich an irgendeinen ungestörten Ort bringen, wo die Mutter Konfessor nicht in der Nähe ist, um zu deinem Besten einzugreifen, und dann werde ich den Rest des Nachmittags und Abends damit verbringen, dich mit meinem Strafer zu peinigen, einfach weil mir der Sinn danach steht. Ich werde dich dazu bringen, daß du den Tag bedauerst, an dem du geboren wurdest.«

Sie zuckte die Achseln. »Es sei denn, natürlich, du tötest mich oder entkommst.«

Die Soldaten standen stumm da. Das Zimmer strahlte eine bedrückende Stille aus, als Cara die Arme verschränkte und wartete. Marlin sah sich vorsichtig um, musterte die Soldaten, Kahlan und Caras Rücken. Seine Finger arbeiteten auf dem Heft des Schwertes und faßten es fester. Er kniff die Augen zusammen und überlegte.

Caras Rücken nicht aus den Augen lassend, machte er schließlich einen kleinen zögerlichen Schritt zur Seite.

Für Kahlan sah es so aus, als hätte ein unsichtbarer Knüppel ihn in den Unterleib geschlagen. Er knickte mit einem Grunzen an der Hüfte ein. Ein tiefes Stöhnen entwich schnaufend seiner Kehle. Vor Anstrengung schreiend warf er sich in Richtung Tür.

Er landete kreischend auf dem Fußboden. Mit beiden Armen hielt er sich den Unterleib und krümmte sich. Die Finger vor Schmerz gebogen, warf er sich flach hin und versuchte, sich an den Fingernägeln zur Tür zu ziehen. Es war noch immer ein gutes Stück. Mit jedem Zoll, den er vorankam, wurden die schmerzhaft quälenden Krämpfe, die ihn folterten, nur noch schlimmer. Kahlan zuckte bei jedem seiner keuchend ausgestoßenen Schreie zusammen.

In einer letzten, verzweifelten Anstrengung griff er ein weiteres Mal das Schwert und kam taumelnd auf die Beine, richtete sich ein Stück weit auf und hob das Schwert über den Kopf. Kahlan hielt den Atem an. Selbst wenn er es nicht schaffte, daß ihm seine Arme gehorchten, konnte er hinfallen und Cara dabei ernsthaft verletzen.

Das Risiko für Cara war zu groß. Kahlan machte einen entschlossenen Schritt nach vorn, als Marlin brüllend versuchte, das Schwert zu senken und auf die Mord-Sith einzuschlagen. Cara, die Kahlan beobachtete, hob warnend die Hand und stoppte Kahlan.

Das Schwert landete scheppernd hinter ihr auf dem Boden, während Marlin in sich zusammensackte und sich schreiend den Bauch hielt. Er schlug krachend hin. Offenbar steigerte sich seine Pein jäh mit jedem Augenblick, den er sich auf dem polierten Marmorboden wand wie ein gestrandeter Fisch.

»Was hab' ich dir gesagt, Marlin?« fragte Cara ruhig. »Wie lauten meine Wünsche?«

Er schien die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen, so als stammten sie von jemandem, der auf ihn einschrie, während er einem Ertrinkenden das rettende Seil zuwarf. Mit gehetztem Blick suchte er den Fußboden ab. Endlich sah er ihn. Mit den Fingernägeln zog er sich zu dem Fleck seines eigenen Auswurfs, kroch, so schnell dies seine quälenden Schmerzen zuließen. Schließlich gelang es ihm, sich wankend aufzurichten.

Er stand da, die Fäuste an den Seiten, noch immer zitternd und schreiend.

»Beide Füße, Marlin«, sagte Cara beiläufig.

Er schaute nach unten und sah, daß nur ein Fuß auf dem roten Fleck stand. Er riß den anderen heran.

Daraufhin sackte er in sich zusammen und verstummte endlich. Kahlan spürte, wie sie innerlich mit ihm zusammensackte. Die Augen geschlossen, keuchend, vor Schweiß triefend, stand er da und erzitterte unter den allmählich nachlassenden Auswirkungen seiner gräßlich schweren Prüfung.

Cara zog eine Augenbraue hoch und sah Kahlan an. »Versteht Ihr jetzt?«

Kahlan machte ein finsteres Gesicht. Die Mord-Sith hob das Schwert vom Boden auf und brachte es hinüber zur Tür. Die Soldaten traten wie ein Mann einen Schritt zurück. Sie hielt das Schwert hin, das Heft voran. Zögernd nahm sein Besitzer es wieder an sich.

»Irgendwelche Fragen, meine Herren?« fragte Cara mit eisiger Stimme. »Gut. Und jetzt hört auf, gegen die Tür zu trommeln, wenn ich beschäftigt bin.« Sie schlug ihnen das schwere Stück krachend vor der Nase zu.

Mit jedem keuchenden Atemzug sog Marlin die Unterlippe über die unteren Zähne. Cara brachte ihr Gesicht ganz dicht an seines heran.

»Ich erinnere mich nicht, dir die Erlaubnis erteilt zu haben, die Augen zu schließen. Hast du mich sagen hören, du dürftest deine Augen schließen?«

Er riß die Augen weit auf. »Nein, Herrin Cara.«

»Was hat das dann zu bedeuten, daß sie geschlossen waren?« Marlins entsetzliche Angst spiegelte sich im Zittern seiner Stimme wider. »Tut mir leid, Herrin Cara. Bitte verzeiht. Ich werde es nicht wieder tun.«

»Cara.«

Sie drehte sich um, als hätte sie vergessen, daß Kahlan überhaupt im Zimmer war. »Was ist?«

Kahlan neigte ihren Kopf in einer Geste auf die Seite. »Wir müssen miteinander reden.«

»Seht Ihr?« fragte Cara, als sie sich zu Kahlan an den Tisch mit der Lampe gesellt hatte. »Versteht Ihr, was ich meine? Er kann niemandem etwas tun. Er kann nicht entfliehen. Kein Mann ist je einer Mord-Sith entkommen.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Richard schon.«

Cara richtete sich auf und seufzte hörbar. »Lord Rahl ist etwas anderes. Dieser Mann ist kein Lord Rahl. Mord-Sith haben tausende Male ihre Unfehlbarkeit bewiesen. Niemand außer Lord Rahl hat je seine Herrin getötet, um seine Magie zurückzugewinnen und zu entkommen.«

»Wie unwahrscheinlich es auch sein mag, Richard hat bewiesen, daß Mord-Sith nicht unfehlbar sind. Es ist mir gleich, wie viele tausend Mord-Sith ihre Opfer unterworfen haben, die Tatsache, daß eines entkommen ist, beweist, daß es möglich ist. Cara, ich zweifele nicht an Euren Fähigkeiten – es ist nur so, daß wir nichts riskieren dürfen. Irgend etwas stimmt hier nicht. Warum sollte Jagang sein Lamm in den Pferch mit den Wölfen werfen und ihm ausdrücklich auftragen, sich zu erkennen zu geben?«

»Aber –«

»Es ist denkbar, daß Jagang getötet wurde – vielleicht ist er tot, dann haben wir nichts zu fürchten – wenn er jedoch noch lebt und mit Marlin hier irgend etwas schiefgeht, dann wird es Richard sein, der den Preis dafür bezahlt. Jagang will ihn tot sehen. Seid Ihr so verbohrt, um Richard nur um Eures Stolzes willen einer solchen Gefahr auszusetzen?«

Cara kratzte sich am Hals und überlegte. Sie warf einen raschen Blick über ihre Schulter auf Marlin, der mit weit aufgerissenen Augen auf dem blutigen Fleck stand, während ihm der Schweiß von der Nasenspitze tropfte.

»Was wollt Ihr tun? Dieses Zimmer hat keine Fenster. Wir können die Tür abschließen und verriegeln. Wo können wir ihn sonst hinbringen, wo es sicherer wäre als in diesem Zimmer?«

Kahlan preßte ihre Finger auf den brennenden Schmerz unter ihrem Brustbein.

»In die Grube.«


Kahlan verschränkte die Finger, als sie vor der Eisentür stehenblieb. Marlin, der aussah wie ein verängstigter junger Hund, wartete in dem von Fackeln beleuchteten Gang stumm inmitten einer Gruppe von d'Haranischen Soldaten ein Stück weiter hinten.

»Was ist?« wollte Cara wissen.

Kahlan zuckte zusammen. »Bitte?«

»Ich fragte, was los ist. Ihr seht aus, als hättet Ihr Angst, die Tür könnte Euch beißen.«

Kahlan löste die Hände voneinander. »Nichts.« Sie drehte sich um und nahm den Schlüsselring vom eisernen Haken in der groben Steinmauer neben der Tür.

Cara senkte die Stimme. »Lügt keine Schwester des Strafers an.«

Kahlan setzte rasch ein entschuldigendes Lächeln auf. »Die Grube ist der Ort, an dem die Verdammten auf ihre Hinrichtung warten. Ich habe eine Halbschwester – Cyrilla. Sie war einst Königin von Galea. Als sie hier war und Aydindril an die Imperiale Ordnung fiel, bevor Richard die Stadt befreite, warf man sie zusammen mit einer Bande von etwa einem Dutzend Mörder in die Grube.«

»Ihr habt eine Halbschwester? Dann lebt sie also noch?«

Kahlan nickte, während die Nebel der Erinnerung an ihrem inneren Auge vorüberwirbelten. »Sie wurde tagelang dort unten festgehalten. Prinz Harold, ihr Bruder, mein Halbbruder, rettete sie, als man sie für ihre Enthauptung zum Schafott bringen wollte. Seitdem hat sie sich nie wieder erholt. Sie hat sich in sich selbst zurückgezogen. Ganz selten erwacht sie aus ihrer Erstarrung und besteht darauf, das Volk brauche eine Königin, die in der Lage sei, es zu führen, und ich solle an ihrer Stelle Königin von Galea werden. Ich willigte ein.« Kahlan hielt inne. »Wenn sie beim Aufwachen einen Mann erblickt, fängt sie an jämmerlich zu weinen.«

Cara, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wartete, ohne ein Wort des Kommentars von sich zu geben.

Kahlan deutete mit der Hand auf die Tür. »Mich haben sie auch dort reingeworfen.« Ihr Mund war so trocken, daß sie zwei Versuche brauchte, um zu schlucken. »Zusammen mit den Männern, die sie vergewaltigt hatten.« Sie tauchte aus ihren Erinnerungen wieder auf und warf rasch einen verstohlenen Blick auf Cara. »Allerdings haben sie mich nicht so mißhandelt wie Cyrilla.« Sie sagte nicht, wie knapp sie dem entgangen war.

Ein durchtriebenes Lächeln erschien auf den Lippen der Mord-Sith. »Wie viele habt Ihr getötet?«

»Ich habe nicht nachgezählt.« Ihr knappes Lächeln war nicht von Dauer. »Aber ich verlor vor Angst fast den Verstand – alleine dort unten zu sein, mit all diesen Bestien.« Bei der Erinnerung daran schlug Kahlans Herz so heftig, daß sie begann, im Stehen zu schwanken.

»Nun«, bot Cara an, »wollt Ihr Marlin vielleicht an einem anderen Ort unterbringen?«

»Nein.« Kahlan holte tief Luft, um sich von der Erinnerung zu befreien. »Hört zu, Cara, es tut mir leid, wie ich mich aufführe.« Sie sah kurz zu Marlin hinüber. »Da ist irgendwas mit seinen Augen. Etwas Seltsames…«

Wieder blickte sie Cara an. »Tut mir leid. Es ist nicht meine Art, so nervös zu sein. Ihr kennt mich erst seit kurzem. Normalerweise bin ich nicht so ängstlich. Es ist nur … wahrscheinlich liegt es einfach daran, daß in den letzten Tagen alles so friedlich war. Ich war so lange von Richard getrennt, daß das Zusammensein mit ihm die reinste Wonne war. Wir hatten gehofft, Jagang sei tot und der Krieg aus. Wir hatten gehofft, er habe sich im Palast der Propheten aufgehalten, als Richard ihn zerstörte…«

»Das müssen wir immer noch nicht ausschließen. Marlin sagte, es sei zwei Wochen her, daß Jagang ihm den Befehl gab. Er war wahrscheinlich bei seinen Truppen, als sie den Palast stürmten. Ganz sicher ist er tot.«

»Wir wollen es hoffen. Aber ich habe solche Angst um Richard … Wahrscheinlich beeinträchtigt das mein Urteilsvermögen. Jetzt, da sich alles so gut getroffen hat, befällt mich eine fürchterliche Angst, es könnte mir wieder aus den Händen gleiten.«

Cara zuckte die Achseln, als wollte sie Kahlan damit den Grund für ihre Entschuldigung nehmen. »Ich weiß, wie Euch zumute ist. Jetzt, wo uns Lord Rahl unsere Freiheit gegeben hat, haben wir auch etwas, das wir nicht mehr verlieren wollen. Vielleicht bin auch ich deswegen so nervös.« Sie deutete mit der Hand auf die Tür. »Wir könnten einen anderen Ort suchen. Es muß andere Kerker geben, die bei Euch keine schmerzhaften Erinnerungen auslösen.«

»Nein. Richards Sicherheit geht über alles. Die Grube ist der sicherste Ort im Palast, um einen Gefangenen unterzubringen. Zur Zeit haben wir sonst niemanden dort unten. Sie ist ausbruchsicher. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Cara runzelte die Stirn. »Ausbruchsicher? Ihr seid doch ausgebrochen.«

Kahlan hatte ihre Erinnerungen gebändigt und lächelte. Mit dem Handrücken versetzte sie Cara einen Klaps vor den Bauch, und damit war das Thema beendet.

»Marlin ist keine Mutter Konfessor.« Sie warf einen kurzen Blick den Gang hinunter auf Marlin. »Aber irgend etwas ist an ihm – etwas, das ich nicht recht benennen kann. Etwas Seltsames. Er macht mir angst, und das sollte er nicht, nicht, solange Ihr seine Gabe kontrolliert. Niemals.«

Cara nahm Kahlan den Schlüsselring aus der Hand und schloß die Tür auf. Ruckartig öffnete sie sich mit rostigen, quietschenden Angeln. Ein fauliger Gestank schlug ihnen aus der Dunkelheit unten entgegen. Die Erinnerungen, die der üble Geruch mit sich brachte, schnürten Kahlan die Kehle zu. Cara wich nervös einen Schritt zurück.

»Es gibt doch keine … Ratten dort unten, oder?«

»Ratten?« Kahlan warf einen Blick in den dunklen Schlund. »Nein. Sie haben keine Möglichkeit, dort hineinzugelangen. Dort gibt es keine Ratten. Ihr werdet sehen.«

Die Mutter Konfessor wandte sich den Soldaten hinten im Gang bei Marlin zu und zeigte auf die lange Leiter, die mit der Seite an der Wand gegenüber der Tür lehnte. Nachdem sie die Leiter durch die Tür bugsiert hatten und sie mit dumpfem Schlag unten zum Stehen kam, schnippte Cara mit den Fingern und bedeutete Marlin vorzutreten. Er eilte ohne Zögern zu ihr, aufs äußerste darauf bedacht, alles zu vermeiden, was ihr Mißfallen erregen könnte.

»Nimm die Fackel und steig dort runter«, befahl ihm Cara.

Marlin zog die Fackel aus der rostverkrusteten Halterung und begann hinabzusteigen. Mit einem verwunderten Stirnrunzeln folgte Cara ihm hinunter in das Dämmerlicht, als Kahlan ihr ein Zeichen machte.

Kahlan sagte zu einer der Wachen: »Unterkommandant Collins, Ihr wartet bitte mit Euren Männern hier oben.«

»Ist das Euer Ernst, Mutter Konfessor?« fragte der Unterkommandant.

»Seid Ihr scharf darauf, dort unten zu sein, an einem Ort mit wenig Platz, zusammen mit einer übellaunigen Mord-Sith, Unterkommandant?«

Er hakte einen Daumen hinter seinen Waffengürtel und warf einen Blick in die Grubenöffnung. »Wir werden hier oben warten, wie Ihr befohlen habt.«

Kahlan begann, rückwärts die Leiter hinabzusteigen. »Wir kommen schon zurecht.«

Die glatten Gesteinsblöcke der Wände waren so exakt und mörtellos aufeinandergepaßt, daß nicht einmal ein Fingernagel Halt fand. Als sie über ihre Schulter blickte, hielt Marlin die Fackel und wartete mit Cara fast zwanzig Fuß weiter unten auf sie. Vorsichtig kletterte sie Sprosse für Sprosse nach unten, darauf bedacht, nicht auf den Saum ihres Kleides zu treten und zu stürzen.

»Warum sind wir zusammen mit ihm hier runtergeklettert?« wollte Cara wissen, als Kahlan von der letzten Sprosse heruntertrat.

Diese rieb die Hände, um den Rost der Sprossen abzuwischen. Daraufhin nahm sie Marlin die Fackel ab, ging zur Wand, stellte sich auf die Zehen und steckte die Fackel in eine der Wandhalterungen. »Weil mir auf dem Weg nach unten noch ein paar Fragen eingefallen sind, die ich ihm stellen möchte, bevor wir ihn hier alleine zurücklassen.«

Cara funkelte Marlin wütend an und zeigte auf den Fußboden. »Spucken!« Sie wartete. »So, und jetzt stell dich drauf.«

Der junge Mann stellte sich auf die Stelle, sorgsam darauf bedacht, beide Füße darauf zu plazieren. Cara musterte den leeren Raum, sah in den Schatten in den Ecken nach. Kahlan fragte sich, ob sie sich vergewisserte, daß der Raum wirklich frei von Ratten war.

»Marlin«, begann Kahlan. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wartete auf ihre Frage. »Wann hast du zum letzten Mal Befehle von Jagang empfangen?«

»Wie ich Euch schon sagte, vor etwa zwei Wochen.«

»Und seitdem hat er dich nicht aufgesucht?«

»Nein, Mutter Konfessor.«

»Wenn er tot ist, wie willst du das dann wissen?«

Seine Antwort kam ohne Zögern. »Ich weiß es nicht. Entweder er kommt zu mir oder eben nicht. Ich habe keine Möglichkeit, zwischen den Heimsuchungen etwas über ihn zu erfahren.«

»Wie sucht er dich heim?«

»In meinen Träumen.«

»Und du hast nicht von ihm geträumt, seit er, wie du sagst, vor vierzehn Tagen das letzte Mal bei dir war?«

»Nein, Mutter Konfessor.«

Kahlan ging zur Wand, an der die zischende Fackel hing, ging wieder zurück, dachte nach. »Du hast mich nicht erkannt.« Er schüttelte den Kopf. »Würdest du Richard erkennen?«

»Ja, Mutter Konfessor.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Wie das? Woher kennst du ihn?«

»Aus dem Palast der Propheten. Ich war dort Schüler. Richard wurde von Schwester Verna mitgebracht. Ich kannte ihn aus dem Palast.«

»Ein Schüler im Palast der Propheten? Dann … wie alt bist du?«

»Dreiundneunzig, Mutter Konfessor.«

Kein Wunder, daß er ihr so eigenartig vorgekommen war, manchmal wie ein Junge und manchmal wie jemand, der das Verhalten eines alten Mannes an den Tag legt. Das erklärte auch den wissenden Blick in seinen jungen Augen. Diese Augen hatten etwas an sich, das nicht zu seinem jugendlichen Äußeren paßte. Das würde es jedenfalls erklären.

Im Palast der Propheten wurden junge Männer im Gebrauch ihrer Gabe ausgebildet. Uralte Magie hatte die Schwestern des Lichts bei ihrer Aufgabe unterstützt, indem sie den Zeitablauf im Palast so veränderte, daß sie in Abwesenheit eines erfahrenen Zauberers die nötige Zeit hatten, um den jungen Burschen die Beherrschung ihrer Gabe beizubringen.

Das alles war jetzt vorbei. Richard hatte den Palast zerstört und die Prophezeiungen vernichtet, damit sie Jagang nicht in die Hände fielen. Die Prophezeiungen wären ihm bei seinem Bestreben, die Welt zu erobern, nützlich gewesen, und der Palast hätte ihm ermöglicht, jahrhundertelang über die Menschen zu herrschen, die er unterworfen hatte.

Kahlan spürte, wie die Last der Sorge von ihr wich. »Jetzt weiß ich, warum ich so ein seltsames Gefühl bei ihm hatte«, sagte sie und tat ihre Erleichterung mit einem Seufzer kund.

Cara wirkte nicht so erleichtert. »Warum hast du dich den Soldaten im Palast der Konfessoren zu erkennen gegeben?«

»Kaiser Jagang hat seine Anweisungen nicht erläutert, Herrin Cara.«

»Jagang stammt aus der Alten Welt und weiß zweifellos nichts von den Mord-Sith«, erklärte Cara Kahlan. »Wahrscheinlich dachte er, ein Zauberer wie Marlin hier könne seine Identität preisgeben, um so eine Panik auszulösen und ein Chaos anzurichten.«

Kahlan ließ sich die Vermutung durch den Kopf gehen. »Mag sein. Die Schwestern der Finsternis sind Jagangs Marionetten, daher hätte er die Möglichkeit, sich Informationen über Richard zu beschaffen. Er war nicht lange genug im Palast, um viel über seine Gabe zu erfahren. Die Schwestern der Finsternis hätten Jagang davon unterrichtet, daß er seine Gabe nicht zu benutzen weiß. Richard ist der Sucher und weiß, wie er das Schwert der Wahrheit führen muß, aber seine Gabe kann er nicht recht einsetzen. Möglicherweise hatte Jagang die Absicht, einen Zauberer zu schicken, auf die Möglichkeit hin, daß er Erfolg hat, und wenn nicht … was macht das schon? Er hat noch andere.«

»Was meinst du, mein kleiner Spielgefährte?«

Marlins Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, Herrin Cara. Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Ich schwöre.« Das Beben ging von seinem Kinn auf seine Stimme über. »Aber es wäre möglich. Es stimmt, was die Mutter Konfessor sagt. Es ist ihm gleich, ob wir bei der Ausführung unserer Befehle getötet werden. Unser Leben bedeutet ihm wenig.«

Cara drehte sich zu Kahlan. »Und weiter?«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Im Augenblick fällt mir nichts weiter ein. Ich denke, das alles könnte einen Sinn ergeben. Wir werden nachher wiederkommen, wenn ich darüber nachgedacht habe. Vielleicht fallen mir noch ein paar weitere Fragen ein, die Klarheit in die Angelegenheit bringen.«

Cara richtete den Strafer auf sein Gesicht. »Du bleibst genau hier stehen, auf diesem Fleck, und zwar, bis wir zurückkommen. Ob das in zwei Stunden oder in zwei Tagen geschieht, ist unerheblich. Wenn du dich hinsetzt oder außer deinen Fußsohlen irgendein anderer Teil von dir den Boden berührt, wirst du hier ganz alleine mit den Schmerzen sein, die es mit sich bringt, wenn man sich meinen Wünschen widersetzt. Kapiert?«

Er blinzelte, als ihm ein Schweißtropfen ins Auge lief. »Ja, Herrin Cara.«

»Glaubt Ihr, es ist wirklich nötig, Cara, daß –«

»Ja. Ich weiß, was ich tue. Laßt mich nur machen. Ihr habt mich selbst darauf gebracht, was auf dem Spiel steht und daß wir keine Risiken eingehen dürfen.«

Kahlan gab nach. »Also gut.«

Sie ergriff eine Sprosse über ihrem Kopf und begann, die Leiter hinaufzuklettern. Auf der zweiten Sprosse hielt sie inne und sah sich um. Stirnrunzelnd stieg sie wieder hinunter.

»Marlin, bist du alleine nach Aydindril gekommen?«

»Nein, Mutter Konfessor.«

Cara packte den Kragen seiner Uniformjacke. »Was? Du bist zusammen mit anderen hergekommen?«

»Ja, Herrin Cara.«

»Mit wie vielen?«

»Mit einer anderen, Herrin Cara. Sie war eine Schwester der Finsternis.«

Kahlan packte ihn ebenfalls an der Jacke. »Wie war ihr Name?«

Von den beiden Frauen eingeschüchtert, versuchte er, ein Stück zurückzuweichen, aber ihr Griff an seiner Uniformjacke ließ das nicht zu. »Ich kenne ihren Namen nicht«, jammerte er. »Ich schwöre.«

»Sie war eine Schwester der Finsternis aus dem Palast, wo du nahezu ein Jahrhundert gelebt hast, und du kennst ihren Namen nicht?« fuhr Kahlan ihn an.

Marlin fuhr sich abermals mit der Zunge über die Lippen. Sein Blick wanderte zwischen den Frauen hin und her. »Es gab Hunderte von Schwestern im Palast der Propheten. Und Regeln. Man hatte uns Lehrer zugeteilt. Es gab Orte, an die wir nicht gingen, und Schwestern, mit denen wir nie in Kontakt kamen, zum Beispiel jene, die die Verwaltungsarbeit machten. Ich kannte sie nicht alle, das schwöre ich. Ihr bin ich schon einmal im Palast begegnet, aber ihren Namen wußte ich nicht, und sie hat ihn mir auch nicht verraten.«

»Wo ist sie jetzt?«

Marlin zitterte vor Entsetzen. »Ich habe keine Ahnung! Seit Tagen habe ich sie nicht gesehen, seit ich in die Stadt gekommen bin.«

Kahlan biß die Zähne aufeinander. »Wie sah sie aus?«

Marlins Blick zuckte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Eine junge Frau. Ich glaube, daß sie erst seit kurzem keine Novizin mehr ist. Sie sah jung aus, so wie Ihr, Mutter Konfessor. Hübsch. Ich fand sie hübsch. Sie hatte langes Haar. Langes, braunes Haar.«

Kahlan und Cara sahen sich an. »Nadine«, entfuhr es ihnen wie aus einem Mund.

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