22

Clarissa glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Wie konnte ein Mensch das Eigentum eines anderen sein? Zu ihrer Schande erkannte sie, zugelassen zu haben, daß sie für den Abt nicht viel mehr gewesen war. Oberflächlich betrachtet war er freundlich zu ihr gewesen, als Gegenleistung aber hatte er sie wie sein Eigentum betrachtet.

Sie wußte, daß diese Bestien nicht freundlich sein würden. Sie wußte, was sie mit ihr anstellen würden, und das würde beträchtlich schlimmer sein als die betrunkenen, impotenten Gefühlswallungen des Abtes. Der stahlharte Blick in den Augen des Mannes verriet ihr, daß diese Männer keine Schwierigkeiten hätten, alles durchzusetzen, was sie wollten.

Wenigstens war es Silber. Sie wußte nicht, wieso das für sie eine Rolle spielte, aber so war es.

»Ihr habt also Bücher hier?« fragte Kommandant Mallack. »Sind Prophezeiungen dabei?«

Der Abt hätte den Mund halten sollen. Um die Bücher zu beschützen, wollte sie jedenfalls nicht sterben. Außerdem würden diese Männer alles hier auseinandernehmen und sie ohnehin finden. Die Bücher waren nicht versteckt. Schließlich war man überzeugt gewesen, die Stadt sei vor einer Eroberung sicher.

»Ja.«

»Der Kaiser will, daß man alle Bücher zu ihm bringt. Du wirst uns zeigen, wo sie sich befinden.«

Clarissa schluckte. »Selbstverständlich.«

»Wie läuft's, Jungs?«, ließ sich eine freundliche Stimme hinter den Männern vernehmen. »Alles in Ordnung? Wie es scheint, habt ihr alles gut im Griff.«

Die drei Männer drehten sich um. Ein munterer älterer Herr stand in der Tür. Sein voller Schopf aus weißem, glattem Haar fiel ihm bis auf die breiten Schultern. Er trug hohe Stiefel, braune Hosen und ein weißes Rüschenhemd unter einer offenen grünen Weste. Der Saum seines schweren, braunen Umhangs schwebte dicht über dem Boden. In einer eleganten Scheide an seiner Hüfte steckte ein Schwert.

Der Prophet.

»Wer seid Ihr?« knurrte Kommandant Mallack.

Der Prophet warf sich den Umhang beiläufig über die eine Schulter. »Ein Mann, der eine Sklavin braucht.« Er schob einen der Männer zur Seite und ging gemessenen Schritts auf Clarissa zu. Mit seiner großen Hand faßte er sie am Kinn und begutachtete ihr Gesicht. »Diese hier wird genügen. Wieviel wollt Ihr für sie?«

Der kahlköpfige Kommandant Mallack krallte seine Faust in das weiße Hemd. »Die Sklaven gehören der Imperialen Ordnung. Sie sind sämtlich Eigentum des Kaisers.«

Der Prophet blickte mißbilligend auf die Hand an seinem Hemd hinab. Dann schlug er sie fort. »Finger weg von meinem Hemd, mein Freund. Eure Hände sind schmutzig.«

»Gleich sind sie voller Blut! Wer seid Ihr? Was ist Euer Beruf?«

Einer der anderen Männer setzte dem Propheten ein Messer an die Rippen. »Beantwortet Kommandant Mallacks Frage, oder Ihr sterbt. Was ist Euer Beruf?«

Der Prophet tat die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.

»Keiner, der Euch interessieren würde. Also, was wollt Ihr für die Sklavin? Ich bin in der Lage, ein hübsches Sümmchen zu bezahlen. Warum solltet Ihr Jungs nicht auch einen Gewinn herausschlagen? Ich mißgönne niemandem seinen Profit.«

»Wir haben alle Beute, die wir wollen. Man braucht hier doch bloß zuzugreifen.« Der Kommandant sah zu dem Mann hinüber, der Clarissa den Ring durch die Lippe gebohrt hatte. »Töte ihn.«

Der Prophet wehrte die Männer mit einer lässigen Handbewegung ab. »Ich will Euch nichts Böses, Jungs.« Er beugte sich ein wenig vor. »Vielleicht überlegt Ihr es Euch noch mal?«

Kommandant Mallack öffnete den Mund, doch dann zögerte er. Er brachte kein Wort hervor. Clarissa vernahm ein gequältes Grummeln, das aus den Eingeweiden der drei Männer stammte. Die Männer rissen die Augen auf.

»Was ist?« erkundigte sich der Prophet. »Alles in Ordnung? Also, was haltet Ihr von meinem Angebot, Männer? Wieviel wollt Ihr für sie?«

Die Gesichter der drei Männer verzerrten sich gequält. Clarissa roch einen üblen Gestank.

»Nun ja«, meinte Kommandant Mallack mit gepreßter Stimme. »Ich denke…« Er verzog das Gesicht. »Wir, ah, wir müssen gehen.«

Der Prophet verneigte sich. »Oh, vielen Dank, Männer. Also fort mit Euch. Und überbringt meinem Freund, dem Kaiser Jagang, meine Empfehlung.«

»Aber was wird aus ihm?« fragte einer der Männer den Kommandanten, während sie sich langsam davonschlichen.

»Nicht lange, und ein anderer kommt vorbei und tötet ihn«, antwortete der Kommandant, derweil alle drei krummbeinig zur Tür hinausschlurften.

Der Prophet wandte sich ihr zu. Sein Lächeln verschwand, als er sie mit seinem Habichtblick betrachtete.

»Nun, habt Ihr Euch mein Angebot noch einmal überlegt?«

Clarissa zitterte. Sie war sich nicht recht im klaren, wen sie mehr fürchten sollte, die Angreifer oder den Propheten. Die Männer würden ihr weh tun. Was der Prophet ihr antun würde, wußte sie nicht. Vielleicht erzählte er ihr, auf welche Weise sie sterben wird.

Er hatte ihr vorhergesagt, wie eine ganze Stadt sterben würde, und genau so war es gekommen. Sie befürchtete, daß er alles wahrmachen konnte, was er sagte. Propheten besaßen Magie.

»Wer seid Ihr?« fragte sie leise.

Er machte eine dramatische Verbeugung. »Nathan Rahl. Ich habe es Euch bereits erklärt, ich bin Prophet. Verzeiht, daß ich davon absah, mich vorzustellen, aber wir haben nicht gerade sehr viel Zeit.«

Seine stechend blauen Augen machten ihr angst, trotzdem zwang sie sich zu fragen: »Wozu wollt Ihr eine Sklavin?«

»Nun, nicht für denselben Zweck wie diese Kerle.«

»Ich möchte nicht –«

Er nahm ihren Arm und zog sie ans Fenster. »Seht hinaus. Schaut hin!«

Zum ersten Mal verlor sie die Kontrolle über ihre Tränen und ließ ihnen unter hoffnungslosem Schluchzen freien Lauf. »Gütiger Schöpfer…«

»Er wird nicht kommen und helfen. Niemand kann diesen Leuten jetzt noch helfen. Ich kann Euch retten, aber Ihr müßt Euch einverstanden erklären, mir im Gegenzug ebenfalls zu helfen. Ich werde mein Leben und das von Zehntausenden anderer nicht wegen Euch aufs Spiel setzen, wenn Ihr mir nicht von Nutzen seid. Eher werde ich mir eine andere Frau suchen, die mich lieber begleitet, als zur Sklavin dieser Bestien zu werden.«

Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ist es gefährlich?«

»Ja.«

»Sterbe ich, wenn ich Euch helfe?«

»Vielleicht. Vielleicht überlebt Ihr auch. Wenn Ihr sterbt, dann bei einer noblen Tat: bei dem Versuch, noch größeres Leid als dieses zu verhindern.«

»Könnt Ihr den Menschen nicht helfen? Könnt Ihr dem kein Ende machen?«

»Nein. Was geschieht, geschieht. Wir können bestenfalls danach trachten, die Zukunft zu gestalten – die Vergangenheit können wir nicht ändern.

Ihr habt eine gewisse Ahnung, welche Gefahren die Zukunft birgt. Ihr hattet hier einmal einen Propheten wohnen, der einige seiner Prophezeiungen aufgeschrieben hat. Er war kein bedeutender Prophet, trotzdem ließ er sie hier zurück, wo ihr Narren sie als Offenbarung des Göttlichen Willens betrachtet.

Das sind sie nicht. Es sind lediglich Worte, die eine Möglichkeit ausdrücken. Es steht in Eurer Macht, Euer Schicksal zu bestimmen. Ihr könnt bleiben und dieser Armee als Hure dienen, oder Ihr könnt Euer Leben aufs Spiel setzen und etwas tun, das sich lohnt getan zu werden.«

Sie zitterte unter dem kräftigen Zugriff seines Armes. »Ich … ich habe Angst.«

Seine tiefblauen Augen wurden sanfter. »Clarissa, würde es trösten, wenn ich Euch gestehe, daß ich ebenfalls ganz fürchterliche Angst habe?«

»Wirklich? Ihr wirkt so selbstsicher.«

»Sicher weiß ich nur eins: wie ich versuchen kann zu helfen. Und jetzt müssen wir in eure Archive gehen, bevor diese Kerle die Bücher zu Gesicht bekommen.«

Clarissa drehte sich um, froh über die Ausrede, sich seinem Blick zu entziehen. »Hier hinunter. Ich zeige Euch den Weg.«

Sie führte ihn die steinerne Wendeltreppe an der Rückseite des Zimmers hinunter. Die wurde nicht oft benutzt, weil sie schmal und beschwerlich zu begehen war. Der Prophet, der die Abtei entworfen hatte, war ein zierlicher Mann gewesen und hatte die Treppe seinen Bedürfnissen entsprechend angelegt. Daher war sie so schmal, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie dieser Prophet es schaffte, sie hinunterzusteigen. Aber es gelang ihm.

Auf dem dunklen Absatz unten entzündete er eine kleine Flamme in seiner Hand. Clarissa blieb erstaunt stehen und fragte sich, wieso er sich nicht die Hand versengte. Er drängte sie weiterzugehen. Eine niedrige Holztür führte zu einem kurzen Flur. Die Treppe in dessen Mitte führte weiter nach unten in die Archive. Durch die Tür am Ende des Flures kam man in den Hauptsaal der Abtei. Hinter dieser Tür wurden in diesem Augenblick Menschen ermordet.

Sie stieg die Treppe hinunter und nahm bei jedem Schritt zwei Stufen. Nathan bekam ihren Arm zu fassen, als sie ausrutschte, und verhinderte so, daß sie stürzte. Dies sei nicht die Gefahr, vor der er sie gewarnt hatte, scherzte er.

Unten in dem dunklen Raum streckte er eine Hand aus, und plötzlich entzündeten sich die an hölzernen Stützpfeilern hängenden Lampen. Die Stirn in Falten gelegt, ließ er den Blick prüfend über die Regale wandern, die die Wände des Raumes säumten. Zwei robuste Tische boten Platz zum Lesen und Schreiben.

Während er zu den Regalen links hinüberging, versuchte sie sich verzweifelt einen Ort zu überlegen, an dem sie sich vor den Soldaten der Imperialen Ordnung verbergen konnte. Irgendein Versteck mußte es doch geben. Früher oder später würden die Eroberer gewiß wieder abziehen, dann konnte sie wieder hervorkommen und wäre gerettet.

Sie fürchtete sich vor dem Propheten. Er erwartete etwas von ihr. Sie wußte nicht, was, bezweifelte jedoch, daß sie den Mut aufbringen würde, es zu tun. Sie wollte nichts weiter als ihre Ruhe.

Der Prophet schlenderte an den Regalen vorbei, blieb mal hier, mal dort stehen, um einen Band herauszunehmen. Er schlug die Bücher nicht auf, die er herauszog, sondern warf sie alle in der Mitte des Raumes auf den Boden und trat weiter zum nächsten Regal. Sämtliche Bücher, die er herauszog, enthielten Prophezeiungen. Er wählte längst nicht alle Bücher mit Prophezeiungen aus, aber die, die er herauszog, enthielten allesamt Prophezeiungen.

»Wieso ich?« fragte sie ihn, während sie ihm zusah. »Warum wollt Ihr gerade mich?«

Er hielt inne, den Finger auf einen schweren, in Leder gebundenen Band gelegt. Während er das Buch herauszog, sah er sie an wie ein Habicht eine Maus. Er trug es zu dem Haufen aus acht oder zehn Büchern hinüber, die bereits auf dem Fußboden lagen, legte es hin und nahm eins der anderen in die Hand.

Schließlich blieb er vor ihr stehen und blätterte darin.

»Hier. Lest das.«

Sie hob das schwere Buch aus seinen Händen und las die Stelle, auf die er zeigte:

Wenn sie aus freien Stücken geht, dann wird die Beringte in der Lage sein, das zu berühren, das lange nur den Winden allein anvertraut war.

Das lange nur den Winden allein anvertraut war. Die Unverständlichkeit der Worte weckte in ihr den Wunsch davon zurennen.

»Die Beringte«, sagte sie. »Bin ich damit gemeint?«

»Wenn Ihr Euch entscheidet, aus freien Stücken zu gehen.«

»Und wenn ich mich entscheide, hierzubleiben und mich zu verstecken? Was dann?«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Dann werde ich mir eine andere Frau suchen, die fliehen will. Ich habe Euch dieses Angebot zuerst gemacht, weil ich meine Gründe dafür hatte. Außerdem könnt Ihr lesen. Es gibt mit Sicherheit noch andere, die lesen können. Wenn es sein muß, werde ich eine andere finden.«

»Was ist das, das die ›Beringte‹ berühren kann?«

Er riß ihr das Buch aus den zitternden Händen und klappte es zu. »Versucht nicht zu verstehen, was die Worte bedeuten. Ich weiß, daß Ihr das hier versucht, aber ich bin ein Prophet, und ich kann Euch mit großem Nachdruck versichern, daß ein solches Unterfangen vollkommen sinnlos wäre. Ganz gleich, was Ihr Euch denkt und wovor Ihr Euch fürchtet, Ihr werdet einem Irrtum aufsitzen.«

Ihre Entschlossenheit, mit ihm fortzugehen, ließ nach. Trotz seiner scheinbaren Freundlichkeit oben im Turm, als er sie gerettet hatte, machte ihr der Prophet angst. Vor einem Mann, der solche Dinge wußte wie er, mußte man sich ja fürchten.

Sie erschrak, als er ihren Namen aussprach.

»Clarissa«, wiederholte er. »Geht und holt ein paar von den Soldaten her. Erklärt ihnen, daß Ihr den Auftrag habt, sie zu den Archiven unten zu führen.«

»Warum? Warum wollt Ihr, daß ich sie holen gehe?«

»Tut, was ich sage. Erklärt ihnen, Kommandant Mallack habe gesagt, Ihr sollt sie zu den Büchern führen. Falls es Schwierigkeiten gibt, erklärt ihnen, er habe noch hinzugefügt, sie ›sollen ihren armseligen Hintern sofort zu den Büchern runterschaffen, oder der Traumwandler wird ihnen einen Besuch abstatten, den sie noch bedauern werden!‹«

»Aber wenn ich dort hinaufgehe…«

Sie ließ den Satz unbeendet, als er sie fest ansah. »Falls Ihr Schwierigkeiten habt, dann sagt ihnen diese Worte, und Ihr werdet zurechtkommen. Bringt sie hierher.«

Sie öffnete den Mund, um zu fragen, warum er wollte, daß sie zu den Büchern herunterkämen, doch angesichts seiner Miene schwieg sie. Sie lief die Treppe hoch, froh, von dem Propheten fort zu sein, auch wenn sie sich darüber im klaren war, daß sie diesen brutalen Kerlen gegenübertreten mußte.

Vor der Tür zum großen Saal zögerte sie. Sie konnte fliehen. Doch der Abt hatte ihr denselben Vorschlag gemacht, fiel ihr ein, und den hatte sie für töricht gehalten. Es gab keinen Ort, wo man sich hätte verbergen können. Sie hatte einen silbernen Ring, vielleicht war der zu irgend etwas gut. Diese Männer maßen ihr wenigstens so viel Wert bei.

Sie öffnete die Tür und machte einen Schritt, doch dann blieb sie bei dem Anblick, der sie begrüßte, stehen und riß die Augen auf. Die Doppeltür zur Straße hin war zersplittert. Der Fußboden war mit Leichen von Männern übersät, die in die Abtei geflohen waren, um dort Schutz zu suchen.

Der große Saal war zum Bersten mit Eroberern gefüllt. Zwischen den blutigen Toten wurden Frauen vergewaltigt. Clarissa stand offenen Mundes da wie zu Eis erstarrt und gaffte.

Männer standen in Gruppen zusammen und warteten darauf, daß sie an die Reihe kämen. Die größten Gruppen warteten auf die Frauen mit den Goldringen. Was diesen Frauen angetan wurde, trieb Clarissa den Mageninhalt hoch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und zwang sich, ihn hinunterzuschlucken.

Wie gebannt stand sie da, unfähig, den Blick von der nackten Manda Perlin abzuwenden, einer jener jungen Frauen, die sie oft gequält hatte. Manda hatte einen reichen Mann mittleren Alters geheiratet, der Geld verlieh und in Frachtgut investierte. Ihr Mann, Rupert Perlin, lag gleich daneben. Man hatte ihm die Kehle mit solcher Wucht aufgeschlitzt, daß ihm der Kopf fast vom Körper getrennt worden war.

Manda winselte in Todesangst, während die brutalen Kerle sie zu Boden drückten. Sie grölten vor Lachen über ihr Gewinsele, waren in all dem Lärm jedoch kaum zu hören. Clarissa spürte, wie ihr die Tränen kamen. Das waren keine Menschen. Das waren wilde Tiere.

Ein Kerl packte Clarissa bei den Haaren. Ein anderer hakte ihr einen Arm ums Bein. Sie lachten, als ihr Schrei sich unter den der anderen mischte. Sie lag noch nicht ganz auf dem Rücken, da hatte man ihr den Rock schon hochgeschoben.

»Nein!« schrie sie.

Sie lachten sie genauso aus, so wie die anderen Kerle Manda auslachten.

»Nein – man hat mich geschickt!«

»Gut«, erwiderte einer der Männer. »Ich war es leid zu warten, bis ich an der Reihe bin.«

Er versetzte ihr einen Schlag, als sie versuchte, seine Hände abzuwehren. Der Schmerz des deftigen Hiebs lähmte sie, daß ihr die Ohren summten.

Sie hatte einen silbernen Ring. Das mußte doch etwas bedeuten. Sie hatte einen silbernen Ring.

Keine zwei Fuß entfernt hörte sie eine Frau ächzen, als sich ein Mann auf ihren Rücken warf. Ihr hatte der Silberring auch nichts genützt.

»Mallack!« schrie Clarissa. »Kommandant Mallack hat mich geschickt!«

Der Kerl krallte ihr eine Faust ins Haar und drückte ihr einen dreckigen, stacheligen Kuß auf die Lippen. Die Ringwunde in ihrer Lippe brannte vor Schmerz, und sie spürte, wie ihr das Blut erneut in Strömen über das Kinn rann.

»Meinen Dank an Kommandant Mallack«, sagte er. Er biß ihr ins Ohr und entlockte ihr damit erneut einen Schrei, während der andere Kerl ihre Unterwäsche begrapschte. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, was der Prophet ihr zu sagen aufgetragen hatte.

»Eine Nachricht!« stieß sie hervor. »Kommandant Mallack hat mich mit einer Nachricht hergeschickt. Er sagte, ich soll Euch nach unten zu den Büchern bringen. Ich soll Euch sagen, Ihr sollt Euren jämmerlichen Hintern sofort nach unten zu den Büchern schaffen, sonst würde Euch der Traumwandler einen Besuch abstatten, den Ihr noch bedauern würdet.«

Die Männer stießen deftige Flüche aus, dann rissen sie sie an den Haaren auf die Beine. Sie strich ihr Kleid mit zitternden Händen glatt. Das halbe Dutzend Männer, das um sie herumstand, lachte. Einer schob ihr wieder eine Hand zwischen die Beine.

»Na los, steh nicht einfach rum und vergnüge dich, Miststück. Geh schon. Zeig uns den Weg.«

Ihre Beine besaßen gerade noch so viel Kraft wie ein nasses Tau, und sie mußte sich den ganzen Weg die Treppe hinunter am Geländer festhalten. Während sie das halbe Dutzend Männer zu den Archiven hinunterführte, konnte sie die Bilder dessen, was sie soeben gesehen hatte, nicht aus ihrem Kopf verbannen.

Der Prophet empfing sie an der Tür, als sei er gerade im Begriff zu gehen.

»Da seid Ihr ja. Wurde auch langsam Zeit«, sagte er mit gereizter Stimme. Er deutete mit einer Handbewegung nach hinten in den Raum. »Alles in Ordnung. Fangt an, sie einzupacken, bevor etwas dazwischenkommt, oder der Kaiser macht aus uns allen Feuerholz.«

Die Männer runzelten verwirrt die Stirn. Sie sahen sich flüchtig um. In der Mitte, wo Clarissa den Propheten die Bücher hatte stapeln sehen, die er den Regalen entnommen hatte, befand sich nur noch ein weißer Aschefleck. Die Lücken, dort, wo er die Bände herausgezogen hatte, waren wieder geschlossen worden.

»Ich rieche Rauch«, sagte einer der Männer.

Der Prophet verpaßte dem Kerl einen Schlag auf den Schädel. »Idiot! Die halbe Stadt steht in Flammen, und du riechst endlich Rauch? Los jetzt, an die Arbeit! Ich muß über die Bücher, die ich gefunden habe, Bericht erstatten.«

Einer von ihnen hielt Clarissa am Arm fest, als der Prophet sie nach draußen führen wollte. »Laßt sie hier. Wir werden ein wenig Zerstreuung brauchen.«

Der Prophet funkelte die Männer wütend an. »Sie ist eine Schreiberin, du Narr! Sie kennt sämtliche Bücher. Wir haben wichtigere Aufgaben für sie, als euch faule Einfaltspinsel zu unterhalten. Wenn ihr mit eurer Arbeit fertig seid, gibt es Frauen genug. Oder wäre es euch lieber, wenn ich euch Kommandant Mallack melde?«

Nathans Rolle verwirrte die Soldaten zwar nach wie vor, trotzdem beschlossen sie, sich an die Arbeit zu machen. Der Prophet schloß hinter sich die Tür. Er schob Clarissa vor sich her.

Auf der Treppe, wo sie mit ihm in der Stille allein war, blieb sie stehen und lehnte sich an das Geländer, um sich abzustützen. Ihr war schwindlig und übel. Er berührte ihre Wange mit den Fingern.

»Hört zu, Clarissa. Ganz ruhig durchatmen. Denkt nach. Setzt Euch hin, sonst verliert Ihr das Bewußtsein.«

Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie deutete auf den Saal, wo sie die Männer abgeholt hatte. »Ich … ich habe gesehen, wie…«

»Ich weiß, was Ihr gesehen habt«, antwortete er fast zärtlich.

Sie gab ihm eine Ohrfeige. »Wieso habt Ihr mich dort raufgeschickt? Ihr braucht diese Männer doch gar nicht!«

»Ihr glaubt, Ihr könnt Euch verstecken. Das könnt Ihr nicht. Sie werden jedes Loch in dieser Stadt durchsuchen. Wenn sie damit fertig sind, werden sie alles bis auf die Grundmauern niederbrennen. Von Renwold wird nichts übrigbleiben.«

»Aber ich … ich könnte … ich habe Angst, mit Euch zu gehen. Ich will nicht sterben.«

»Ihr solltet nur wissen, was geschieht, wenn Ihr Euch entschließt hierzubleiben. Clarissa, Ihr seid eine hübsche, junge Frau.« Er deutete mit dem Kinn auf den großen Saal. »Glaubt mir, Ihr wollt nicht hierbleiben und erfahren, was all diese Frauen während der nächsten drei Tage und später als Sklaven der Imperialen Ordnung zu erleiden haben. Bitte glaubt mir, das wollt Ihr ganz sicher nicht.«

»Wie können sie so etwas nur tun? Wie bringen sie das fertig?«

»Das ist die unaussprechliche Wirklichkeit des Krieges. Es gibt keine Verhaltensregeln außer denen, die der Aggressor aufstellt oder die der Sieger durchsetzen kann. Man kann sich dem entweder aussetzen, oder man kämpft dagegen.«

»Könnt … könnt Ihr nichts tun, um diesen Menschen zu helfen?«

»Nein«, erwiderte er leise. »Ich kann nur Euch helfen, aber ich werde keine wertvolle Zeit darauf verschwenden, es sei denn, Ihr seid es wert, gerettet zu werden. Die Opfer sind einen schnellen Tod gestorben. So fürchterlich er auch war, er trat rasch ein.

Gewaltigen Menschenmengen, einem Vielfachen der Menschen, die hier in dieser Stadt gelebt haben, droht ein grausamer, qualvoller, langsamer Tod. Ich kann diesen Menschen hier nicht helfen, aber ich kann versuchen, jenen anderen zu helfen. Lohnt es sich, frei zu sein, ist das Leben lebenswert, wenn ich es nicht versuche?

Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem Ihr Euch entscheiden müßt, ob Ihr helfen wollt, ob Euer Leben lebenswert ist, ob Eure Seele, das Geschenk des Schöpfers, dies wert ist.«

Bilder dessen, was sich oben im großen Saal und draußen auf den Straßen abspielte, was der ganzen Stadt angetan wurde, schossen ihr durch den Kopf. Sie fühlte sich, als wäre sie bereits tot. Wenn ihr die Gelegenheit geboten wurde, anderen zu helfen und ein neues Leben anzufangen, dann mußte sie sie ergreifen. Dies war die einzige Chance, die sie bekommen würde. Das wußte sie. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schließlich auch das Blut vom Kinn. »Ja, ich werde Euch helfen. Ich schwöre bei meiner Seele, daß ich tun werde, was Ihr verlangt, wenn es eine Chance bedeutet, Leben zu retten, eine Chance, frei zu sein.«

»Selbst wenn ich etwas von Euch verlange, vor dem Ihr Euch fürchtet? Selbst wenn Ihr glaubt, Ihr werdet dabei sterben?«

»Ja.«

Als sie sein warmes Lächeln sah, wurde ihr leichter ums Herz. Überraschend zog er sie an sich und nahm sie tröstend in den Arm. Sie begann abermals zu weinen.

Nathan legte ihr den Finger auf die Lippen, und sie verspürte das warme Gefühl, daß jemand zu ihr hielt. Die Erinnerung an das Gesehene verlieh ihr die Entschlossenheit, diesen Verbrechern Einhalt zu gebieten und sie daran zu hindern, andere mit gleichen Greueltaten heimzusuchen. Ihre Gedanken waren von der Hoffnung erfüllt, etwas Bedeutsames tun zu können, das auch anderen Menschen die Freiheit bringen würde.

Clarissa betastete ihre Lippe, nachdem Nathan seine Hand zurückgezogen hatte. Sie pochte nicht mehr. Die Wunde um den Ring war verheilt.

»Danke – Prophet.«

»Nathan.« Er strich ihr übers Haar. »Wir müssen gehen. Je länger wir bleiben, desto größer die Gefahr, daß wir nicht mehr entkommen.«

Clarissa nickte. »Ich bin bereit.«

»Noch nicht.« Er nahm ihre Wangen in seine großen Hände. »Wir müssen durch die Stadt gehen, durch die ganze Stadt, um von hier zu fliehen. Ihr habt schon zuviel gesehen. Ich möchte nicht, daß Ihr noch mehr seht oder hört. Wenigstens das will ich Euch ersparen.«

»Aber ich verstehe nicht, wie wir jemals an der Imperialen Ordnung vorbeikommen sollen.«

»Das laßt nur meine Sorge sein. Erst einmal werde ich Euch mit einem Bann belegen. Ihr werdet blind sein, damit Ihr nicht noch mehr von dem Leiden und Sterben seht, das Eure Stadt über sich ergehen lassen muß, und Ihr werdet taub sein, damit Ihr auch nichts davon hört.«

Vermutlich hatte er Angst, sie könnte in Panik geraten und sich verraten. Sie wußte nicht, daß er sich damit vielleicht irrte.

»Wenn Ihr meint, Nathan. Ich werde tun, was Ihr verlangt.«

Er stand dort im Dämmerlicht, zwei Stufen unter ihr, damit sein Gesicht sich auf gleicher Höhe mit ihrem befand, und lächelte sie voller Wärme an. Denn so alt er war, er war ein auffallend gutaussehender Mann.

»Ich habe die richtige Frau ausgewählt. Ihr werdet Eure Sache gut machen. Ich bete, daß die Guten Seelen Euch für Eure Hilfe die Freiheit schenken.«

Sie hielt im Gehen seine Hand, und das war ihre einzige Verbindung mit der Welt. Sie konnte das Gemetzel nicht sehen. Sie konnte die Schreie nicht hören. Sie konnte die Feuer nicht riechen. Und doch wußte sie, daß diese Dinge rings um sie geschahen.

In ihrer Welt des Schweigens betete sie im Gehen, sie betete, daß die Guten Seelen für diejenigen sorgten, die an diesem Tag gestorben waren, und für die, die noch lebten, erflehte sie von den Guten Seelen Kraft.

Er lenkte sie um Trümmer herum und um die Hitze der Brände. Er hielt ihre Hand fest, wenn sie über Geröll stolperte. Stundenlang, endlos schienen sie durch die Ruinen dieser Stadt zu laufen.

Gelegentlich blieben sie stehen, und sie verlor den Kontakt zu seiner Hand, während sie still und alleine in ihrer Welt der Stille stand. Sie konnte weder sehen noch hören, daher kannte sie den genauen Grund für den Halt nicht, sie vermutete jedoch, daß Nathan gezwungen war, sich herauszureden. Manchmal schien ein solcher Halt kein Ende zu nehmen, und ihr Herz raste bei dem Gedanken an die unsichtbaren Gefahren, die Nathan vielleicht gerade abwendete. Manchmal legte er ihr dann plötzlich den Arm um die Hüfte und drängte sie zum Rennen.

Sie fühlte sich in seiner Obhut sicher und auch ermutigt.

Ihre Hüftgelenke schmerzten vom Gehen, und ihre müden Füße pochten. Schließlich legte er ihr beide Hände auf die Schultern, drehte sie herum und half ihr sich zu setzen. Sie spürte kühles Gras unter sich.

Plötzlich kehrte ihr Sehvermögen zurück, zusammen mit ihrem Gehör und dem Geruchssinn.

Vor ihr breiteten sich weite, niedrige grüne Hügel aus. Sie blickte sich um und sah nur Landschaft. Nirgendwo waren Menschen. Die Stadt Renwold war nicht zu entdecken.

Sie faßte Mut und gab sich dem aufkeimenden warmen Gefühl der Erleichterung darüber hin, daß sie nicht nur dem Gemetzel entronnen war, sondern auch ihrem alten Leben.

Das Grauen hatte sich so tief in ihre Seele eingebrannt, daß sie glaubte, in einem Glutofen der Angst neu geformt worden zu sein, und herausgekommen war ein neuer, glänzender Barren, der gehärtet war für das, was vor ihnen lag.

Was immer ihr bevorstand, es konnte nicht schlimmer sein als das, was ihr bevorgestanden hätte, wäre sie geblieben. Hätte sie sich entschieden zu bleiben, wäre das eine Abkehr davon gewesen, anderen und sich selbst zu helfen.

Sie wußte nicht, was er von ihr verlangen würde, aber jeder Tag in Freiheit war ein Tag, den sie ohne den Propheten nicht erlebt hätte. »Danke, Nathan, daß Ihr mich ausgesucht habt.« Er blickte gedankenversunken in die Ferne und schien sie nicht zu hören.

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