7

Die beiden Mord-Sith, die zurückgeblieben waren, warteten mit Egan im roten Zimmer. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen.

»Raina, Egan, ich möchte, daß Ihr Richard beschützt«, verkündete Kahlan, als sie den Raum betrat.

»Lord Rahl hat uns aufgetragen, bei Euch zu bleiben, Mutter Konfessor«, sagte Raina.

Kahlan runzelte die Stirn. »Seit wann befolgt Ihr Lord Rahls Befehle, wenn es darum geht, ihn zu beschützen?«

Raina grinste boshaft – ein seltener Anblick. »Uns soll es recht sein. Aber er wird wütend sein, daß wir Euch alleine gelassen haben.«

»Ich habe Cara und einen ganzen Palast voller Wachen, der von Soldaten geradezu umzingelt ist. Die größte Gefahr für mich besteht darin, daß mir einer dieser hünenhaften Wachsoldaten auf die Füße tritt. Richard hat nur fünfhundert Mann, dazu Berdine und Ulic. Ich mache mir Sorgen um ihn.«

»Und wenn er uns zurückschickt?«

»Sagt ihm … sagt ihm … Augenblick.«

Kahlan ging durchs Zimmer zum Mahagonischreibtisch und nahm Papier, Tinte und Feder unter dem Deckel hervor. Sie tauchte die Feder ein, beugte sich vor und schrieb: Halte dich warm und schlafe gut. Im Frühjahr wird es kalt in den Bergen. Ich liebe dich – Kahlan.

Sie faltete das Blatt und reichte es Raina. »Folgt ihm in einem gewissen Abstand. Wartet, bis sie ihr Lager aufgeschlagen haben, dann überbringt ihm diese Nachricht. Erklärt ihm, ich habe Euch gesagt, sie sei wichtig. Es wird dunkel sein, und in der Dunkelheit wird er Euch nicht zurückschicken.«

Raina öffnete zwei Knöpfe an der Seite ihres Lederanzuges und schob den Brief zwischen ihre Brüste. »Er wird trotzdem böse sein, allerdings auf Euch.«

Kahlan lächelte. »Das macht mir keine Angst. Ich weiß, wie ich ihn besänftigen kann.«

Raina lächelte verschwörerisch. »Das habe ich bemerkt.« Sie warf einen Blick über die Schulter auf den zufrieden wirkenden Egan. »Tun wir unsere Pflicht und überbringen wir Lord Rahl die Nachricht der Mutter Konfessor. Wir müssen uns ein paar langsame Pferde besorgen.«

Nachdem sie gegangen waren, sah Kahlan kurz die wachsame Cara an, dann klopfte sie an die Schlafzimmertür.

»Herein«, war Nadines gedämpfte Stimme zu hören.

Cara folgte Kahlan ins Zimmer. Die Mutter Konfessor hatte nichts dagegen. Sie wußte, selbst wenn sie Cara gebeten hätte, draußen zu warten, hätte diese die Anweisung nicht befolgt. Die Mord-Sith taten stets das, was sie für erforderlich hielten, gleichgültig, was man ihnen sagte.

Nadine sortierte die Gegenstände in ihrem abgewetzten Reisebeutel. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute in den Beutel hinein, und ihr dichtes Haar hing um ihren Kopf herab, so daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte. In gewissen Abständen schob sie ihr Taschentuch unter diesen Vorhang aus Haaren.

»Alles in Ordnung mit Euch, Nadine?«

Nadine schniefte, sah aber nicht auf. »Falls Ihr es in Ordnung findet, wenn man sich zum größten Narren macht, geht es mir einfach prächtig, glaube ich.«

»Shota hat mich auch schon einmal zum Narren gehalten. Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt.«

»Natürlich.«

»Braucht Ihr etwas? Richard möchte, daß Ihr alles bekommt, was Ihr benötigt. Er ist um Euch besorgt.«

»Daß ich nicht lache. Ich soll bloß aus Euren eleganten Gemächern verschwinden und mich auf den Weg nach Hause machen.«

»Das ist nicht wahr, Nadine. Er hat mir gesagt, Ihr seid ein netter Mensch.«

Schließlich richtete sich Nadine auf und strich einen Teil ihres Haars über die Schulter nach hinten. Sie putzte sich die Nase und stopfte das Taschentuch in eine Tasche ihres blauen Kleides.

»Entschuldigt. Ihr habt mich bestimmt gehaßt. Ich hatte nicht die Absicht, hier hereinzuplatzen und Euch den Mann wegzunehmen. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich schwöre es, ich hatte keine Ahnung, sonst hätte ich das nicht getan. Ich dachte … Na ja, ich dachte, er wollte…« Das Wort ›mich‹ ging in den Tränen unter.

Während Kahlan versuchte, sich das niederschmetternde Gefühl vorzustellen, Richards Liebe zu verlieren, kam bei ihr so etwas wie Mitgefühl auf. Sie nahm Nadine tröstend in die Arme und drückte sie sanft aufs Bett. Nadine holte ihr Taschentuch wieder hervor und preßte es sich schluchzend auf die Nase.

Kahlan setzte sich neben die Frau aufs Bett. »Warum erzählt Ihr mir nicht von Euch und Richard, wenn Ihr Euch dann besser fühlt? Manchmal tut es gut, wenn einem jemand zuhört.«

»Ich komme mir so töricht vor.« Nadine ließ die Hände in den Schoß fallen und machte den Versuch, ihre Tränen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich bin selber schuld. Ich habe Richard immer gemocht. Jeder mochte Richard. Er ist zu allen freundlich. So wie heute habe ich ihn noch nie erlebt. Er hat sich wohl sehr verändert.«

»Er hat sich in mancherlei Hinsicht verändert«, stimmte Kahlan zu. »Sogar seit letzten Herbst, als ich ihm zum erstenmal begegnet bin. Er hat viel durchgemacht. Er mußte sein altes Leben aufgeben, und die Ereignisse haben ihn auf eine harte Probe gestellt. Er mußte lernen, wie man um sein Leben kämpft. Er mußte sich der Tatsache stellen, daß George Cypher nicht sein richtiger Vater ist.«

Nadine hob erstaunt den Kopf. »George war nicht sein Vater? Wer dann? Ein Mann namens Rahl?«

Kahlan nickte. »Darken Rahl. Der Führer D'Haras.«

»D'Hara. Bis zum Fall der Grenze dachte ich immer, D'Hara sei ein Ort des Bösen.«

»Das war es auch«, gab Kahlan ihr recht. »Darken Rahl war ein gewalttätiger Herrscher, der danach trachtete, mit Hilfe von Folter und Mord Land zu erobern. Er ließ Richard gefangennehmen und fast zu Tode quälen. Richards Bruder Michael hatte ihn an Darken Rahl verraten.«

»Michael? Also, das überrascht mich wirklich nicht. Richard liebte Michael. Der ist ein wichtiger Mann, aber er hat so einen häßlichen Charakterzug. Wenn er etwas will, ist ihm egal, wem er damit weh tut. Zwar hatte niemand den Mumm, es offen auszusprechen, aber ich glaube nicht, daß irgend jemand allzu unglücklich war, als er verschwand und nicht mehr wiederkam.«

»Er starb in der Schlacht gegen Darken Rahl.«

Auch über diese Neuigkeit schien Nadine nicht sonderlich betrübt. Kahlan erwähnte nicht, daß Richard Michael hatte hinrichten lassen, weil er so viele Schutzbefohlene verraten hatte und für den Tod Unzähliger verantwortlich war.

»Darken Rahl versuchte, eine Magie zu benutzen, die jeden unter seiner Herrschaft zum Sklaven gemacht hätte. Richard floh, tötete seinen richtigen Vater und rettete uns alle. Darken Rahl war ein Zauberer.«

»Ein Zauberer! Und Richard hat ihn besiegt?«

»Ja. Wir alle stehen tief in seiner Schuld, weil er uns vor dem Schicksal bewahrt hat, das sein Vater der ganzen Welt zugedacht hatte.«

»Richard ist ebenfalls ein Zauberer?«

Nadine lachte, denn sie hielt das für einen Scherz. Kahlan lächelte nicht einmal. Cara stand mit versteinerter Miene da. Nadine machte große Augen.

»Das war Euer Ernst, nicht wahr?«

»Ja. Zedd war sein Großvater. Zedd war ein Zauberer, genau wie Richards richtiger Vater. Richard wurde mit der Gabe geboren, doch weiß er nicht viel darüber, wie er von ihr Gebrauch machen kann.«

»Zedd ist ebenfalls verschwunden.«

»Anfangs begleitete er uns. Er kämpfte gemeinsam mit uns und versuchte, Richard zu helfen, vor kurzem jedoch, während einer Schlacht, ist er verschwunden. Ich fürchte, er wurde oben bei der Burg der Zauberer getötet, auf dem Berg oberhalb von Aydindril. Richard will nicht glauben, daß Zedd tot ist.« Kahlan zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er ja recht. Der alte Mann war der einfallsreichste Mensch, dem ich, abgesehen von Richard, je begegnet bin.«

Nadine wischte sich mit dem Taschentuch die Nase. »Richard und dieser verrückte alte Mann waren die allerbesten Freunde. Das meinte Richard vorhin, als er sagte, sein Großvater habe ihm alles über Kräuter beigebracht. Alle kommen zu meinem Vater, wenn sie Arzneien wollen. Mein Vater weiß so gut wie alles über Kräuter, und ich hoffe eines Tages auch nur die Hälfte seiner Kenntnisse zu besitzen. Mein Vater sagt aber immer, er wüßte gerne halb so viel wie der alte Zedd. Ich hatte keine Ahnung, daß Zedd Richards Großvater war.«

»Niemand wußte es, nicht einmal Richard selbst. Das ist eine lange Geschichte. Ich werde Euch ein paar der wichtigeren Einzelheiten erzählen.« Kahlan sah auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. »Nachdem Richard Darken Rahl Einhalt geboten hatte, wurde er von den Schwestern des Lichts in die Alte Welt verschleppt, damit sie ihn im Gebrauch der Gabe unterweisen konnten. Sie hielten ihn im Palast der Propheten gefangen, in einem Netz aus Magie, das den Lauf der Zeit verlangsamte. Über Jahrhunderte hätten sie ihn dort behalten. Wir dachten, er sei für uns verloren.

Wie sich herausstellte, war der Palast der Propheten von Schwestern der Finsternis unterwandert, deren Ziel darin bestand, den Hüter der Unterwelt zu befreien. Sie versuchten, Richard für diesen Zweck einzuspannen, er entkam ihnen jedoch und konnte ihre Pläne vereiteln. Dabei wurden die Türme der Verdammnis, die die Alte und die Neue Welt voneinander trennten, zerstört.

Jetzt wird Kaiser Jagang von der Imperialen Ordnung aus der Alten Welt nicht mehr von diesen Türmen in seiner Freiheit beschnitten und versucht, die gesamte Welt unter seine Herrschaft zu bringen. Er will Richards Tod, weil der seine Pläne vereitelt hatte. Jagang verfügt über Macht und eine gewaltige Armee. Wir wurden, ohne es zu wollen, in einen Krieg verwickelt, in dem es um unser aller Schicksal, unsere Freiheit und unsere nackte Existenz geht. In diesem Krieg ist Richard unser Anführer.

In seiner Eigenschaft als Oberster Zauberer ernannte Zedd Richard zum Sucher der Wahrheit. Dieser Titel stammt aus alter Zeit und wurde vor drei Jahrtausenden während des großen Krieges geschaffen. Es handelt sich dabei um eine feierliche Überantwortung der Rechtschaffenheit, die nur Zeiten größter Not gewährt wird. Ein Sucher ist nur seinem eigenen Gesetz verantwortlich und unterstreicht seine Autorität mit dem Schwert der Wahrheit und der in ihm enthaltenen Magie.

Gelegentlich streift uns alle das Schicksal auf eine Weise, die wir nicht immer verstehen. Aber Richard scheint es manchmal in tödlichem Griff zu haben.«

Nadine hatte die Augen aufgerissen, jetzt kniff sie sie endlich fassungslos zusammen. »Richard? Warum ausgerechnet Richard? Wieso steht er im Mittelpunkt all dieser Geschehnisse? Er ist doch bloß ein Waldführer. Er ist doch nur ein Niemand aus Kernland.«

»Daß junge Katzen im Kaminofen geboren werden, heißt nicht, daß sie dadurch zu Weckchen werden. Ganz gleich, wo sie geboren wurden, sie sind dazu bestimmt, aufzuwachsen und loszuziehen, um Ratten zu töten.

Richard ist eine ganz besondere Art Zauberer: ein Kriegszauberer. Er ist der erste Zauberer seit dreitausend Jahren, der mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde: der Additiven und der Subtraktiven. Das alles hat er sich nicht ausgesucht. Er tut es, weil wir alle auf seine Hilfe angewiesen sind, um unsere Freiheit zu retten. Es ist nicht Richards Art, tatenlos daneben zu stehen und mitanzusehen, wie anderen Menschen Leid angetan wird.«

Nadine schaute zur Seite. »Ich weiß.« Sie spielte ungeschickt mit dem Taschentuch in ihren Fingern. »Ich habe Euch vorhin ein bißchen angelogen.«

»Wann?«

Sie seufzte schwer. »Nun, als ich Euch von Tommy und Lester erzählte. Ich wollte, daß es sich so anhörte, als hätte ich ihnen die Schneidezähne ausgeschlagen. In Wahrheit war ich auf dem Weg zu Richard. Wir wollten Spazierengehen und nach ahornblättriger Schlinge suchen. Mein Vater brauchte etwas von der Innenrinde für einen Absud für ein kleines Kind mit einer Kolik, und sie war ihm ausgegangen. Richard wußte, wo etwas davon wuchs.

Wie auch immer, auf dem Weg durch den Wald zu Richards Haus stieß ich auf Tommy Lancaster und seinen Freund Lester, die gerade von der Taubenjagd kamen. Tommys Annäherungsversuche habe ich vor den Augen einiger seiner Kumpels zurückgewiesen und ihn wie einen Tölpel aussehen lassen. Ich glaube, dabei habe ich ihm sogar eine Ohrfeige verpaßt und ihn beschimpft.

Das wollte er mir heimzahlen, als er mich im Wald traf. Er bat Lester, mich festzuhalten, und er … na ja, er hatte seine Hosen schon bis zu den Knien heruntergeschoben, da tauchte Richard auf. Tommy bekam sofort weiche Knie. Richard sagte, sie sollten machen, daß sie verschwinden, und er wolle ihren Vätern alles erzählen.

Statt Vernunft anzunehmen und tatsächlich zu verschwinden, beschlossen die beiden, ein paar Vogelpfeile auf Richard abzuschießen, um ihm eins auszuwischen, damit er sich in Zukunft gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Deswegen haben Tommy und Lester keine Schneidezähne mehr. Er sagte ihnen, das sei dafür, was sie mir hatten antun wollen. Dann zerbrach er ihre wertvollen Eibenholzbogen und erklärte, das sei für das, was sie ihm hatten antun wollen. Zu Tommy sagte er, wenn er noch einmal versuchen würde, mir so etwas anzutun, würde er ihm sein Dings abschneiden, Ihr wißt schon, was ich meine.«

Kahlan lächelte. »Das klingt ganz wie der Richard, den ich kenne. Das hört sich nicht so an, als hätte er sich sehr verändert. Nur sind die Tommys und Lesters mittlerweiler größer und gemeiner.«

Nadine zuckte zaghaft mit den Achseln. »Schon möglich.« Sie sah auf, als Cara ihr die Blechtasse hinhielt, die sie aus dem Krug auf dem Waschtisch gefüllt hatte. Nadine trank einen kleinen Schluck. »Ich kann nicht glauben, daß es Menschen gibt, die Richard tatsächlich umbringen wollen.« Sie lächelte naiv. »Selbst Tommy und Lester wollten ihm nur die Zähne ausschlagen.« Sie setzte die Tasse in ihren Schoß ab. »Und daß sein eigener Vater ihn töten wollte! Ihr sagtet, Darken Rahl habe Richard foltern lassen. Warum hat er das getan?«

Kahlan sah kurz Cara an. »Das ist Vergangenheit. Ich möchte keine Erinnerungen aufwühlen.«

Nadine errötete. »Tut mir leid. Fast hätte ich vergessen, daß er … und Ihr…« Sie wischte sich mit den Fingern eine frische Träne von der Wange. »Das ist einfach nicht gerecht. Ihr« – Nadine machte eine verzweifelt wegwerfende Handbewegung – »Ihr habt einfach alles. Dieser, dieser Palast gehört Euch. Ich hätte nie geglaubt, daß es so was überhaupt gibt. Er sieht aus wie ein Traumbild aus der Welt der Seelen. Und Ihr besitzt so elegante und prächtige Kleider. In dem Kleid seht Ihr aus wie eine der Guten Seelen.«

Sie sah Kahlan in die Augen. »Außerdem seid Ihr so wunderschön. Das ist nicht gerecht. Ihr habt sogar wunderschöne grüne Augen. Meine Augen sind braun und stumpf. Bestimmt standen die Männer Euer Leben lang draußen vor dem Palast Schlange, weil sie um Eure Hand anhalten wollten. Sicher hattet Ihr mehr Verehrer, als die meisten Frauen sich zu erträumen wagen. Ihr habt alles. Ihr könntet Euch jeden Mann in den Midlands aussuchen … und dann sucht Ihr Euch einen aus meiner Heimat aus.«

»Liebe ist nicht immer gerecht, sie ist einfach da. Außerdem sind Eure Augen ebenfalls wunderschön.« Kahlan faltete die Hände und legte sie ums Knie. »Was meinte Richard, als er sagte, daß es kein ›uns‹ gebe und ausgerechnet Ihr das eigentlich wissen solltet?«

Nadine schloß die Augen und wandte sich ab. »Na ja, wahrscheinlich waren viele Mädchen in Kernland hinter Richard her, nicht bloß ich. Er war anders als die anderen. Er war etwas Besonderes. Ich weiß noch, wie er ungefähr zehn oder zwölf war und zwei Männer überredete, sich nicht zu schlagen. Er hatte schon immer eine ganz besondere Art. Er brachte die beiden Männer zum Lachen, und sie verließen den Laden meines Vaters Arm in Arm. Richard war schon immer etwas ganz Besonderes.«

»Daran erkennt man einen Zauberer«, meinte Kahlan. »Richard hatte also eine Menge Freundinnen?«

»Nein, eigentlich nicht. Er war zu jedermann freundlich, höflich und hilfsbereit, jedoch schien er sich nie in ein Mädchen zu verlieben. Das machte ihn nur noch begehrenswerter. Er hatte keine Liebste. Viele von uns Mädchen wollten diejenige sein, welche. Nachdem Tommy und Lester versucht hatten … mich … mich … , als sie etwas von mir wollten –«

»Als sie Euch vergewaltigen wollten.«

»Ja. Vermutlich war es in Wirklichkeit wohl eher das. Ich hatte nie glauben wollen, daß jemand mir so was wirklich antun könnte, einfach so – mich festhalten und Schluß. Wahrscheinlich haben sie genau das versucht: mich zu vergewaltigen.

Aber manche Leute nennen es nicht so. Manchmal, wenn ein Junge das einem Mädchen antut, dann hat er Anspruch auf sie erhoben, und die Eltern behaupten, es sei dazu gekommen, weil das Mädchen ihn dazu ermuntert habe. Dann zwingen sie das Mädchen und den Jungen zu heiraten, bevor sie erkennbar schwanger wird. Ich kenne Mädchen, die das tun mußten.

Für viele junge Menschen, vor allem solche auf dem Land, wird bereits vorab entschieden, wen sie zu heiraten haben. Manchmal gefällt einem Jungen das Mädchen aber nicht, das er heiraten soll, also erhebt er Anspruch auf die, die er will, so wie Tommy das bei mir versucht hat. Dann hofft er darauf, daß sie schwanger wird und ihn heiraten muß oder aber sie von ihren Eltern gezwungen wird, zu heiraten, weil sie verdorben wurde. Tommy hätte die dürre Rita Wellington heiraten sollen, dabei konnte er sie nicht ausstehen. Manchmal ermutigt das Mädchen einen Jungen wirklich dazu, weil ihr der Junge nicht gefällt, den die Eltern für sie ausgesucht haben. Meist jedoch tun die jungen Leute, was man von ihnen verlangt.

Meine Eltern haben nie für mich entschieden, manche Eltern sind eben so. Sie sagen, das führt ebenso oft ins Unglück wie ins Glück. Ihrer Meinung nach müsse ich selber wissen, was ich will. Viele der Mädchen, für die nicht entschieden wurde, wollten Richard. Einige, wie auch ich, warteten lange über den Zeitpunkt hinaus, wo sie schon heiraten und zwei- oder dreimal hätten Mütter werden sollen.

Nachdem Richard Tommy in die Schranken gewiesen hatte, behielt er mich immer irgendwie im Auge. Ich fing an zu glauben, es sei mehr, als daß er nur auf mich aufpaßte – endlich. Ich bildete mir schon ein, daß er wirklich mit mir Zusammensein wolle. Es war, als sähe er mich wirklich als Frau und nicht als irgendein kleines Kind, auf das er aufpassen muß.

Letztes Jahr beim Mittsommernachtsfest war ich mir dann sicher. Er tanzte häufiger mit mir als mit jedem der anderen Mädchen. Alle wurden grün vor Neid. Vor allem, wenn er mich fest an sich drückte. Da, in diesem Augenblick, beschloß ich dann, daß er der Richtige sei. Er und kein anderer.

Ich nahm an, nach dem Fest würden sich die Dinge verändern und er würde mir sagen, daß ich ihm mehr bedeutete als früher. Ich dachte, er würde sich endlich einen Ruck geben und mir ernsthaft den Hof machen. Das tat er nicht.«

Nadine hielt die Tasse Wasser mit einer Hand zwischen den Knien und zerknüllte das Taschentuch zwischen den Fingern ihrer anderen Hand. »Es gab andere Jungs, die mir den Hof machten, und ich wollte meine Zukunft nicht wegwerfen, und für den Fall, daß Richard niemals zur Besinnung käme, setzte ich mir in den Kopf, ihm einen Schubs zu geben.«

»Einen Schubs?«

Nadine nickte. »Außer einigen der anderen Jungs war auch Richards Bruder Michael immer schon hinter mir her. Wahrscheinlich nur deshalb, weil er eifersüchtig auf Richard war. Zu der Zeit hatte ich gar nicht so viel dagegen, daß Michael mir den Hof machte. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber er war bereits im Begriff, etwas zu werden. Ich glaubte, Richard würde nie etwas anderes sein als ein Waldführer. Nicht, daß das schlecht ist. Ich bin auch niemand Besonderes. Richard liebte die Wälder.«

Kahlan mußte lächeln. »Er liebt sie noch immer. Wenn er könnte, würde er bestimmt am liebsten wieder ein einfacher Waldführer sein. Doch die Zeiten sind vorbei. Und was geschah dann?«

»Na ja, ich rechnete mir aus, wenn ich in Richard ein wenig die Eifersucht anstachelte, vielleicht würde er dann seine Unentschlossenheit ablegen und sich einen Schritt auf mich zubewegen. Manchmal brauchen Männer einen Schubs, sagt meine Mutter immer. Also habe ich ihm einen ordentlichen Schubs versetzt.«

Nadine räusperte sich. »Ich ließ mich dabei erwischen, wie ich Michael küßte, und sorgte dafür, daß er mitbekam, wieviel Spaß mir das bereitete.«

Kahlan atmete tief durch und runzelte die Stirn. Nadine war vielleicht mit Richard aufgewachsen, aber sie kannte ihn überhaupt nicht.

»Er wurde nicht mal wütend auf mich, geschweige denn eifersüchtig oder sonst was«, meinte Nadine. »Er war weiterhin freundlich zu mir, er paßte weiterhin auf mich auf, aber nach dieser Geschichte kam er nie mehr zu Besuch und fragte mich auch nie wieder, ob ich mit ihm spazierengehe. Als ich mit ihm darüber sprechen wollte, war er einfach nicht interessiert.«

Nadine starrte ins Leere. »Er hatte denselben Blick in den Augen wie heute. Diesen Blick, der bedeutet, daß es ihn einfach nicht kümmert. Ich wußte nie, was dieser Blick bedeutete, bis ich ihn heute wiedersah. Ich glaube, er hat sich wirklich etwas aus mir gemacht und erwartet, daß ich ihm meine Sympathie zeige, indem ich mich ihm gegenüber loyal verhalte. Ich dagegen habe ihn verraten.«

Nadine tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und seufzte tief. »Shota erzählte mir, daß Richard mich heiraten werde, und ich war so glücklich. Ich wollte es einfach nicht glauben, als er sagte, das sei gar nicht wahr. Ich wollte diesem Blick in seinen Augen nicht glauben, also versuchte ich mir vorzumachen, er hätte nichts zu bedeuten. Aber das stimmt nicht.«

»Es tut mir leid, Nadine«, sagte Kahlan leise.

Nadine stand auf und stellte die Tasse auf einen kleinen Tisch. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Verzeiht, daß ich hier einfach so hereingeplatzt bin. Er liebt Euch, nicht mich. Mich hat er nie geliebt. Ich freue mich für Euch, Mutter Konfessor. Ihr habt einen guten Mann, der auf Euch aufpassen und Euch beschützen und immer freundlich zu Euch sein wird. Das weiß ich.«

Kahlan erhob sich, ergriff Nadines Hand und drückte sie zum Trost. »Kahlan. Ich heiße Kahlan.«

»Kahlan.« Nadine konnte ihr noch immer nicht in die Augen sehen. »Küßt er gut? Das habe ich mich stets gefragt, wenn ich des Nachts wach lag.«

»Wenn man jemanden von ganzem Herzen liebt, sind seine Küsse immer gut.«

»Wahrscheinlich. Mich hat nie jemand liebevoll geküßt. Jedenfalls nicht so, wie ich es mir erträumte.« Sie strich ihr Kleid glatt und bemühte sich, die Fassung wiederzufinden. »Das habe ich angezogen, weil Blau Richards Lieblingsfarbe ist. Ihr müßtet das eigentlich wissen – Blau ist seine Lieblingskleiderfarbe.«

»Ich weiß«, erwiderte Kahlan leise.

Nadine zog ihren Beutel näher heran. »Ich weiß gar nicht, was ich mir einbilde. Ich rede stundenlang über Dinge, die längst der Vergangenheit angehören.«

Nadine kramte in ihrem Beutel und holte ein kleines Stück Schafshorn mit einem Korken im viereckig geschnitzten Ende hervor. Sie zog den Korken heraus, tauchte einen Finger hinein und hielt ihn Cara hin.

Cara wich zurück. »Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?«

»Das ist eine Salbe aus Aumwurz, die das Brennen lindern soll, sowie Beinwell und Schafgarbe, damit die Blutung gestillt wird und die Wunde glatt verheilen kann. Die Platzwunde auf Eurer Wange blutet noch immer. Wenn das nicht reicht, dann habe ich noch etwas Fingerhut. Nicht nur die Bestandteile, sondern auch ihre Zusammensetzung, meint mein Vater, sind das Geheimnis der Wirkung einer Medizin.«

»Ich brauche das nicht«, sagte Cara.

»Ihr seid sehr hübsch. Ihr wollt doch keine Narbe zurückbehalten, oder?«

»Ich habe viele Narben. Man kann sie nur nicht sehen.«

»Wo sind sie?«

Caras Miene verfinsterte sich, aber Nadine ließ nicht locker.

»Also schön«, meinte Cara schließlich. »Setzt Eure Kräuter ein, wenn ich Euch dadurch loswerde. Aber ich werde mich nicht ausziehen, damit Ihr meine Wunden anschauen könnt.«

Nadine lächelte beteuernd, dann tupfte sie die bräunliche Paste auf Caras Wange. »Das zieht den Schmerz aus der Wunde. Es wird knapp eine Minute brennen, dann läßt es nach.«

Cara zuckte mit keiner Wimper. Das überraschte Nadine offenbar, denn sie zögerte kurz und sah ihr in die Augen, bevor sie fortfuhr. Als sie fertig war, verstopfte Nadine das Horn wieder mit dem Korken und legte es zurück in ihren Beutel.

Sie sah sich um. »Ich habe noch nie ein so wunderschönes Zimmer gesehen. Danke, daß ich es benutzen durfte.«

»Keine Ursache. Braucht Ihr etwas? Proviant … irgend etwas anderes?«

Nadine schüttelte den Kopf, putzte sich ein letztes Mal die Nase und stopfte ihr Taschentuch zurück in den Beutel. Dann fiel ihr die Tasse ein. Sie stürzte den Rest Wasser hinunter und steckte auch sie in ihren Beutel.

»Die Reise ist ziemlich lang, ich habe jedoch noch etwas Silber übrig. Ich komme schon zurecht.«

Sie legte ihre Hand auf die Tasche und starrte auf ihre zitternden Finger. »Ich hätte nie gedacht, daß meine Reise auf diese Weise enden würde. Ich habe mich zum Gespött Kernlands gemacht, so wie ich Richard nachgelaufen bin.« Sie schluckte. »Was wird nur mein Vater sagen?«

»Hat Shota ihm auch erzählt, Ihr würdet Richard heiraten?«

»Nein, da hatte ich Shota noch nicht getroffen.«

»Was meint Ihr damit? Ich dachte, sie sei es gewesen, die Euch gesagt hat, Ihr sollt hierherkommen, um Richard zu heiraten.«

»Na ja« – Nadine lächelte verlegen – »ganz so war es nicht.«

»Verstehe.« Kahlan faltete die Hände. »Und wie war es dann?«

»Es klingt bestimmt albern – so als sei ich ein mondsüchtiges Mädchen von zwölf Jahren.«

»Erzählt es mir einfach, Nadine.«

Nadine dachte einen Augenblick lang nach, schließlich seufzte sie. »Wahrscheinlich spielt es keine Rolle. Ich bekam diese … also ich weiß gar nicht, wie ich sie nennen soll. Ich sah Richard, oder besser, ich dachte, ich sähe Richard. Ich sah ihn aus den Augenwinkeln, drehte mich um, aber er war nicht da. So wie eines Tages, als ich im Wald unterwegs war und nach neuen Trieben suchte und ihn neben einem Baum stehen sah. Ich blieb also stehen, aber er war verschwunden.

Ich war jedesmal ganz sicher, daß er mich brauchte. Ich wußte nicht woher, trotzdem wußte ich es. Bestimmt steckte er in Schwierigkeiten. Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel.

Ich erklärte meinen Eltern, daß Richard mich brauche und ich losziehen und ihm helfen müsse.«

»Und sie glaubten Euch. Sie glaubten an Eure Visionen? Sie haben Euch einfach aufbrechen lassen?«

»Na ja, ich habe es ihnen nie genau erklärt. Ich erzählte ihnen nur, Richard hätte eine Nachricht geschickt und brauche meine Hilfe und ich würde zu ihm gehen. Vermutlich habe ich, na ja, damit bei ihnen den Eindruck erweckt, ich wüßte, wohin ich ging.«

Allmählich dämmerte es Kahlan: Nadine schien niemandem je etwas ausführlich zu erklären. »Und dann erschien Shota?«

»Nein. Dann brach ich auf. Ich wußte, Richard brauchte mich, also machte ich mich auf den Weg.«

»Alleine? Ihr wolltet einfach losmarschieren und die gesamten Midlands nach ihm absuchen?«

Nadine zuckte verlegen die Achseln. »Auf die Idee, mich zu fragen, wie ich ihn finden wollte, bin ich gar nicht gekommen. Ich wußte, daß er mich brauchte, und ich hatte das Gefühl, es sei wichtig, daher zog ich los, um zu ihm zu gehen.« Sie lächelte, als wollte sie Kahlan beruhigen. »Ich ging geradewegs zu ihm – schnurgerade wie ein Pfeil. Es funktionierte alles wunderbar.« Ihre Wangen röteten sich. »Wenn man davon absieht, daß er mich nicht will, meine ich.«

»Nadine, hattet Ihr irgendwelche … seltsamen Träume? Damals oder jetzt?«

Nadine strich eine dicke Haarsträhne nach hinten. »Seltsame Träume? Nein, seltsame Träume nicht. Jedenfalls nicht seltsamer als andere Träume auch. Eben ganz normale Träume.«

»Was für ›normale Träume‹ habt Ihr?«

»Na ja, wenn man zum Beispiel träumt, man sei wieder klein und habe sich im Wald verlaufen und keiner der Wege führt dahin, wohin er sollte. Oder wenn man träumt, daß man die richtigen Zutaten für einen Kuchen nicht finden kann, also geht man in eine Höhle und borgt sie sich von einem Bär, der sprechen kann. Solche Sachen. Träume eben. Träume, in denen man fliegen oder unter Wasser atmen kann. Verrücktes Zeug. Aber eben nur Träume. Wie ich sie immer schon hatte. Nichts anderes.«

»Haben sie sich in der letzten Zeit verändert?«

»Nein. Wenn ich mich überhaupt an sie erinnere, dann sind es die gleichen.«

»Verstehe. Das klingt wirklich alles ziemlich normal.«

Nadine zog einen Umhang aus ihrem Beutel. »Ich denke, ich sollte jetzt besser aufbrechen. Mit etwas Glück bin ich zum Frühlingsfest wieder zu Hause.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Ihr könnt von Glück reden, wenn Ihr es bis zum Mittsommernachtsfest schafft.«

Nadine lachte. »Das glaube ich kaum. Der Rückweg kann nicht länger dauern als der Weg hierher. Etwa knapp zwei Wochen. Ich brach auf, kurz nachdem der Mond im zweiten Viertel stand, und er ist noch immer nicht voll.«

Die Mutter Konfessor starrte sie verwirrt an. »Zwei Wochen.« Nadine hätte Monate brauchen müssen, um den weiten Weg von Westland hierher zureisen, insbesondere, da er über das Rang'Shada-Gebirge führte. »Euer Pferd muß Flügel gehabt haben.«

Nadine lachte amüsiert, dann erstarb ihr Lachen, und ihre glatte Stirn kräuselte sich. »Komisch, daß Ihr es erwähnt. Ich habe gar kein Pferd. Ich bin zu Fuß gegangen.«

»Zu Fuß«, wiederholte Kahlan fassungslos.

»Ja. Aber seit meinem Aufbruch hatte ich Träume, auf einem Pferd mit Flügeln zu fliegen.«

Angesichts der immer wieder neuen Einzelheiten von Nadines Geschichte hatte Kahlan Mühe, nicht den Faden zu verlieren. Sie überlegte, welche Fragen Richard stellen würde. Als Richard ihr all das vor Augen gehalten hatte, was sie Marlin hätte fragen müssen, ihr aber nicht eingefallen war, hatte sie sich äußerst dumm gefühlt. Zwar hatte er dem Ganzen die Schärfe genommen und ihr erklärt, sie habe das Richtige getan, trotzdem berührte sie es nach wie vor peinlich, daß sie aus Marlin, als sie die Gelegenheit dazu hatte, so gut wie nichts von Bedeutung herausbekommen hatte.

Genaugenommen mußte ein Konfessor nicht viel über Verhöre wissen. Sobald er jemanden mit seiner Kraft berührt hatte, forderte er den Verbrecher auf, zu gestehen, ob er die ihm zur Last gelegten Untaten wirklich begangen hatte, und, falls die Antwort ja lautete – was bis auf ein paar seltene Ausnahmen der Fall war –, anschließend die Einzelheiten zu berichten.

Das war keine Kunst, und dergleichen war auch nicht nötig. Es war eine unfehlbare Methode, wenn man verhindern wollte, daß politisch Andersdenkenden zu Unrecht Verbrechen angelastet oder sie solcher Verbrechen für schuldig befunden wurden, die sie nicht begangen hatten, nur damit jemand sich ihrer durch eine bequeme Hinrichtung entledigen konnte.

Kahlan war entschlossen, bei Nadines Verhör geschickter vorzugehen. »Wann hat Shota Euch aufgesucht? Das habt Ihr mir noch immer nicht verraten.«

»Oh. Na ja, genaugenommen kam sie gar nicht zu mir. Ich traf sie zufällig oben in den Bergen. Sie hatte einen wundervollen Palast, ich hatte jedoch keine Gelegenheit, ihn mir von innen anzusehen. Ich habe mich nicht lange bei ihr aufgehalten. Schließlich wollte ich zu Richard.«

»Und was hat Shota zu Euch gesagt? Wie lauteten ihre Worte? Ihre exakten Worte?«

»Mal sehen…« Nadine legte den Finger an den Mund und versuchte, sich zu erinnern. »Sie begrüßte mich. Sie bot mir Tee an – sie sagte, man habe mich erwartet – und ließ mich neben ihr Platz nehmen. Ständig zwang sie Samuel, meinen Beutel in Ruhe zu lassen, denn er wollte ihn fortschleppen, und sie sagte, ich brauchte keine Angst vor ihm haben. Sie fragte, wohin ich reise, und ich erzählte ihr, ich sei unterwegs zu meinem Richard – der mich brauche. Dann erzählte sie mir Geschichten über Richard, Geschichten aus seiner Vergangenheit, die ich besser wissen sollte. Ich war überrascht, wie gut sie ihn kannte.

Und dann erzählte sie mir Dinge über mich, die sie unmöglich hatte wissen können. Zum Beispiel meine Sehnsüchte und Pläne – daß ich Heilerin werden und meine Kräuter benutzen wollte, und dergleichen mehr. Da wurde mir klar, sie war eine Mystikerin. An ihre genauen Worte in diesem Teil der Unterhaltung kann ich mich nicht erinnern.

Sie behauptete, daß Richard mich tatsächlich brauche. Sie sagte, wir würden heiraten. Angeblich hatte ihr das der Himmel berichtet.« Nadine wich Kahlans Blick aus. »Ich war so glücklich. Ich glaube, so glücklich war ich noch nie.«

»Der Himmel? Und weiter?«

»Dann sagte sie, sie wolle mich auf meinem Weg zu Richard nicht länger aufhalten. Der Wind mache Jagd auf ihn – was immer das bedeutet –, und ich hätte recht damit, daß er mich brauche. Daher solle ich mich beeilen und sofort aufbrechen. Dann wünschte sie mir alles Gute.«

»Das ist alles? Sie muß doch noch etwas gesagt haben?«

»Nein, das ist alles.« Nadine knöpfte ihren Beutel zu. »Na ja, sie hat noch einen Segen für Richard gesprochen, glaube ich.«

»Was heißt das? Was hat sie gesagt? Ihre genauen Worte

»Na ja, als sie sich umdrehte, um wieder in den Palast zu gehen, stand ich auf, weil ich aufbrechen wollte, und hörte sie leise, fast wie im Traum, sagen: ›Mögen die Seelen ihm gnädig sein.‹«

Kahlan spürte, wie sie unter den weißen Seidenärmeln auf den Armen eine Gänsehaut bekam. Sie dachte erst wieder daran, Luft zu holen, als ihre Lungen vor Luftmangel zu brennen anfingen.

Nadine hob ihren Beutel auf. »So, ich habe Euch genug Kummer bereitet. Ich mache mich jetzt besser auf den Heimweg.«

Kahlan breitete die Hände aus. »Hört zu, Nadine, warum bleibt Ihr nicht noch eine Weile hier?«

Die junge Frau blieb stehen und zog ein verblüfftes Gesicht. »Warum?«

Verzweifelt suchte Kahlan nach einem Grund. »Nun, ich würde gerne Geschichten über Richards Kindheit hören. Ihr könntet mir all seine Streiche erzählen.« Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. »Das würde mir wirklich gefallen.«

Nadine schüttelte den Kopf. »Richard wird nicht wollen, daß ich hierbleibe. Er wird wütend sein, wenn ich bei seiner Rückkehr noch immer hier bin. Ihr habt den Blick in seinen Augen nicht gesehen.«

»Nadine, Richard wird Euch nicht einfach rauswerfen, ohne Euch Gelegenheit zu geben, Euch vor dem Heimweg noch ein paar Tage auszuruhen. Das ist nicht Richards Art. Er sagte: ›Was immer sie braucht.‹ Ich glaube, ein paar Tage Ruhe könntet Ihr sehr wohl gebrauchen.«

Nadine schüttelte erneut den Kopf. »Nein. Ihr wart bereits freundlicher zu mir, als ich mir erhoffen durfte. Ihr und Richard gehört zusammen. Ihr braucht mich hier nicht. Trotzdem danke für das Angebot. Ich kann kaum glauben, wie freundlich Ihr seid – es ist nicht verwunderlich, daß Richard Euch liebt. Andere Frauen an Eurer Stelle hätten mich kahl scheren und hinten auf einem Mistkarren aus der Stadt schaffen lassen.«

»Nadine, ich möchte wirklich, daß Ihr bleibt.« Kahlan feuchtete sich die Lippen an. »Bitte«, hörte sie sich hinzufügen.

»Das könnte zu Verstimmungen zwischen Euch und Richard führen. Ich möchte nicht der Grund dafür sein. Das ist nicht meine Art.«

»Wenn dem so wäre, hätte ich Euch nicht gefragt. Bleibt. Wenigstens noch ein paar Tage. Einverstanden? Ihr könntet in diesem Zimmer wohnen, das Euch so gefällt. Ich … möchte wirklich, daß Ihr bleibt.«

Nadine musterte Kahlans Augen eine ganze Weile. »Wollt Ihr tatsächlich, daß ich bleibe?«

»Ja.« Kahlan spürte, wie ihre Fingernägel sich in ihre Handflächen gruben. »Ja.«

»Also, um die Wahrheit zu gestehen, ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen und meinen Eltern meine Torheit zu gestehen. Also gut, abgemacht, wenn Ihr wollt, dann bleibe ich noch eine Weile. Danke.«

Kahlan hatte zwar wichtige Gründe, Nadine zum Bleiben aufzufordern, dennoch konnte sie nicht anders – sie fühlte sich wie eine Motte, die soeben im Begriff stand, in eine offene Flamme hineinzufliegen.

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