40

Kahlan schoß geräuschlos dahin wie ein Habicht im Sturzflug, gleichzeitig schien sie, ruhig schwebend wie ein Adler im Aufwind, in der Luft zu stehen. Licht und Dunkel, heiß und kalt, Zeit und Entfernung waren bedeutungslos, und doch bedeuteten sie alles. Es war eine überraschende Verwirrung der Empfindungen, die jedesmal noch durch die süße Gegenwart der Sliph gesteigert wurde, sobald Kahlan das lebende Quecksilber in ihre Lungen und in ihre Seele sog.

Es war die reine Wonne.

Mit einer plötzlichen Explosion von Sinneseindrücken war es vorbei.

Unvermittelt brach Licht in ihr Gesichtsfeld ein. Der Lärm von Vögeln, Gezänk und das Gesumme der Insekten klangen ihr schmerzhaft in den Ohren. Mit Lianen behangene Bäume, Felsen, die mit Flechten überwuchert und in einem Gewirr aus Wurzeln und Ranken festgehalten wurden, Schwaden eines dunklen, feuchten Nebels schienen von allen Seiten auf sie einzustürmen. Die überwältigende Gegenwart all dessen machte ihr angst.

Atme, forderte die Sliph sie auf.

Der Gedanke versetzte sie in Schrecken. Nein.

Die Stimme der Sliph brannte sich in Kahlans Verstand. Atme.

Kahlan wollte nicht aus dem friedlichen Schoß der Sliph in diese grelle, laute Welt gestoßen werden.

Dann mußte sie an Richard denken und an die Frau, die ihn bedrohte: Shota.

Kahlan stieß die Sliph aus ihren Lungen. Das flüssige Silber strömte aus ihr heraus, und doch wurde sie nicht naß. Keuchend sog sie die eigenartig scharfe Luft in sich hinein. Sie hielt sich die Ohren zu und schloß die Augen, als die Sliph sie auf dem Mauerrand absetzte.

»Wir sind dort, wohin du reisen wolltest«, verkündete die Sliph.

Widerstrebend öffnete sie die Augen und ließ die Hände sinken. Die Welt des Lebendigen beruhigte sich langsam und glich sich dem Bild an, das Kahlan von ihr hatte. Die stützende Hand der Sliph auf ihrer Hüfte löste sich.

»Danke, Sliph. Es war mir … eine Freude.«

Das flüssige Gesicht lächelte. »Es freut mich, daß es dir gefallen hat.«

»Es wird hoffentlich nicht lange dauern. Anschließend müssen wir wieder zurückreisen.«

»Ich werde bereit sein, wenn du noch einmal reisen möchtest«, sagte die Sliph, deren Stimme in das Dämmerlicht hinaushallte. »Wenn ich wach bin, bin ich jederzeit bereit zu reisen.«

Kahlan schwang ihre Beine von der Steinmauer des Brunnens herunter. Man konnte Teile eines alten Gebäudes erkennen, das jedoch größtenteils verfallen und im feuchten Unterholz des Waldes versunken war. Hier sah sie die Überreste einer Mauer, dort eine halbe Säule, auf dem Boden einige Pflastersteine, alles von Ranken, Wurzeln und Laub überwuchert.

Kahlan wußte nicht genau, wo sie sich befand, doch mußte es der düstere Wald sein, der das Zuhause der Hexe umgab. Kahlan erinnerte sich, wie sie durch diesen gefährlichen, geheimnisvollen Wald gelaufen war, nachdem Shota sie gefangengenommen und nach Agaden gebracht hatte, um Richard dorthin zu locken.

Schroffe Gipfel, einer Dornenkrone gleich, boten den nebeldurchzogenen Bäumen hoch oben auf dem weiten Grat des Rang'Shada-Gebirges Schutz. Die düsteren und vielerlei Gefahren bergenden Wälder wiederum schützten Shotas abgelegenes Heim. Sie hielten die Menschen davon ab, nach Agaden zu kommen und die Hexe zu behelligen.

Laute Schreie, Schnalzlaute und Rufe hallten durch die stehende, stinkende Luft. Kahlan rieb sich die Arme, obwohl die Luft feuchtwarm war. Das Frösteln kam von innen.

Manchmal konnte sie durch die seltenen, kleinen Lücken im Blätterdach das rosafarbene Glühen des Himmels sehen. Sicher dämmerte es gerade. Sie wußte, der heller werdende Himmel würde keine Abwechslung in das Dämmerlicht dieser Wälder bringen. Selbst an einem sonnigen Tag war es an diesem ungastlichen Ort bedrückend finster.

Mit vorsichtigen Schritten, den Blick auf den Waldboden gerichtet, trat Kahlan auf die hängenden Ranken und die treibenden Nebelschwaden zu, in denen sich Geschöpfe zu verbergen schienen, die lange Folgen zischender Schnalzlaute und spöttischer Rufe von sich gaben. Auf den ausgedehnten, stillen Wasserflächen, die unter der dichten Vegetation lauerten, erblickte sie so manches Auge, das gerade eben die Wasseroberfläche durchbrach.

Kahlan ging vorsichtig ein Stück weiter, dann hielt sie inne. Sie spürte, daß sie in dem richtungslosen Wald die Orientierung verloren hatte. Es war unmöglich, Norden und Süden, Osten und Westen auseinanderzuhalten. Dieser Wald sah in alle Richtungen gleich aus.

Auch wurde ihr klar, daß sie nicht einmal wußte, ob Shota überhaupt zu Hause war. Das letzte Mal waren sie und Richard ihr im Dorf der Schlammenschen begegnet. Shota war von einem mit dem Hüter im Bunde stehenden Zauberer aus ihrem Heim vertrieben worden. Vielleicht war Shota gar nicht da.

Nein, Nadine hatte sie aufgesucht. Shota war zu Hause. Kahlan ging einen Schritt weiter.

Etwas packte sie am Knöchel und riß ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie landete mit einem harten, dumpfen Schlag auf dem Rücken.

»Hübsches Weibchen.«

Kahlan schnappte keuchend nach Luft.

»Samuel! Runter von mir!«

Kräftige Finger schlossen sich um ihre linke Brust. Blutleere Lippen verzogen sich zu einem boshaften Grinsen. »Vielleicht frißt Samuel hübsches Weibchen.«

Kahlan drückte die Spitze des Knochenmessers in die Hautfalten hinten an Samuels Hals. Sie packte einen seiner langen Finger und bog ihn nach hinten, bis er einen schrillen Schrei ausstieß und ihre Brust losließ.

Sie stieß mit dem Messer nach seiner Kehle. »Vielleicht verfüttere ich dich an die Viecher im Wasser dort drüben. Was meinst du? Soll ich dir die Kehle aufschlitzen? Oder steigst du freiwillig von mir runter?«

Der haarlose, fleckig-graue Kopf wich zurück. Gelbe Augen, die im trüben Licht wie Zwillingslampen wirkten, funkelten haßerfüllt auf sie herab. Vorsichtig wälzte er sich zur Seite, um sie aufstehen zu lassen. Kahlan hielt das Knochenmesser auf ihn gerichtet.

Auf seiner wächsernen Haut klebten totes Laub und kleine Holzstückchen aus dem Wald. Mit seinen langen Armen zeigte er in den trüben Nebel.

»Die Herrin will dich sehen.«

»Woher weiß sie, daß ich hier bin?«

Das groteske Gesicht teilte sich zu einem fauchenden Grinsen. »Die Herrin weiß alles. Folge Samuel.« Er machte rasch ein paar geduckte Schritte und blieb dann stehen, um sich umzuschauen. »Wenn die Herrin mit dir fertig ist, wird Samuel dich fressen.«

»Könnte sein, daß ich eine Überraschung für Shota habe. Diesmal hat sie einen Fehler gemacht. Wenn ich mit ihr fertig bin, hast du vielleicht gar keine Herrin mehr.«

Die gedrungene Gestalt musterte sie mit starrem Blick, zog die blutleeren Lippen zurück und fauchte.

»Deine Herrin wartet. Also los.«

Schließlich setzte die stämmige, haarlose, langarmige Gestalt ihren Weg durch das Dickicht fort. Samuel schlich um gefährliche Stellen herum, die Kahlan überhaupt nicht bemerkt hatte, und deutete widerwillig auf Dinge, die sie umgehen sollte. Ranken, denen er auswich, griffen im Vorübergehen nach ihr, doch sie war zu weit entfernt, als daß sie sie hätten packen können. Wurzeln, um die Samuel einen Bogen machte, wanden sich knorrig in die Höhe und versuchten nach ihr zu greifen.

Ab und an sah der kleine Kerl, der nur mit einer von Riemen gehaltenen Hose bekleidet war, über die Schulter, um sich zu vergewissern, ob sie auch folgte. Ein paarmal stieß er während seines hüpfenden Ganges sein seltsam gurgelndes Lachen aus.

Nach einer Weile stießen sie auf einen schmalen Pfad, und kurz darauf wurde das Licht, das durch das dichte Astgewirr über ihren Köpfen drang, heller. Kahlan folgte dem widerwärtigen Geschöpf, bis sie schließlich den Rand des finsteren Waldes und einen steilen felsigen Abgrund erreichten.

Weit unten lag das grüne Tal, in dem die Hexe lebte. Es handelte sich um einen der schönsten Flecken der Midlands, doch das half Kahlan kaum gegen das mulmige Gefühl im Bauch. Ringsherum ragten die kahlen Gipfel der Berge fast senkrecht in die Höhe. Die ausschlagenden Bäume im friedlich daliegenden Tal wiegten sich sanft in der frühmorgendlichen Brise.

Der Abstieg über die senkrechten Felswände schien unmöglich, doch da sie schon einmal hiergewesen war, wußte Kahlan, daß es in den Fels gehauene Stufen gab. Samuel führte sie durch ein schwer begehbares, sumpfiges Gelände voller Gestrüpp, dicht beieinanderstehender Bäume und farnüberwucherter Findlinge zu einer Stelle, die sie ohne seine Führung wohl kaum gefunden hätte. Ein hinter Felsen, Bäumen, Farnen und Ranken verborgener Pfad führte zu dem steilen Abgrund und den Stufen, die in der Felswand nach unten führten.

Samuel zeigte in die Ferne, hinunter ins Tal. »Die Herrin.«

»Ich weiß. Mach schon.«

Kahlan folgte Samuel nach unten. Teils war es ein schmaler Pfad, der größte Teil des Weges hinunter bestand jedoch aus Tausenden von Stufen, die man in die zerklüftete Felswand geschlagen hatte. Sie wanden sich und führten in engen Serpentinen abwärts, manchmal spiralförmig unter den oberen hindurch.

Tief unten, weit entfernt in der Mitte des Tales, erhob sich inmitten zweier Flußläufe, erhabener Bäume und leicht welliger Felder Shotas eleganter Palast. Bunte Fähnchen flatterten oben auf den Türmen und Zinnen, als wollten sie ein Fest ankündigen. Kahlan konnte die fernen Wimpel im Wind knallen hören. Doch hatte sie kein Auge für diese Pracht. Für sie war es der Mittelpunkt eines Spinnennetzes. Ein Ort, an dem Gefahr lauerte. Eine Gefahr für Richard.

Samuel sprang vor ihr die Stufen hinab, glücklich, in die Obhut seiner Herrin zurückzukehren, und spielte zweifellos mit dem Gedanken, Kahlan in einem Eintopf zu kochen, sobald seine Herrin mit ihr fertig wäre.

Kahlan achtete kaum auf die haßerfüllten Blicke aus seinen großen gelben Augen. Auch sie hatte sich in eine Welt des Abscheus zurückgezogen.

Shota wollte Richard Unheil zufügen. Dieser Gedanke ging Kahlan beständig durch den Kopf. Das war der Schlüssel. Shota wollte Richards Glück verhindern. Shota wollte Richard leiden sehen.

Kahlan spürte, wie eine wütende Kraft in ihrem Innern brodelte, bereit zu tun, was immer sie verlangte, um die Gefahr für Richard zu beseitigen. Endlich hatte Kahlan einen Weg gefunden, Shota zu besiegen. Gegen Subtraktive Magie besaß Shota keinen Schild. Sie würde jede Magie, mit der sie sich umgab, durchdringen.

Kahlan hatte den Weg in das Zentrum ihrer Kraft gefunden, den Zugang durch das Labyrinth aus Schutzvorrichtungen, das über ihrer Magie lag. Diese Seite ihrer Magie war durch Regeln geschützt, die ihre Anwendung steuerten. Wie in der Burg der Zauberer, die von Schilden aller Art geschützt wurde, gab es einen Weg, der durch sie hindurchführte. Sie hatte den Weg durch die Burg gefunden, und mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstandes hatte sie die Rechtfertigung gefunden, die sich einen Weg durch den Irrgarten aus Prinzipien bahnte, die den Einsatz dieser Magie untersagten.

Sie hatte deren uralte Kraft angezapft, ihre zerstörerische Kraft.

Kahlan spürte, wie sie durch ihren Körper in die Arme strömte. Blaues Licht zuckte in knotigen Windungen um ihre geballten Fäuste.

Fast hätte sie sich in einem Trancezustand der Entschlossenheit verloren.

Zum ersten Mal hatte Kahlan vor der Hexe keine Angst. Wenn Shota nicht schwor, Richard in Frieden zu lassen, ihn sein eigenes Leben leben zu lassen, würde sie zu Staub zerfallen, noch bevor der Tag zu Ende war.

Unten am Fuß der Felswand folgte Kahlan Samuel, der über die Straße sprang, die zwischen den mit vereinzelten Bäumen bestandenen Hügeln und grünen Feldern hindurchführte. Ringsum ragten schneebedeckte Gipfel durch die vereinzelten Wolken in die Höhe. Das Blau des Himmels wurde noch tiefer, als die Sonne über diesen Gipfeln aufging.

Kahlan war überzeugt, genügend lodernde Kraft in ihrem Innern zu haben, um diese Gipfel dem Erdboden gleichzumachen. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung von der Hexe – mit der sie sich als Bedrohung für Richard erwies –, und es wäre mit ihr vorbei.

Die Straße führte eine leichte Anhöhe hinauf, von wo aus Kahlan die Türme des Palastes durch die Bäume schimmern sah. Samuel warf einen Blick nach hinten, um zu prüfen, ob sie ihm noch immer folgte, Kahlan jedoch war auf seine Führung nicht angewiesen. Sie wußte, daß Shota in dem kleinen Wäldchen unten wartete.

Die Hexe war der allerletzte Mensch, den Kahlan je hatte wiedersehen wollen, doch wenn sich das schon nicht vermeiden ließ, dann sollte das Treffen diesmal wenigstens zu ihren Bedingungen ablaufen.

Samuel blieb stehen und deutete mit seinem langen Finger nach vorn. Seine gelben Augen sahen sich wütend nach Kahlan um. »Die Herrin will dich.«

Kahlan drohte ihm. Fäden blauen Lichts umzuckten den erhobenen Finger knisternd.

»Wenn du mir in die Quere kommst oder dich einmischst, stirbst du.«

Sein Blick wanderte von ihrem Finger zurück zu ihren Augen. Er zog die blutleeren Lippen zurück und fauchte, dann sprang er davon, unter die Bäume.

Gehüllt in einen Kokon aus brodelnder Magie, stieg Kahlan weiter den Hang hinunter zu der wartenden Hexe. Der Wind war frühlingshaft warm, es war ein strahlend heller und heiterer Tag. Kahlan verspürte keine Heiterkeit.

Im Schutz der hohen Ahornbäume, der Eschen und Eichen stand ein weiß gedeckter Tisch mit Speisen und Getränken. Dahinter, auf drei quadratischen weißen Marmorplatten, sah Kahlan einen wuchtigen, mit vergoldeten Schnitzereien aus Ranken sowie Schlangen und anderen Tieren verzierten Thron.

Shota saß da wie eine Königin, ein Bein beiläufig über das andere geschlagen, während sie mit alterslosen Mandelaugen verfolgte, wie Kahlan näher kam. Ihre Arme lagen auf den hohen, weit auseinanderstehenden Lehnen des Sessels. Die Hände ruhten in arroganter Manier auf goldenen Monsterköpfen. Die Monsterköpfe rieben sich an ihren Händen, als hofften sie darauf, liebkost zu werden. Ein schwerer, mit rotem Brokat behangener und mit goldenen Quasten geschmückter Baldachin schützte die Besitzerin vor der Morgensonne, und doch glänzte ihr üppiges kastanienbraunes Haar hell.

Nicht weit davon entfernt blieb Kahlan unter dem unerschütterlichen, durchdringenden Blick der Hexe stehen. Der blaue Blitz schrie danach, freigesetzt zu werden.

Shota klickte mit den lackierten Fingernägeln aneinander. Ein selbstzufriedenes Grinsen spielte über ihre vollen roten Lippen.

»Sieh an, sieh an«, meinte Shota mit ihrer samtweichen Stimme. »Die jugendliche Meuchelmörderin ist endlich eingetroffen.«

»Ich bin keine Meuchelmörderin«, erwiderte Kahlan. »Und ich bin auch kein Kind. Aber Eure Spielchen bin ich leid.«

Shotas Lächeln erlosch. Sie stützte die Hände auf die Lehnen des Sessels und erhob sich. Der Spitzensaum ihres schleierdünnen, tief ausgeschnittenen, bunt schillernden Kleides wogte in der sanften Brise. Ohne den Blick von Kahlan abzuwenden, stieg sie die drei weißen Marmorstufen hinunter.

»Ihr seid spät dran.« Shota deutete mit ausgestreckter Hand auf den Tisch. »Der Tee wird kalt.«

Kahlan zuckte zusammen, als ein Blitz aus heiterem Himmel herabfuhr und in die Teekanne einschlug. Erstaunlicherweise zersprang sie nicht.

Shota sah kurz hinunter auf Kahlans Hände, dann schaute sie ihr wieder in die Augen. »Na bitte. Ich denke, jetzt ist er wieder heiß. Wollt Ihr Euch nicht setzen? Wir werden zusammen Tee trinken und uns … ein wenig unterhalten.«

Kahlan wußte, daß Shota das drohende blaue Licht bemerkt hatte, und zahlte ihr das selbstzufriedene Lächeln mit gleicher Münze heim. Die Hexe zog einen Stuhl heran und setzte sich. Sie machte abermals eine einladende Handbewegung.

»Nehmt bitte Platz. Ich könnte mir denken, daß Ihr einiges mit mir besprechen wollt.«

Kahlan ließ sich auf den Stuhl gleiten, während Shota, mit ihrer anderen Hand den weißen Kannendeckel haltend, Tee einschenkte. Dampf stieg aus den Tassen. Der Tee war tatsächlich heiß. Shota nahm den goldverzierten Servierteller vom Tisch und bot Kahlan geröstetes Weißbrot an. Vorsichtig nahm Kahlan eine der knusprig goldenen Scheiben vom Teller. Shota schob eine Schale mit Honigbutter über den Tisch.

»Tja«, meinte Shota, »wenn das kein unerfreulicher Anlaß ist.«

Shota nahm ein silbernes Messer zur Hand und bestrich das Brot mit Honigbutter. Sie trank einen Schluck Tee.

»Eßt nur, mein Kind. Einen Mord begeht man am besten mit vollem Magen.«

»Ich bin nicht gekommen, um Euch zu ermorden.«

Shotas schlaues Lächeln kehrte zurück. »Nein, vermutlich ist es Euch gelungen, eine Rechtfertigung dafür zu finden. Vergeltung, ja? Oder vielleicht Selbstschutz. Strafe? Sühne? Gerechtigkeit?« Das aalglatte Lächeln wurde breiter. Sie zog eine Braue hoch. »Schlechte Manieren?«

»Ihr habt Nadine geschickt, damit sie Richard heiratet.«

»Ach, Eifersucht also.« Shota lehnte sich zurück und nippte an ihrem Tee. »Ein edles Motiv, wäre es berechtigt. Euch ist hoffentlich klar, daß Eifersucht ein grausamer Ratgeber sein kann.«

Kahlan biß von dem knusprigen Brot ab. »Richard liebt mich, und ich liebe ihn. Wir sind verlobt und wollen heiraten.«

»Ja, das weiß ich. Für jemanden, der behauptet, ihn zu lieben, hätte ich Euch für einsichtiger gehalten.«

»Für einsichtiger?«

»Natürlich. Wenn man jemanden liebt, dann möchte man, daß er glücklich ist. Man will für ihn das Beste.«

»Ich mache Richard glücklich. Er will mich. Ich bin das Beste für ihn.«

»Tja, wir können nicht immer kriegen, was wir wollen, meint Ihr nicht auch?«

Kahlan leckte Honigbutter von ihrem Finger. »Verratet mir nur eins, warum wollt Ihr Unheil über uns bringen?«

Shota wirkte ehrlich überrascht. »Unheil über Euch bringen? Glaubt Ihr das tatsächlich? Ihr glaubt, ich täte das aus Gehässigkeit?«

»Warum sonst solltet Ihr unablässig versuchen, uns zu trennen oder uns zu schaden?«

Shota biß übertrieben vorsichtig ein Stück von ihrem Brot ab. Sie kaute lange. »Ist die Pest bereits ausgebrochen?«

Die Tasse machte auf halbem Weg zu Kahlans Lippen halt. »Woher wißt Ihr davon?«

»Ich bin eine Hexe. Ich sehe den Fluß der Ereignisse. Ich will Euch eine Frage stellen. Angenommen, Ihr besucht ein kleines Kind, das an der Pest erkrankt ist, und die Mutter des Kindes fragt Euch, ob sich das Kind wieder erholen wird, und Ihr sagt ihr die Wahrheit. Wärt Ihr dann schuld am Tod des Kindes, weil Ihr ihn vorhergesagt hättet?«

»Natürlich nicht.«

»Aha. Dann werde also nur ich nach anderen Maßstäben beurteilt.«

»Ich beurteile Euch nicht. Ich will nur, daß Ihr aufhört, Euch in Richards und mein Leben einzumischen.«

»Dem Überbringer einer schlechten Nachricht wird oft die Schuld an der Katastrophe zur Last gelegt.«

»Shota, bei unserer letzten Begegnung habt Ihr gesagt, sollten wir dem Hüter Einhalt gebieten, wärt Ihr uns etwas schuldig. Ihr habt mich gebeten, Richard zu helfen. Wir haben dem Hüter Einhalt geboten. Es hat uns einen hohen Preis gekostet, trotzdem haben wir es getan. Ihr seid uns etwas schuldig.«

»Ja, ich weiß«, meinte Shota leise. »Deswegen habe ich auch Nadine geschickt.«

Kahlan spürte, wie das Tosen der Kraft in ihrem Innern heftiger wurde. »Das scheint mir eine seltsame Art zu sein, jemandem seine Wertschätzung zu beweisen – eine Person zu schicken, um auf diese Weise dessen Leben zu ruinieren.«

»Nein, mein Kind«, antwortete Shota sanft. »Ihr seid blind für die Wahrheit.«

Kahlan mußte Richard helfen und aus Shota so viel herauslocken, wie möglich war, doch falls es nicht anders ging, würde sie ihren Verlobten und sich verteidigen. Bis dahin würde sie diese weitschweifige Unterhaltung über sich ergehen lassen, wenn sie dazu beitrug, die benötigten Antworten zu bekommen. Und sie benötigten Antworten.

»Was wollt Ihr damit sagen?« Shota nippte an ihrem Tee. »Habt Ihr Richard schon beigewohnt?«

Die Frage erwischte Kahlan in einem unbedachten Augenblick, sie erholte sich jedoch schnell. Beiläufig zuckte sie mit einer Schulter. »Ja, um ehrlich zu sein, das habe ich.«

Shota sah von ihrem Tee auf. »Das ist gelogen.«

Erfreut über den haßerfüllten Unterton in Shotas Stimme, zog Kahlan eine Braue hoch. »Es ist die Wahrheit. Die Nachricht gefällt Euch nicht, also nehmt Ihr sie dem Überbringer übel?«

Shota kniff die Augen zusammen. Ihr Blick heftete sich auf Kahlan, als nähme sie mit einem Pfeil Maß und spannte ihren Bogen.

»Wo, Mutter Konfessor? Wo habt Ihr ihm beigewohnt?«

»Wo? Was macht das für einen Unterschied? Habt Ihr die Hexerei jetzt an den Nagel gehängt, und interessiert Ihr Euch nur noch für Tratsch? Ich habe bei ihm geschlafen … auf besagte Weise, und das ist die Wahrheit, ob sie Euch nun gefällt oder nicht. Ich bin keine Jungfrau mehr. Ich war mit Richard zusammen, das allein zählt.«

Shotas Augen funkelten gefährlich. »Wo?« wiederholte sie.

Ihr Ton war so bedrohlich, daß Kahlan vergaß, daß sie vor der Hexe keine Angst zu haben brauchte.

»An einem Ort zwischen den Welten«, antwortete Kahlan, der es plötzlich peinlich war, über die Einzelheiten zu sprechen. »Die Guten Seelen … haben uns dorthin gebracht«, stammelte sie. »Die Guten Seelen … wollten, daß wir uns vereinen.«

»Verstehe.« Shotas Blick wurde kalt. Ihr dünnes Lächeln kehrte zurück. »Ich fürchte, das zählt nicht.«

»Zählt nicht! Was im Namen alles Guten soll das heißen? Ich war mit ihm zusammen. Das allein zählt. Ihr seid nur verärgert, weil es die Wahrheit ist.«

»Die Wahrheit? Ihr wart nicht in dieser Welt mit ihm vereint, mein Kind. Dies ist die Welt, in der wir leben. Ihr wart mit ihm nicht hier zusammen, wo es zählt. In dieser Welt seid Ihr noch immer Jungfrau.«

»Das ist absurd.«

Shota zuckte die Achseln. »Ihr könnt darüber denken, wie Ihr wollt. Mir genügt, daß Ihr noch nicht mit ihm zusammen wart.«

Kahlan verschränkte trotzig die Arme. »Diese Welt oder eine andere, das ist völlig egal. Ich war mit ihm vereint.«

Shotas glatte Stirn kräuselte sich vor mühsam unterdrückter Heiterkeit. »Und wenn Ihr mit ihm an diesem Ort zwischen den Welten zusammen wart, wo die Guten Seelen Euch hingeführt haben, wieso dann nicht auch in dieser Welt? Schließlich seid Ihr hier doch keine Jungfrau mehr, wie Ihr behauptet.«

Kahlan senkte verlegen den Blick. »Na ja, ich … wir … hielten es für das beste zu warten, bis wir getraut sind, das ist alles.«

Shotas leise triumphierendes Lachen wehte in der Morgenluft davon. »Seht Ihr? Ihr wißt, daß ich die Wahrheit spreche.« Sie hielt die Teetasse zwischen den Fingerspitzen beider Hände und nippte daran, und nach jedem Schluck entfuhr ihr ein weiteres irres Kichern.

Kahlan kochte vor Wut, denn sie hatte das Gefühl, das Wortgefecht verloren zu haben. Sie versuchte, sich einen Anschein von Selbstsicherheit zu geben, indem sie sich zurücklehnte und ihrerseits einen Schluck Tee trank.

»Wenn Ihr Euch mit pedantischen Haarspaltereien täuschen wollt, nur zu. Ich weiß, was wir getan haben«, entgegnete Kahlan. »Ich wüßte ohnehin nicht, was Euch das angeht.«

Shota hob den Kopf. »Ihr wißt sehr wohl, was mich das angeht, Mutter Konfessor. Jeder Konfessor bringt einen Konfessor zur Welt. Wenn Ihr sein Kind bekommt, wird es ein Junge sein. Ich habe Euch beiden erklärt, daß Ihr das nicht vergessen dürft, bevor Ihr Euch vereint. Die Lust trübt die Gedanken an die möglichen Folgen.

Von Eurer Seite aus würde der Junge ein Konfessor werden. Von Richards Seite würde er die Gabe mitbekommen. Eine so gefährliche Mischung gab es noch nie.«

Kahlan versuchte ihr Entsetzen über die Weissagung hinter einem geduldigen, vernünftigen Ton zu verbergen, der ebenso ihr selbst galt wie Shota.

»Ihr seid eine Hexe mit großen Fähigkeiten, Shota, und zugegeben, vielleicht wißt Ihr, ob es ein Junge wird, aber Ihr könnt unmöglich wissen, daß er werden würde wie die meisten männlichen Konfessoren, die in der Vergangenheit geboren wurden. Nicht alle waren so. Ihr habt praktisch selbst zugegeben, nicht zu wissen, ob es so kommen wird. Ihr seid nicht der Schöpfer. Ihr könnt unmöglich wissen, was er zu tun beschließt – wenn er überhaupt beschließt, uns ein Kind zu schenken.«

»In diesem Punkt brauche ich die Zukunft gar nicht zu kennen. Fast alle männlichen Konfessoren waren gewissenlose Bestien. Meine Mutter lebte in jenen düsteren Zeiten, die durch einen männlichen Konfessor heraufbeschworen wurden. Ihr würdet die Welt nicht nur mit einem männlichen Konfessor strafen, sondern noch dazu mit einem, der die Gabe besitzt. Welch verheerende Umwälzung das zur Folge hätte, könnt Ihr Euch überhaupt nicht vorstellen.

Aus eben diesem Grund dürfen Konfessoren ihre Gefährten nicht lieben. Bringen sie ein männliches Kind zur Welt, müssen sie ihren Gatten bitten, das Kind zu töten. Ihr liebt Richard. Das würdet Ihr niemals von ihm verlangen. Ich habe Euch gewarnt. Ich habe die Kraft zu tun, was Ihr niemals könntet. Zudem habe ich Euch auch erklärt, daß ich das nicht persönlich meine.«

»Ihr redet über die ferne Zukunft, als habe sie sich bereits ereignet. So ist das aber nicht«, meinte Kahlan. »Die Geschehnisse entwickeln sich nicht immer so, wie Ihr behauptet. Allein Richard habt Ihr zu verdanken, daß Ihr überhaupt noch lebt. Ihr habt gesagt, gelänge es Richard und mir, den Schleier zu schließen und dadurch Euch und alle anderen vor dem Hüter zu bewahren, dann wärt Ihr uns beiden ewig dankbar.«

»Das bin ich auch.«

Kahlan beugte sich vor. »Ihr wollt Eure Dankbarkeit beweisen, indem Ihr droht, mein Kind zu töten, sollte ich eins bekommen, und versucht, mich gar umzubringen, wenn ich Euch um Hilfe bitte?«

Shotas Brauen zuckten. »Ich habe nicht versucht, Euch umzubringen.«

»Ihr schickt Samuel dort hinauf, damit er mich überfällt, und dann habt Ihr die Frechheit, mich dafür zurechtzuweisen, daß ich bereit bin, mich zu verteidigen? Dieses kleine Ungeheuer hat mich zu Boden geworfen und ist über mich hergefallen. Hätte ich keine Waffe gehabt, wer weiß, was er mir angetan hätte. Ist das Eure Dankbarkeit? Er sagte, wenn Ihr mit mir fertig seid, würdet Ihr ihm erlauben, mich zu verspeisen. Und ich soll an Euren guten Willen glauben? Ihr wagt es, mir Dankbarkeit vorzugaukeln?«

Shotas Blick wanderte zu den Bäumen hinüber. »Samuel!« Sie setzte ihre Teetasse ab. »Samuel! Komm sofort her!«

Die gedrungene Gestalt hüpfte durch das Gras zwischen den Bäumen herbei, wobei er die Knöchel seiner Finger zu Hilfe nahm. Er rannte zu Shota und rieb seinen Kopf an ihren Beinen.

»Herrin«, schnurrte er.

»Samuel, was habe ich dir über die Mutter Konfessor erzählt?«

»Die Herrin hat Samuel gesagt, er soll zu ihr gehen.«

Sie sah Kahlan in die Augen. »Und was habe ich dir noch aufgetragen?«

»Er soll sie herbringen.«

»Samuel«, sagte sie mit bebender Stimme.

»Die Herrin hat gesagt, er soll ihr nichts tun.«

»Du bist über mich hergefallen!« warf Kahlan ein. »Du hast mich zu Boden gerissen und dich auf mich geworfen! Du hast gesagt, du würdest mich fressen, wenn deine Herrin mit mir fertig wäre.«

»Ist das wahr, Samuel?«

»Samuel hat der hübschen Lady nichts getan«, brummte Samuel.

»Stimmt das, was sie sagt? Hast du sie angegriffen?«

Samuel fauchte Kahlan an. Shota verpaßte ihm mit der Faust eine Kopfnuß. Er wich erschrocken zurück und klammerte sich an ihr Bein.

»Was habe ich dir aufgetragen, Samuel? Wie lauteten meine Anweisungen?«

»Samuel muß die Mutter Konfessor hierherbringen. Samuel darf die Mutter Konfessor nicht anfassen. Samuel darf der Mutter Konfessor nichts tun. Samuel darf der Mutter Konfessor nicht drohen.«

Shota trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Und, hast du mir gehorcht, Samuel?«

Samuel versteckte seinen Kopf unter dem Saum ihres Kleides.

»Samuel, beantworte sofort meine Frage. Stimmt das, was die Mutter Konfessor sagt?«

»Ja, Herrin«, erwiderte Samuel kläglich.

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Samuel.«

»Tut Samuel leid.«

»Wir unterhalten uns später weiter. Laß uns jetzt allein.«

Der Gehilfe der Hexe entfernte sich hüpfend unter die Bäume. Shota drehte sich um und sah Kahlan in die Augen.

»Ich habe ihm erklärt, er darf Euch weder etwas antun noch Euch bedrohen. Ich kann verstehen, warum Ihr Euch erregt, die Fassung verliert und denkt, ich wollte Euch etwas Böses. Bitte nehmt meine Entschuldigung an.« Sie schenkte Kahlan Tee nach. »Seht Ihr? Ich habe nicht die Absicht, Euch Leid zuzufügen.«

Kahlan nahm einen Schluck aus ihrer vollen Tasse. »Samuel ist das geringste Übel. Ich weiß, Ihr wollt Unheil über mich und Richard bringen, aber ich fürchte mich nicht mehr vor Euch. Ihr könnt mir nichts mehr anhaben.«

Shotas selbstgefälliges Lächeln kehrte zurück. »Wirklich nicht?«

»Ich schlage vor, Ihr versucht erst gar nicht, Eure Kraft gegen mich einzusetzen.«

»Meine Kraft? Alles, was ich tue, alles, was jeder tut, macht er mit seiner Kraft. Wenn ich atme, benutze ich meine Kraft.«

»Ich rede davon, mir Schaden zuzufügen. Wenn ihr wagt, es zu versuchen, werdet Ihr den Versuch nicht überleben.«

»Mein Kind, ich habe nicht die Absicht, so etwas zu tun, auch wenn Ihr das denkt.«

»Eine mutige Bemerkung, jetzt, wo Ihr wißt, daß Ihr dazu nicht mehr in der Lage seid.«

»Ach, wirklich? Habt Ihr je daran gedacht, daß der Tee vergiftet sein könnte?«

Ihr Lächeln wurde breiter, als Kahlan sich versteifte. »Ihr habt …?«

»Natürlich nicht. Ich sagte doch schon, das liegt nicht in meiner Absicht. Wenn mir danach gewesen wäre, hätte ich alles mögliche tun können. Ich hätte einfach eine Viper hinter Eure Ferse setzen können. Vipern mögen es nicht, wenn man sich hastig bewegt.«

Wenn Kahlan eins haßte, dann waren es Schlangen, und das wußte Shota.

Sie entspannte sich und atmete aus. »Aber ich sollte denken, dort könnte eine sein.«

»Ich sollt erkennen, daß man Selbstvertrauen auch überbewerten kann. Vielleicht freut es Euch zu erfahren, daß ich Euch schon immer aus allen möglichen Gründen für überaus gefährlich gehalten habe. Daß Ihr einen Weg gefunden habt, die andere Seite Eurer Magie anzuzapfen, hat für mich keine große Bedeutung.

Was mir angst macht, sind ganz andere Dinge. Euer Schoß macht mir angst. Und Eure überhebliche Selbstgewißheit.«

Kahlan wäre vor Wut fast aufgesprungen, doch dann mußte sie plötzlich an die sterbenden Kinder in Aydindril denken. Wie viele von ihnen waren dem Tod nahe, bangten zitternd um ihr Leben, während Kahlan halsstarrig mit Shota über Fehler und Schuldzuweisungen debattierte. Shota wußte von der Pest und den Winden, die Jagd auf Richard machten. Was bedeutete Kahlans Stolz im Vergleich dazu?

Sie mußte auch an eine Passage aus der Prophezeiung denken: … keine Klinge, sei sie aus Stahl oder aus Zauberei geschmiedet, kann diesem Feind etwas anhaben.

Aus ziemlich dem gleichen Grund wäre es ebenso zwecklos, mit Shota die Klingen zu kreuzen. Es hätte keinen Sinn, und schlimmer noch, es brächte keine Lösung.

Kahlan mußte einsehen, daß sie der Rache wegen gekommen war. Dabei wäre es eigentlich ihre Pflicht gewesen, sich um die leidenden und sterbenden Menschen zu kümmern. Wen, von ihrem Stolz abgesehen, würde es weiterbringen, wenn sie sich mit Shota anlegte? Sie stellte sich und ihre Unsicherheit aus Eigensinn über das Leben Unschuldiger. Sie war selbstsüchtig.

»Nadine ist der Grund, weshalb ich wehen Herzens hergekommen bin, Shota. Ich wollte, daß Ihr Richard und mich in Frieden laßt. Ihr wollt uns nichts Böses, sagt Ihr, und es sei Eure Absicht zu helfen. Auch ich will den Menschen helfen, die verzweifelt sind und im Sterben liegen. Warum einigen wir uns nicht darauf, für den Augenblick wenigstens, einander zu glauben?«

Shota sah sie über ihre Teetasse hinweg an. »Welch brillanter Einfall.«

Kahlan versuchte, ihre inneren Ängste, ihren inneren Zorn zu beschwichtigen. Am liebsten wäre sie aus Wut über Nadines Benehmen auf Shota losgegangen. Was aber, wenn es gar nicht Shotas Fehler war? Wenn Nadine aus eigenem Antrieb handelte, genau wie Samuel? Was, wenn die Hexe die Wahrheit sagte, wenn sie tatsächlich kein Unheil hatte anrichten wollen?

Falls das stimmte, dann war Kahlans Drang, auf ihr Gegenüber loszugehen, auf bedauernswerte Weise ein Irrtum.

Kahlan gestand sich ein, daß Shota recht gehabt hatte. Sie hatte nur deswegen einen Grund gesucht, sich zu rächen, weil sie auf ihre todbringende Kraft zurückgreifen wollte. Sie hatte nicht zuhören wollen.

Sie legte die Hände auf den Tisch. Shota nippte an ihrem Tee und beobachtete, wie das bläuliche Glühen um Kahlans Hände schwächer wurde und schließlich ganz erlosch. Kahlan wußte nicht, ob sie davon würde Gebrauch machen können, falls Shota jetzt über sie herfiele, sah aber ein, daß es keine Rolle spielte.

Ein Versagen bei ihrer eigentlichen Pflicht war ein zu hoher Preis für ihren Stolz.

Kahlan spürte, dies war die einzig echte Chance, ihre Zukunft, Richard und die unschuldigen Menschen in Aydindril zu retten. Richard sagte immer, man müsse an die Lösung denken, nicht an das Problem.

»Shota«, sagte Kahlan leise, »ich habe von Euch immer nur das Schlechteste gedacht. Angst war nur zum Teil der Grund dafür. Ihr hattet recht, mein Motiv war Eifersucht. Ich bitte Euch, verzeiht mir meinen Starrsinn und meine Überheblichkeit.

Ich weiß, Ihr habt früher schon versucht, Menschen zu helfen. Bitte, helft jetzt mir. Ich brauche Antworten. Menschenleben hängen davon ab. Bitte sprecht mit mir. Ich werde versuchen, mir ganz offen anzuhören, was Ihr zu sagen habt, denn ich weiß, Ihr seid weder der Bote noch die Ursache.«

Shota setzte ihre Teetasse ab. »Glückwunsch, Mutter Konfessor. Ihr habt Euch soeben das Recht erworben, mir Fragen zu stellen. Habt den Mut, die Antworten zu vernehmen, dann werden sie Euch eine Hilfe sein.«

»Ich werde mein Bestes tun, das schwöre ich«, antwortete Kahlan.

Загрузка...