Kahlan blinzelte die großen, nassen Schneeflocken von ihren Lidern, zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer und dachte über ihre Dummheit nach, daß sie nicht daran gedacht hatte, statt ihres weißen Konfessorenkleides etwas Praktischeres anzuziehen. Sie stellte sich in den Steigbügeln auf, griff zwischen ihren Beinen hindurch und zog das Hinterteil ihres Kleides nach vorn, um die Beine gegen die Kälte des Sattels zu schützen. Zum Glück reichten ihre Stiefel hoch genug, so daß ihre Schenkel nicht dem Wind ausgesetzt waren, nachdem sie das Kleid hochgerafft hatte. Wenigstens saß sie wieder auf Nick, dem großen Schlachtroß, das ihr die galeanischen Soldaten geschenkt hatten. Nick war ein alter Freund.
Cara und Berdine schien ebenso unbehaglich zumute zu sein wie ihr, aber das lag sicher nur daran, daß sie Angst hatten, einen Ort der Magie zu betreten. Einmal waren sie bereits in der Burg der Zauberer gewesen. Sie wollten nicht gern wieder dorthin. Unten bei den Stallungen hatten sie versucht, es Kahlan auszureden. Die hatte sie jedoch nur an die Seuche erinnert.
Nicks Ohren zuckten bereits, bevor die dunklen Schatten der Soldaten aus dem Schneegestöber auftauchten und sie nach der Losung fragten. Kahlan wußte, daß sie die steinerne Brücke erreicht hatten. Die Wachen waren auf der stadtzugewandten Seite postiert.
Die Männer schoben ihre Schwerter in die Scheide zurück, als Cara sie anknurrte, froh darüber, jemanden zu haben, an dem sie ihre schlechte Laune auslassen konnte.
»Eine grauenhafte Nacht für einen Ausritt, Mutter Konfessor«, sagte einer der Soldaten, glücklich darüber, daß er das Wort an jemand anderes als die Mord-Sith richten konnte.
»Eine grauenhafte Nacht, um hier draußen Wache zu schieben«, gab sie zurück.
Der Mann blickte über die Schulter nach hinten. »Jede Nacht, in der man hier oben bei der Burg Wache schieben muß, ist grauenhaft.«
Kahlan lächelte. »Die Burg wirkt finster, Soldat, aber sie ist nicht so schlimm, wie sie aussieht.«
»Wenn Ihr es sagt, Mutter Konfessor. Ich für meinen Teil könnte ebensogut vor der Unterwelt Wache schieben.«
»Es hat doch niemand versucht, in die Burg zu gelangen, oder?«
»Wenn, dann hättet Ihr entweder davon gehört oder unsere Leichen hier gefunden, Mutter Konfessor.«
Kahlan drängte ihren großen Hengst weiter. Nick schnaubte und setzte sich auf dem glatten Schnee rutschend wieder in Bewegung. Sie vertraute ihm unter diesen Bedingungen und überließ ihm die Führung. Cara und Berdine folgten ihr, ruhig im Sattel hin- und herschwankend. Unten bei den Stallungen hatte Cara das Pferd an der Kandare gepackt, dem Tier ins Auge gesehen und ihm befohlen, ihr keine Schwierigkeiten zu bereiten. Kahlan hatte das eigenartige Gefühl, daß der Braune die Warnung verstanden hatte.
Kahlan konnte die steinernen Mauern zu beiden Seiten der Brücke gerade eben erkennen. Nur gut, daß die Pferde den Abgrund dahinter nicht sehen konnten. Daß Nick nicht scheuen würde, wußte sie, aber bei den anderen beiden war sie nicht sicher. Die jähen Felswände des gähnenden Abgrunds fielen Tausende von Fuß ab. Wenn man keine Flügel hatte, gab es nur diesen einen Weg in die Burg der Zauberer.
Im vom Schnee reflektierten Dämmerlicht verschmolz die riesige Burg mitsamt ihren hochaufragenden Mauern aus dunklem Stein, ihren Brustwehren, Bollwerken, Türmen, Wehrgängen und Brücken mit der tintenschwarzen Dunkelheit des Berges, in den man sie hineingebaut hatte. Für jenen, der keine Magie besaß oder mit Magie nicht umzugehen wußte, bot die Burg einen düsteren Anblick unverkennbarer Bedrohlichkeit.
Kahlan war in Aydindril aufgewachsen und unzählige Male oben in der Burg gewesen, meist allein. Selbst als Kind hatte man ihr wie auch den anderen Konfessoren erlaubt, die Burg zu betreten. Als sie noch klein war, hatten die Zauberer mit ihr herumgealbert, in den Gängen Fangen gespielt und gelacht. Die Burg war für sie ein zweites Zuhause: bequem und sicher, einladend und beschützend.
Aber ihr war klar, daß in der Burg Gefahren lauerten, wie in jedem anderen Zuhause auch. Ein Zuhause konnte ein sicherer, einladender Ort sein, solange man nicht so unklug war, in die Feuerstelle zu laufen. Auch in der Burg gab es Orte, die man besser mied.
Erst als sie älter war, betrat sie die Burg nicht mehr allein. Ab einem bestimmten Alter wurde es für einen Konfessor gefährlich, überhaupt irgendwo allein hinzugehen. Hatte ein Konfessor erst die ersten Geständnisse entgegengenommen, war er ohne den Schutz seines Zauberers nirgendwo mehr sicher.
Ab einem bestimmten Alter machte sich ein Konfessor Feinde. Familienangehörige von Verurteilten glaubten selten, einer ihrer Lieben könne ein schlimmes Verbrechen begangen haben, oder aber sie gaben dem Konfessor die Schuld am Todesurteil des Betreffenden, obwohl ein Konfessor lediglich dessen Rechtmäßigkeit bestätigte.
Ständig kam es zu Mordversuchen an Konfessoren. Nie fehlte es an Leuten, angefangen bei einfachen Bürgern bis hin zu Königen, die einem Konfessor nach dem Leben trachteten.
»Wie werden wir ohne Lord Rahl durch die Schilde gelangen?« fragte Berdine. »Damals hat uns seine Magie ermöglicht, sie zu durchschreiten. Diesmal werden wir sie nicht passieren können.«
Kahlan lächelte den beiden Mord-Sith beruhigend zu. »Richard hat nicht gewußt, wohin er ging. Er ist einfach durch die Burg geirrt und hat instinktiv den richtigen Weg gefunden. Ich kenne die Wege, die keine Magie erfordern. Vielleicht gibt es dort ein paar schwache Schilde, aber die kann ich passieren. Und wenn ich sie passieren kann, dann kriege ich Euch ebenfalls hindurch, indem ich Euch bei der Hand nehme, genau wie Richard Euch durch die kräftigeren Schilde hindurchgebracht hat.«
Cara murrte übelgelaunt. Sie hatte gehofft, die Schilde würden sie aufhalten.
»Ich war schon so oft in der Burg, Cara. Es ist hier völlig sicher. Wir werden ausschließlich die Bibliotheken betreten. So wie Ihr meine Beschützer draußen in der Welt seid, so werde ich in der Burg der Eure sein. Wir sind Schwestern des Strafers. Ich werde nicht zulassen, daß Ihr mit gefährlicher Magie in Berührung geratet. Vertraut Ihr mir?«
»Nun … vermutlich seid Ihr wirklich eine Schwester des Strafers.«
Sie kamen unter dem riesigen Fallgatter hindurch und traten in das Burggelände ein. Innerhalb der massiven Mauern schmolz der Schnee, sobald er den Boden berührte. Kahlan schlug ihre Kapuze zurück. Hier herrschte eine angenehme Wärme.
Sie schüttelte den Schnee von ihrem Umhang, atmete die frühlingsfrische Luft tief ein und füllte ihre Lungen mit dem vertrauten, besänftigend wirkenden Aroma. Nick wieherte freudig.
Kahlan führte die beiden Mord-Sith über die Kiesel- und Schotterfläche bis zum überwölbten Durchlaß in der Mauer, der einen Teil der Burg untertunnelte. Während sie durch den langen Durchgang ritten, tauchten die Lampen, die an Caras und Berdines Sattel hingen, das Mauergewölbe ringsum in ein gelblichrotes Licht.
»Warum reiten wir hier durch?« fragte Cara. »Lord Rahl hat uns durch das große Tor dort hinten geführt.«
»Ich weiß. Deshalb fürchtet Ihr Euch auch vor der Burg. Das war ein sehr gefährlicher Weg. Ich führe uns auf dem Weg hinein, den ich sonst immer benutzt habe. Er ist viel besser. Ihr werdet sehen.
Hier sind früher die Bewohner der Burg hineingegangen. Besucher nahmen wieder einen anderen Eingang, wo sie von einem Posten empfangen wurden, der sich um sie kümmerte.«
Hinter dem Tunnel musterten alle drei Pferde die mit üppigem Gras bestandene, weite Koppel. Die Schotterstraße führte an der Mauer entlang, in der sich der Haupteingang zur Burg befand. Auf der anderen Seite umschloß ein Zaun die Koppel. Links begrenzte die Burgmauer einen Teil der Koppel. Hinten gab es Stallungen.
Kahlan stieg ab und öffnete das Gatter. Nachdem sie Sattel und Zaumzeug abgenommen hatte, ließen sie alle drei ihren Pferden auf der Koppel freien Auslauf, wo sie grasen und in der milden Luft herumtollen konnten, wenn ihnen danach war.
Ein Dutzend breiter Granitstufen, über Jahrtausende hinweg ausgetreten, führte zu einem nach hinten versetzten Eingang, einer schlichten, aber schweren Doppeltür, durch die man in die Burg selbst gelangte. Cara und Berdine folgten mit den Laternen. Der Vorraum sog das Licht in seiner ungeheuren Weite auf, so daß die Säulen und Bögen im Schein der schwachen Flammen nur ansatzweise zu erkennen waren.
»Was ist das?« fragte Berdine in leisem Flüsterton. »Hört sich an wie rauschendes Wasser.«
»Hier gibt es … doch keine Ratten, oder?«
»Genaugenommen ist es ein Brunnen«, erklärte Kahlan, deren Stimme in der Ferne widerhallte. »Und Ratten gibt es in der Burg tatsächlich, Cara. Aber nicht dort, wo ich Euch hinbringe. Versprochen. Hier, gebt mir Eure Laterne. Ich will Euch das Gerüst dieses bedrohlichen Verlieses zeigen.«
Kahlan nahm die Laterne und ging gemächlich zu einer der Lampen an der rechten Wand hinüber. Sie hätte ohne Licht dorthin gehen können, so oft war sie schon hiergewesen, aber sie brauchte die Flamme der Laterne. Sie fand die Hauptlampe, kippte den Zylinder nach hinten und zündete sie mit der Flamme aus Caras Laterne an.
Die Hauptlampe fing Feuer. Mit einer Folge von dumpfen, gedämpften Explosionen leuchteten die übrigen Lampen im Raum auf – Hunderte von ihnen – jeweils zwei gleichzeitig, paarweise, eine auf jeder Seite. Jeder der gedämpften Explosionen folgte fast augenblicklich die nächste, als die Lampen des riesigen Raumes nacheinander von der Hauptlampe entzündet wurden. Rasch wurde es im Raum heller, der Effekt glich dem Hochdrehen des Dochtes einer Lampe.
In Sekundenschnelle war der Vorraum fast taghell, getaucht in den sanften gelblich-orangefarbenen Schein aller Flammen. Der Anblick versetzte Cara und Berdine in fassungsloses Staunen.
Das verglaste Dach, einhundert Fuß weiter oben, war dunkel, tagsüber jedoch durchflutete es den Raum mit Wärme und Licht. Nachts, wenn der Himmel klar war, konnte man die Lampen herunterdrehen und den Sternenhimmel beobachten oder den Raum vom Mondlicht bescheinen lassen.
In der Mitte des gefliesten Raumes stand ein kleeblattförmiger Brunnen. Über der mittleren Schale schoß das Wasser fünfzehn Fuß weit in die Höhe, um dann über eine Stufe nach der anderen in breitere, mit einem welligen Kamm verzierte Schalen hinabzustürzen und schließlich aus in gleichmäßigen Abständen angeordneten Öffnungen im Boden in perfekt aufeinander abgestimmten Bögen in das untere Becken zu fließen. Eine Ummauerung aus scheckig weißem Marmor war so breit, daß sie als Bank dienen mochte.
Berdine stieg eine der fünf Stufen hinunter, die um den ganzen Raum herumliefen. »Er ist wunderschön«, flüsterte sie staunend.
Cara betrachtete die roten Marmorsäulen, die die Bögen unter der Empore rings um den gesamten ovalen Raum stützten. Sie lächelte fröhlich.
»Das ist ein ganz anderer Ort als der, an den uns Lord Rahl geschleppt hat«, sagte Cara stirnrunzelnd. »Die Lampen. Das war Magie. Hier gibt es Magie. Ihr habt gesagt, Ihr würdet uns von Magie fernhalten.«
»Ich sagte, ich würde Euch von gefährlicher Magie fernhalten. Die Lampen sind auch eine Art Schild, nur umgekehrt. Statt die Menschen fernzuhalten, heißen sie sie willkommen und helfen ihnen einzutreten. Sie sind ein Willkommensschild. Es handelt sich um eine freundliche Form der Magie, Cara.«
»Freundlich. Na klar.«
»Kommt, wir sind nicht zum Vergnügen hier. Wir haben eine Aufgabe zu erledigen.«
Kahlan führte sie durch die eleganten, warmen Korridore in die Bibliotheken, und zwar nicht auf dem furchteinflößenden Weg, den sie mit Richard gegangen waren. Sie stießen nur auf drei Schilde. Kahlans Magie erlaubte ihr, sie zu passieren, und indem sie Caras und Berdines Hand ergriff, war es möglich, auch sie hindurchzubringen, wenn sich die beiden auch über ein unangenehmes Kribbeln beklagten.
Diese Schilde schützten keine gefährlichen Bereiche und waren daher schwächer als andere in der Burg. Es gab Schilde, die Kahlan nicht passieren konnte, zum Beispiel jene, durch die Richard sie auf dem Weg hinunter zur Sliph geführt hatte. Kahlan war allerdings überzeugt, daß es auch andere Wege nach unten geben müsse. Richard hatte Schilde passiert, die ihres Wissens nach noch kein Zauberer passiert hatte.
Sie kamen an eine Kreuzung, wo ein Gang aus hellrosa Stein nach beiden Richtungen abzweigte. An bestimmten Stellen weitete sich der Gang zu großzügigen Räumen, wo gepolsterte Bänke standen, auf denen man sich unterhalten oder lesen konnte. In jedem dieser großen Vorzimmer gab es eine Doppeltür, hinter der sich eine Bibliothek verbarg.
»Hier war ich schon einmal«, äußerte sich Berdine. »Ich erinnere mich genau.«
»Ja, Richard hat Euch hergebracht, allerdings auf einem anderen Weg.«
Kahlan ging weiter bis zum achten Lesesaal und trat durch die Doppeltür in die dortige Bibliothek. Mit Hilfe ihrer Laterne zündete sie die Hauptlampe an, und wie zuvor flammten alle anderen auf, rissen den Raum aus seiner völligen Dunkelheit und erweckten ihn zum Leben. Die Böden bestanden aus poliertem Eichenholz, die Wände waren mit dem gleichen honigfarbenen Holz getäfelt. Tagsüber tauchten verglaste Fenster an der gegenüberliegenden Wand den Raum in helles Licht und gewährten einen herrlichen Blick auf Aydindril. Jetzt sah Kahlan wegen des Schneefalls nur die Lichter der Stadt unten.
Sie schlenderte durch den Mittelgang zwischen den Lesetischen und Reihen über Reihen mit Büchern hindurch und suchte nach dem einen Buch, an das sie sich erinnerte. Allein in diesem Raum befanden sich einhundertfünfundvierzig Reihen mit Büchern. Es gab bequeme Sessel, in die man sich zum Lesen setzen konnte, heute abend jedoch würden sie Tische brauchen, um die Bücher auszubreiten.
»Das ist also die Bibliothek«, meinte Cara. »In D'Hara, im Palast des Volkes, gibt es viel größere Bibliotheken als diese hier.«
»Dies ist nur einer von sechsundzwanzig ebensolchen Sälen. Ich kann bestenfalls ahnen, wie viele tausend Bücher sich hier in der Burg der Zauberer befinden«, sagte Kahlan.
»Wie sollen wir dann die finden, die wir suchen?« fragte Berdine.
»Das dürfte nicht so schwer sein, wie es klingt. Die Bibliotheken können ein verwirrender Irrgarten sein, wenn man etwas Bestimmtes sucht. Ich kannte einen Zauberer, der sein ganzes Leben lang immer wieder nach einer bestimmten Information suchte, die sich seines Wissens in dieser Bibliothek befand. Er hat sie nie gefunden.«
»Und wie sollen wir sie finden?«
»Es gibt Bücher, die sich so sehr auf ein bestimmtes Gebiet beschränken, daß sie zusammen aufbewahrt werden. Bücher über Sprachen zum Beispiel. Ich kann Euch zu sämtlichen Büchern über jede einzelne Sprache führen, weil es darin nicht um Magie geht. Deswegen stehen sie alle am selben Ort. Wie die Bücher über Magie und Prophezeiungen angeordnet sind – wenn überhaupt –, weiß ich nicht.
Jedenfalls ist diese Bibliothek der Ort, an dem bestimmte Aufzeichnungen, wie zum Beispiel die Aufzeichnungen über die hier abgehaltenen Gerichtsverhandlungen, aufbewahrt werden. Ich habe sie nicht gelesen, aber man hat mich darin unterrichtet.«
Kahlan machte kehrt und führte sie zwischen zwei Regalreihen hindurch. Kurz vor der Mitte des nahezu fünfzig Fuß langen Mittelganges blieb sie stehen.
»Hier sind sie. An der Schrift auf den Buchrücken kann ich erkennen, daß sie in verschiedenen Sprachen abgefaßt sind. Da ich außer Hoch-D'Haran alle Sprachen kenne, werde ich mir die in den anderen Sprachen vornehmen. Cara, Ihr untersucht die in Eurer Sprache, und Berdine, Ihr übernehmt die auf Hoch-D'Haran.«
Die drei begannen, Bücher aus den Regalen auszuwählen, sie zu den Tischen hinüberzutragen und auf drei Stapel aufzuteilen. Es waren nicht so viele, wie Kahlan befürchtet hatte. Berdine hatte nur sieben Bücher, Cara fünfzehn und Kahlan elf in unterschiedlichen Sprachen. Für Berdine würde es recht mühselig werden, das Hoch-D'Haran zu übersetzen, aber Kahlan beherrschte die anderen Sprachen fließend und würde Cara mit ihrem Stapel helfen können, sobald sie mit ihrem eigenen fertig war.
Während Kahlan mit der Arbeit begann, stellte sie rasch fest, daß es einfacher werden würde, als sie anfangs gedacht hatte. Jede Gerichtsverhandlung begann mit einer Erklärung über die Art des Verbrechens, was es erleichterte, diejenigen auszusondern, die mit dem Tempel der Winde nichts zu tun hatten.
Die Anschuldigungen reichten von Entwenden eines Andenkens von geringem Wert bis hin zu Mord. Eine Magierin wurde beschuldigt, einen Betörungsbann ausgesprochen zu haben, wurde jedoch freigesprochen. Ein Junge von zwölf Jahren wurde beschuldigt, einen Streit vom Zaun gebrochen zu haben, in dessen Verlauf ein anderer Junge sich den Arm gebrochen hatte. Weil der Angreifer Magie eingesetzt hatte, um die Verletzung herbeizuführen, bestand die Strafe in der Aussetzung seiner Ausbildung für die Dauer eines Jahres. Ein Zauberer wurde zum dritten Mal wegen Trunkenheit angeklagt, nachdem die vorhergegangenen Strafen nicht zur Besserung seines aggressiven Verhaltens geführt hatten. Er wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde zwei Tage darauf vollstreckt, als er wieder nüchtern war.
Es war üblich, daß man betrunkenen Zauberern keine Gnade entgegenbrachte, sondern sie als die Gefahr betrachtete, die sie tatsächlich darstellten, denn im berauschten Zustand waren sie imstande, vielfältig Verletzungen und Tod herbeizuführen. Kahlan selbst hatte nur ein einziges Mal erlebt, wie Zauberer sich bis zum Vollrausch betrunken hatten.
Die Aufzeichnungen über die Verhandlungen waren faszinierend, doch der ernste Zweck ihres Hierseins zwang Kahlan, die Bücher bei der Suche nach Hinweisen auf den Tempel der Winde oder einer Mannschaft, die eines Verbrechens beschuldigt wurde, lediglich zu überfliegen. Die anderen beiden kamen ebenfalls gut voran. Eine Stunde später hatte Kahlan alle elf Bücher in den anderen Sprachen durchgesehen, Berdine hatte nur noch drei übrig und Cara sechs.
»Irgendwas gefunden?« fragte Kahlan.
Cara zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe gerade einen Bericht über einen Zauberer gefunden, der auf dem Markt in der Stentorstraße gerne sein Gewand vor Frauen hochhob und ihnen befahl, ›die Schlange zu küssen‹. Ich wußte gar nicht, daß Zauberer in solche Schwierigkeiten geraten können.«
»Es sind Menschen, genau wie wir anderen.«
»Nein, das sind sie nicht. Sie besitzen Magie«, widersprach Cara.
»Die besitze ich auch. Habt Ihr etwas gefunden, Berdine?«
»Nein, nichts, wonach ich gesucht hätte. Nur ganz gewöhnliche Verbrechen.«
Kahlan wollte schon nach einem der Bücher greifen, die Cara noch nicht durchgearbeitet hatte, aber dann zögerte sie.
»Berdine, Ihr wart doch unten in dem Raum mit der Sliph.«
Berdine tat, als fröstele ihr, und grunzte angewidert. »Erinnert mich nicht daran.«
Kahlan schloß die Augen und versuchte, sich den Raum ins Gedächtnis zu rufen, konnte sich allerdings nur undeutlich erinnern, was sich sonst noch dort unten befand.
»Wißt Ihr, ob es da weitere Bücher gab, Berdine?«
Berdine kaute an einem Fingernagel und kniff konzentriert die Augen zusammen. »Ich erinnere mich, daß Kolos Tagebuch aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Und an ein Tintenfaß mit Feder. Ich erinnere mich an Kolos Gebeine, die neben dem Stuhl auf dem Boden lagen. Der größte Teil seiner Kleider war längst verrottet. Er trug noch immer seinen Ledergürtel.«
Kahlan erinnerte sich in etwa an die gleichen Dinge. »Aber wißt Ihr, ob dort Bücher in den Regalen standen?«
Kahlan sah an die Decke und dachte nach. »Nein.«
»Nein, da waren keine, oder nein, ich weiß es nicht mehr?«
»Nein, ich weiß es nicht mehr. Lord Rahl war ganz aufgeregt, daß er Kolos Tagebuch gefunden hatte. Er meinte, das sei etwas anderes als die Bücher in der Bibliothek und er habe das Gefühl, das sei jenes, wonach er gesucht hatte: nach etwas anderem eben.«
Kahlan erhob sich. »Ihr zwei sucht weiter in den Büchern. Ich steige hinunter und sehe nach, nur um ganz sicherzugehen.«
Caras Stuhl kippte scheppernd an die Wand, als sie aufstand. »Ich werde Euch begleiten.«
»Dort unten gibt es Ratten.«
Ihrer Miene nahm einen gequälten Ausdruck an. Cara stemmte eine Hand in die Hüfte. »Das wäre nicht das erste Mal, daß ich Ratten zu Gesicht bekomme. Ich werde Euch begleiten.«
Kahlan konnte sich noch gut an Caras Rattengeschichte erinnern. »Das ist nicht nötig, Cara. In der Burg brauche ich Euren Schutz nicht. Draußen ja, aber hier kenne ich die Gefahren besser als Ihr.
Ich sagte, ich würde Euch nicht mit gefährlicher Magie in Berührung bringen. Dort unten gibt es gefährliche Magie.«
»Dann bedroht sie auch Euch.«
»Nein, denn ich kenne mich damit aus. Ihr nicht. Ihr wärt in Gefahr, nicht ich. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ließ meine Mutter mich in der gesamten Burg der Zauberer frei herumlaufen, weil man mich über die Gefahren aufgeklärt und mir beigebracht hatte, wie man ihnen aus dem Weg geht. Ich weiß, was ich tue.
Bitte, bleibt hier bei Berdine und seht die Bücher bis zu Ende durch. Das spart uns Zeit, außerdem ist es wichtig. Je eher wir das Gesuchte finden, desto schneller können wir zurück nach Hause und Richard bewachen. Das ist unsere eigentliche Aufgabe.«
Caras Lederanzug knarzte, als sie ihr Gewicht aufs andere Bein verlagerte. »Vermutlich kennt Ihr die Gefahren hier wirklich besser als ich. Ich denke, Ihr habt recht, wenn Ihr zurück nach Hause wollt. Dort unten wartet Nadine.«