Inmitten des warmen Farbenwirbels hörte Zedd, wie Ann seinen Namen rief. Ihr Einwand schien von ganz weit her zu kommen, dabei stand sie nur ein kurzes Stück entfernt. Im Fluß der Kraft auf seinem Zaubererfelsen hätte er ebensogut einer anderen Welt entstammen können.
In mancherlei Hinsicht war es auch so.
Ihre Stimme ertönte erneut, störend, beharrlich, drängend. Zedd ignorierte sie so gut wie völlig, während er seinen Arm in das rauchige Licht hob. Die Gestalten vor ihm deuteten behutsam darauf hin, daß ihre Daseinsform die von Seelen war. Er war fast fertig.
Plötzlich begann die Wand aus Kraft in sich zusammenzusinken. Die Ärmel seines Gewandes rutschten herab, während Zedd seine gekrümmten Hände höher in den Himmel reckte und mit aller Gewalt versuchte, mehr Macht in das Feld aus Magie zu zwingen, es zu stabilisieren. Wie von Sinnen zog er einen Eimer aus dem Brunnen hoch, nur um festzustellen, daß er leer war.
Farbige Funken knisterten. Der kreisende Lichtwirbel bildete sich zurück zu einem trüben bunten Glänzen. Mit wachsender Geschwindigkeit fiel er, kraftlos erlahmend, in sich zusammen.
Zedd war sprachlos.
Mit einem dumpfen Schlag, der den Erdboden erzittern ließ, erlosch die gesamte mühevoll erzeugte Verwerfung in der Welt des Seins.
Zedds Arme kreisten wie Windmühlen, als Ann seinen Kragen packte und ihn vom Zaubererfelsen herunterzog. Rückwärts torkelnd warf er sie beide zu Boden.
Seiner beseelenden Magie beraubt, fiel auch der Fels in sich zusammen. Zedd hatte nichts dazu beigetragen. Sein Zaubererfelsen war aus eigenen Stücken in seinen leblosen Zustand zurückgekehrt. Jetzt war er endgültig verwirrt.
»Verdammt, Frau! Was hat das zu bedeuten!«
»Wage nicht, mich anzufluchen, widerborstiger alter Mann. Ich weiß nicht, wieso ich mir überhaupt die Mühe mache, deine alte, faltige Haut zu retten.«
»Wieso hast du dich eingemischt? Ich war fast fertig!«
»Ich habe mich nicht eingemischt«, knurrte sie.
»Aber wenn du es nicht warst« – Zedd warf einen verstohlenen Blick hinüber zu den dunklen Hügeln. »Soll das etwa heißen …?«
»Plötzlich hatte ich die Verbindung zu meinem Han verloren. Ich wollte dich warnen, nicht stören.«
»Oh«, meinte Zedd kleinlaut. »Das ist etwas völlig anderes.« Er hob seinen Zaubererfelsen vom Boden auf. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Er ließ den Felsen in eine Innentasche gleiten.
Ann suchte die Dunkelheit ab. »Konntest du irgend etwas herausfinden, bevor du die Verbindung verloren hast?«
»Ich hatte die Verbindung noch gar nicht aufgenommen.«
Sie sah ihn an. »Du hattest … was soll das heißen, du hattest die Verbindung noch gar nicht aufgenommen? Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?«
»Ich habe es versucht«, sagte er und griff nach der Decke. »Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte. Ich konnte nicht hindurchgreifen. Hol deine Sachen. Wir sollten von hier verschwinden.«
Ann nahm eine Satteltasche vom Boden auf und ging daran, ihre Sachen hineinzustopfen. »Zedd«, meinte sie besorgt, »wir hatten uns darauf verlassen. Jetzt, wo du versagt hast –«
»Ich habe nicht versagt«, fauchte er zurück. »Auf keinen Fall war es mein Fehler, daß es nicht funktioniert hat.«
Sie schlug seine Hände fort, als er sie zu ihrem Pferd bugsieren wollte. »Wieso hat es nicht funktioniert?«
»Wegen der roten Monde.«
Sie drehte sich um und starrte ihn an. »Du meinst…«
»Ich mache das nicht oft, und schon gar nicht leichtfertig. In meinem ganzen Leben habe ich nur einige wenige Male Verbindung mit der Welt der Seelen aufgenommen. Als mein Vater mir den Felsen schenkte, warnte er mich, man dürfe ihn nur im äußersten Notfall benutzen. Während einer solchen Kontaktaufnahme besteht die Gefahr, die falschen Seelen durchzulassen, oder schlimmer, den Schleier zu zerreißen. Wenn ich früher Schwierigkeiten hatte, die Verbindung herzustellen, lag das an einer solchen Nichtübereinstimmung. Die roten Monde stellen so etwas wie eine Warnung vor einer Nichtübereinstimmung dar.«
»Bald werden wir gar nichts mehr versuchen können.« Sie befreite ihren Arm mit einem Ruck aus seinem Griff. »Was ist in dich gefahren?«
Zedd brummte. »Was hast du damit gemeint, du könntest dein Han nicht berühren?«
Ann strich über die Flanke ihres Pferdes und gab ihm damit zu verstehen, daß sie gleich neben seinem Hinterteil stand. Das Pferd scharrte mit einem Vorderhuf und wieherte.
»Während du auf dem Felsen standest, habe ich Spürnetze ausgeworfen, um zu überprüfen, ob jemand in der Nähe ist. Schließlich befinden wir uns in der Wildnis, und du hast mit all dem Licht einen ziemlichen Wirbel veranstaltet. Dann wollte ich mein Han berühren, aber plötzlich war mir, als fiele ich auf mein Gesicht.«
Zedd ließ seine Hand vorschnellen und warf ein einfaches Netz aus, um einen faustgroßen Stein umzudrehen, der vor seinen Füßen lag. Nichts geschah. Der Versuch glich dem Gefühl, sich anzulehnen, nur um zu spät festzustellen, daß dort nichts Halt bot. Als falle man auf die Nase.
Zedd entnahm einer seiner Innentaschen eine Prise Tarnpulver. Er schleuderte es in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der leichte Wind wehte es davon. Es glitzerte nicht.
»Wir stecken in ernsthaften Schwierigkeiten«, flüsterte er.
Sie drängte sich an ihn. »Würde es dir etwas ausmachen, dich ein wenig klarer auszudrücken?«
»Laß die Pferde stehen.« Er ergriff abermals ihren Arm. »Komm.«
Diesmal protestierte sie nicht, und so führte er sie im Laufschritt davon. »Was ist denn, Zedd?« fragte sie leise.
»Wir befinden uns in der Wildnis.« Er blieb stehen, reckte die Nase in die Luft und schnupperte. »Ich tippe auf Nangtong.« Er deutete im schwachen Mondlicht nach vorne. »Dort unten, in der Schlucht. Wir dürfen um nichts in der Welt gesehen werden. Vielleicht müssen wir uns trennen und in verschiedene Richtungen fliehen.«
Zedd hielt ihren Arm und stützte sie, als sie auf dem taufeuchten Gras und dem nassen Schlamm der steilen Böschung ausrutschte.
»Wer sind die Nangtong?«
Zedd war zuerst unten. Er legte ihr die Hände auf die breiten Hüften und half ihr herunter. Ihre Beine waren kurz, und sie hatte nicht die gleiche Schrittlänge wie er. Da er keine Magie zur Hilfe nahm, hätte ihr Gewicht ihn fast umgeworfen. Mit einer Hand bekam sie das ineinander verschlungene Geflecht eines Klettenstrauchs zu fassen und fand wieder Halt.
»Die Nangtong«, erklärte Zedd leise, »sind ein Stamm aus der Wildnis. Sie haben ihre ganz eigene Magie. Genaugenommen können sie im Gegensatz zu uns mit ihrer Magie nichts Bestimmtes bewirken, statt dessen rauben sie damit der Magie anderer einfach deren Kraft. Etwa vergleichbar dem Regen, der auf ein Lagerfeuer fällt.
Das ist das Problem mit der Wildnis. Dort lebt eine Reihe von Stämmen, die dafür sorgen können, daß die seltsamsten Dinge schiefgehen, wenn man seine Magie einsetzt. Darüber hinaus existieren hier Geschöpfe und Orte, die auf ganz unerwartete Weise Schwierigkeiten bereiten. Am besten macht man einen großen Bogen um die Wildnis.
Deshalb beunruhigte es mich so, als Verna uns erklärte – nachdem Nathan gemeint hatte, wir müßten den Schatz der Jocopo suchen –, diese hätten damals in der Wildnis gelebt. Ebensogut hätte Nathan von uns verlangen können, in ein lichterloh brennendes Feuer zu greifen und eine glühende Kohle herauszuholen. In der Wildnis lauern überall Gefahren: die Nangtong sind nur eine davon.«
»Und wie kommst du darauf, die Nangtong seien der Stamm, der die Schwierigkeiten mit unserer Magie verursacht?«
»Bei den meisten Stämmen aus der Wildnis, die diese Fähigkeit haben, entziehen sie der Magie die Kraft. Mein Tarnstaub hätte jedoch trotzdem funktioniert. Aber das ist nicht der Fall. Ich kenne außer den Nangtong niemanden, der dazu imstande wäre.«
Ann breitete die Arme aus, um ihr Gleichgewicht zu halten und nicht auszurutschen, während sie hinter ihm über einen umgestürzten Baumstamm kletterte. Der Mond verschwand hinter Wolken. Zedd freute sich, daß es wieder dunkel wurde, denn dadurch konnte man leichter ungesehen bleiben, auch wenn man nicht sah, wohin man trat. Allerdings wären sie in beiden Fällen tot, ob sie nun stürzten und sich das Genick brachen oder von vergifteten Pfeilen oder Speerspitzen durchbohrt wurden.
»Vielleicht können wir ihnen irgendwie zu verstehen geben, daß wir nichts Böses im Schilde führen«, schlug Ann leise von hinten vor. Sie schnappte nach seinem Gewand, um ihm in der Dunkelheit folgen zu können, während er hastig über die flache Uferböschung kletterte. »Ständig prahlst du und verlangst, ich solle dir das Reden überlassen, man möchte meinen, du hättest eine magische, honigsüße Zunge, wenn man dich so reden hört. Wieso erklärst du diesen Nangtong nicht einfach, wir seien auf der Suche nach den Jocopo und wüßten ihre Hilfe sehr zu schätzen? Viele Menschen, die im ersten Moment schwierig wirken, erweisen sich als ganz vernünftig, sobald man mit ihnen spricht.«
Er drehte seinen Kopf nach hinten, damit er seine Stimme gesenkt halten und sie ihn trotzdem verstehen konnte.
»Schon richtig, bloß spreche ich ihre Sprache nicht, daher kann ich sie schlecht für uns gewinnen.«
»Wenn diese Leute so gefährlich sind und du das wußtest, wieso warst du dann so töricht, uns mitten unter sie zu führen?«
»Hab ich nicht. Ich habe einen weiten Bogen um ihr Gebiet geschlagen.«
»Das sagst du. Es hat ganz den Anschein, als hättest du uns in die Irre geführt.«
»Nein, die Nangtong sind Halbnomaden. Sie haben kein fest umrissenes Stammland, bleiben aber in ihren Heimatgebieten. Und die habe ich umgangen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Jagdgesellschaft für die Seelen.«
»Eine was?«
Zedd blieb stehen, ging tief in die Hocke und betrachtete das Gelände. Im schwachen Licht war niemand zu erkennen, und nur vage konnte er den schwachen Geruch von fremdem Schweiß ausmachen. Gut möglich, daß der Wind ihn über Meilen herangetragen hatte.
»Eine Jagdgesellschaft für die Seelen«, wiederholte er, seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr bringend. »Das ist eine lange Geschichte, aber es läuft darauf hinaus, daß sie der Welt der Seelen Opfer darbringen.
Sie glauben, eine frisch von ihnen gegangene Seele gibt ihre Ehrerbietung und ihre Bitten an die Ahnenseelen weiter und stimmt sie auf diese Weise günstig. Diese Jagdgesellschaften jagen Lebewesen, die man opfern kann.«
»Auch Menschen?«
»Das passiert gelegentlich. Vorausgesetzt, sie kommen damit ungeschoren davon. Sobald sie auf Widerstand stoßen, sind sie nicht gerade tapfer – sie laufen lieber weg, als sich zu schlagen – aber Schwache oder Wehrlose greifen sie sich gerne.«
»Im Namen der Schöpfung, was sind diese Midlands bloß für ein Ort, wo man Menschen so etwas durchgehen läßt? Ich habe euch für zivilisierter gehalten. Ich dachte, ihr hättet diesen Bund, der dafür sorgt, daß alle in den Midlands um das Gemeinwohl bemüht sind.«
»Die Konfessoren kommen hierher und versuchen dafür zu sorgen, daß die Nangtong keine Menschen töten, leider ist die Gegend etwas abgelegen. Sobald ein Konfessor erscheint, geben sich die Nangtong unterwürfig. Seine Magie gehört zu den wenigen, auf die die Kraft der Nangtong keinen Einfluß hat. Gut möglich, daß die Kraft eines Konfessors sich deswegen nicht beeinflussen läßt, weil sie ein Element des Subtraktiven enthält.«
»Warum laßt ihr Narren diesen Leuten ihren Willen, wenn ihr wißt, zu was sie fähig sind?«
Zedd sah sie im Dunkeln verärgert an. »Der Bund der Midlands wurde teilweise deswegen gegründet, weil man Menschen mit Magie, die von mächtigeren Ländern überrannt wurden, schützen wollte.«
»Sie besitzen keine Magie. Du hast selbst gesagt, sie können mit ihrer Magie nichts bewirken.«
»Sie heben Magie auf und nehmen ihr die Kraft. Demnach besitzen sie Magie. Menschen ohne Magie wären dazu nicht fähig. Das ist die Art dieser Menschen, sich zu verteidigen. Gewissermaßen sind das die Zähne, mit denen sie sich gegen die Besitzer mächtiger Magie wehren, die sie unterjochen oder ausrotten wollen.
Wir lassen den Menschen und Geschöpfen mit Magie ihren Frieden. Sie haben alle die gleiche Daseinsberechtigung wie wir. Wir versuchen jedoch dafür zu sorgen, daß sie keine Unschuldigen töten. Möglicherweise sind uns nicht alle Formen der Magie recht, aber wir halten nicht viel davon, Geschöpfe des Schöpfers auszumerzen, nur um eine Welt nach den Ideen dessen zu erschaffen, der die meiste Macht besitzt.«
Sie schwieg, also fuhr er fort. »Es gibt Geschöpfe, die gefährlich werden können, wie zum Beispiel der Gar, trotzdem ziehen wir nicht los und töten alle Gars. Statt dessen lassen wir sie in Frieden, lassen ihnen ihr eigenes Leben, wie vom Schöpfer beabsichtigt. Es steht uns nicht zu, die Weisheit der Schöpfung in Frage zu stellen.
Die Nangtong reagieren sehr zurückhaltend, sobald sie auf Widerstand stoßen, wenn sie jedoch glauben, die Oberhand behalten zu können, werden sie zur tödlichen Gefahr. Sie sind so etwas wie Aasfresser – wie Geier, Wölfe oder Bären. Diese Geschöpfe auszumerzen wäre nicht gerecht. Sie haben ihren Platz in der Welt.«
Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an seines heran, um ihrer Ungehaltenheit Ausdruck verleihen zu können, ohne loszubrüllen. »Und welche Rolle spielen die Nangtong?«
»Ich bin nicht der Schöpfer, Ann. Ich diskutiere auch nicht mit ihm über seine Entscheidungen bei der Schöpfung von Lebensformen und Magie. Dennoch besitze ich genügend Ehrfurcht, um einzuräumen, daß er vielleicht einen Grund hatte und es mir nicht zusteht, darüber zu urteilen, ob er sich geirrt hat oder nicht. Das wäre äußerst anmaßend.
In den Midlands gestehen wir allen Lebensformen ihre Daseinsberechtigung zu, und wenn sie gefährlich sind, halten wir uns einfach von ihnen fern. Ausgerechnet du mit deinen dogmatischen Lehren über deine Version des Schöpfers solltest in der Lage sein, dich mit dieser Sichtweise anzufreunden.«
Anns Worte, obwohl geflüstert, wurden hitzig. »Es ist unsere Pflicht, Heiden wie diesen den Respekt vor den anderen Geschöpfen des Schöpfers beizubringen.«
»Erzähl das dem Wolf oder dem Bären.«
Ihr Knurren hätte gleichermaßen vom einen wie vom anderen der beiden Raubtiere stammen können.
»Die Aufgabe von Magierinnen und Zauberern ist es, Hüter der Magie zu sein, sie zu beschützen, so wie ein Elternteil sein Kind beschützt«, dozierte Zedd. »Die Entscheidung, welches eine Daseinsberechtigung hat, welches des Lebens würdig ist, steht uns nicht zu.
Im Gegensatz dazu hält Jagang die Magie insgesamt für gefährlich und glaubt, man sollte uns zum Wohl aller vernichten. Du scheinst es mit dem Kaiser zu halten.«
»Schlägst du etwa nicht nach einer Biene, wenn sie dich sticht?«
»Ich habe nicht gesagt, daß wir uns nicht verteidigen sollen.«
»Wieso habt ihr euch dann nicht verteidigt und diese Bedrohungen ausgeschaltet? Im Krieg mit Darken Rahls Vater, Panis Rahl, wurdest du von deinem eigenen Volk der Wind des Todes genannt. Damals wußtest du noch, wie man eine Bedrohung ausmerzt.«
»Ich habe getan, was ich tun mußte, um Unschuldige zu beschützen, die ansonsten abgeschlachtet worden wären – die bereits abgeschlachtet wurden. Gegen Jagang werde ich dasselbe tun, falls es notwendig wird. Die Nangtong rechtfertigen nicht, daß man sie ausrottet. Sie wollen niemanden durch Mord, Folter und Versklavung beherrschen. Aus ihren Vorstellungen ergibt sich nur dann ein Unheil, wenn wir so unvorsichtig sind, uns ungebeten einzumischen.«
»Sie sind gefährlich. Ihr hättet niemals zulassen dürfen, daß die Gefährdung durch sie weiterbesteht.«
Er hob belehrend den Zeigefinger. »Und warum hast du Nathan nicht getötet, um die Bedrohung, die er darstellt, zu beseitigen?«
»Willst du Nathan etwa mit Leuten auf die gleiche Stufe stellen, die ihren heidnischen Vorstellungen Menschen opfern? Eins kann ich dir sagen, wenn ich den Kerl noch einmal in die Finger bekomme, dann bringe ich ihn auf den rechten Weg!«
»Gut. Allerdings ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über Theologie zu diskutieren.« Zedd strich sein welliges Haar nach hinten. »Solltest du den Nangtong deine Glaubensgrundsätze nicht näherbringen wollen, schlage ich vor, daß wir uns an meine halten und uns aus ihren Jagdgründen entfernen.«
Ann seufzte. »Vielleicht hast du in dem einen oder anderen Punkt nicht ganz unrecht. Wenigstens hattet ihr gute Absichten.«
Mit einer scheuchenden Bewegung gab sie ihm zu verstehen, er solle endlich weitergehen. Zedd folgte der gewundenen Schlucht und versuchte, nicht in den träge dahinfließenden Wasserlauf zu treten, der sich durch sie hindurchschlängelte.
Die Schlucht führte nach Südwesten. Er wußte, daß sie sie von der Heimat der Nangtong wegführte. Außerdem hoffte er, sie werde ihnen auf ihrer Flucht Deckung geben. Die Nangtong besaßen Speere und Pfeile.
Als der Mond durch die Wolken brach, streckte Zedd eine Hand aus, damit Ann stehenblieb, und hockte sich hin, um kurz, solange es genügend Licht gab, die Umgebung abzusuchen. Bis auf die acht bis zehn Fuß hohen Uferböschungen und die beinahe kahlen Hügel dahinter erkannte er wenig. Auf den fernen Bergen standen vereinzelte Baumgruppen.
Weiter vorne in dem flachen Tal verschwand der Bach in einem Dickicht. Zedd drehte sich zu Ann um und teilte ihr mit, die beste Chance hätten sie, wenn sie sich im Gestrüpp zwischen den Bäumen versteckten. Die Nangtong würden dort wahrscheinlich eine Falle vermuten und sich von einer solchen Stelle fernhalten.
Der Mond war immer noch zu sehen. Hinten konnte er ihr perfektes Spurenpaar im Matsch erkennen. Er hatte bisher nicht an ihre Spuren gedacht und zeigte sie ihr nun. Mit dem Daumen gab sie ihm zu verstehen, daß sie die schlammige Wasserrinne verlassen sollten.
Zwei dünne Schreie in der Ferne zerrissen die Stille.
»Die Pferde«, zischte er.
Die Schreie brachen unvermittelt ab. Man hatte den Tieren die Kehle durchgeschnitten.
»Verdammt! Das waren gute Pferde. Hast du etwas, um dich zu verteidigen?«
Ann ließ ihr Handgelenk vorschnellen und brachte einen Dacra zum Vorschein. »Das hier. Seine Magie wird nicht funktionieren, aber erdolchen kann ich sie damit trotzdem noch. Und was hast du?«
Zedd lächelte schicksalsergeben. »Meine honigsüße Zunge.«
»Vielleicht sollten wir uns trennen, bevor mich deine Waffe das Leben kostet.«
Zedd zuckte die Achseln. »Ich werde dir keinen Vorwurf machen, wenn du dich alleine durchschlagen willst. Wir haben eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns trennen, damit wenigstens einer von uns durchkommt.«
Sie lächelte. »Du möchtest doch bloß den ganzen Spaß für dich allein haben. Wir kommen schon durch. Immerhin sind wir ein gutes Stück von den Pferden entfernt. Bleiben wir zusammen.«
Zedd drückte ihre Schulter. »Vielleicht opfern sie ja nur Jungfrauen.«
»Aber ich will nicht alleine sterben.«
Der Zauberer lachte leise in sich hinein, während er weiterging und vorn nach einer Stelle suchte, wo er sie nach oben und aus der kleinen Schlucht hinausführen konnte. Schließlich entdeckte er einen Einschnitt in der Uferböschung. Die Wurzeln des knorrigen Gestrüpps hingen herab wie Haare und boten genug Halt. Der Mond verschwand hinter einer mächtigen Wolke. In der undurchdringlichen Finsternis kletterten sie langsam hinauf und ertasteten sich den Weg blind mit den Händen.
Zedd hörte ein paar Käfer summen und in der Ferne den klagenden Ruf eines Kojoten. Davon abgesehen war die Nacht ruhig und still. Mit ein wenig Glück waren die Nangtong damit beschäftigt, Zedds und Anns Sachen bei den Pferden zu durchstöbern.
Zedd erreichte den oberen Rand, drehte sich um und half Ann herauf. »Bleib auf Händen und Knien. Wir werden robben oder wenigstens geduckt weitergehen.«
Ann gab leise ihre Zustimmung kund. Dann marschierten sie los, fort von dem kleinen Wasserlauf. Hell und leuchtend kam der Mond hinter einer Wolke hervor.
Unmittelbar vor ihnen standen die Nangtong in einem Halbkreis und verstellten ihnen den Weg.
Es mochten vielleicht zwanzig sein. Zedd vermutete weitere in der Nähe. Die Jagdtrupps der Nangtong waren gewöhnlich größer.
Klein und fast nackt, waren sie mit nichts weiter als einem Riemen mit einer Art Tasche daran bekleidet, in der ihre Männlichkeit steckte. Um den Hals trugen sie Halsketten aus menschlichen Fingerknochen. Die Köpfe waren kahlgeschoren. Sie besaßen sehnige Arme und Beine und vorstehende Bäuche.
Die Nangtong waren am ganzen Körper mit weißer Asche beschmiert. Der Bereich um die Augen war schwarz bemalt, was ihnen das Aussehen lebender Totenköpfe verlieh.
Zedd und Ann sahen zu den Speeren hinauf, deren mit Zacken versehene Stahlspitzen im Mondlicht blitzten. Einer der Männer rief schnatternd einen Befehl. Zedd konnte die Worte nicht verstehen, hatte jedoch eine recht klare Vorstellung davon, was gemeint war.
»Laß den Dacra stecken«, flüsterte er Ann zu. »Es sind zu viele. Sie würden uns auf der Stelle umbringen. Wir haben nur eine Chance, wenn wir am Leben bleiben und uns etwas einfallen lassen.«
Er beobachtete, wie sie die Waffe zurück in den Ärmel schob.
Zedd schaute grinsend zu der Wand aus grimmigen Gesichtern hoch. »Weiß einer von euch vielleicht, wo wir die Jocopo finden können?«
Ein Speer stieß nach ihm und bedeutete ihm aufzustehen. Er und Ann gehorchten widerstrebend. Die Männer, die Zedd nicht einmal bis zur Schulter reichten, jedoch ungefähr so groß wie Ann waren, scharten sich um sie und schnatterten plötzlich alle auf einmal los. Männer schubsten und knufften sie.
Man riß ihnen die Arme nach hinten und band ihnen die Handgelenke fest zusammen.
»Erinnere mich bei Gelegenheit noch einmal daran«, meinte Ann zu ihm, »wie klug es war, diesen Heiden ihre rückständigen Bräuche zu lassen.«
»Na ja, ein Konfessor erzählte mir einmal, sie seien recht gute Köche. Vielleicht bekommen wir eine neuartige Köstlichkeit vorgesetzt.«
Ann strauchelte, als sie weitergestoßen wurde, fing sich aber wieder. »Ich bin zu alt«, murmelte sie, den Blick in den Himmel gerichtet, »um mich mit einem Verrückten herumzutreiben.«
Eine Stunde forschen Marsches brachte sie zum Dorf der Nangtong. Plumpe, runde Zelte, vielleicht dreißig an der Zahl, bildeten ihr mobiles Dorf. Die niedrigen Zelte kauerten sich dicht an den Erdboden, um dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Einfriedungen aus hohen Stockzäunen beherbergten ein buntes Gemisch von Tieren.
Schwatzende Menschen, von Kopf bis Fuß in schmuckloses Tuch gehüllt, damit ihre Identität vor den Opfern verborgen blieb, die im Begriff standen, ihre Gebete in die Welt der Seelen hinüberzutragen, kamen aus ihren Hütten und wollten sehen, wie Zedd und Ann hinter vorgehaltenen Speerspitzen durch das Dorf getrieben wurden. Ihre Häscher, beschmiert mit weißer Asche, die Augen schwarz bemalt, waren als Tote verkleidete Jäger, damit niemand Gefahr lief, als einer der Lebenden erkannt zu werden.
Vor einem Pferch wurde Zedd zurückgerissen, damit er stehenblieb, während die Männer die Seilschlaufe am Gatter lösten. Das Tor schwang im Mondlicht auf. Offenbar war ihnen das gesamte Nangtongdorf gefolgt. Die Menschen johlten und brüllten, als die beiden Gefangenen durch das Gatter getrieben wurden. Wahrscheinlich wollten sie den beiden Seelen, die im Begriff standen, im Namen der Nangtong mit deren Vorfahren zu sprechen, irgendwelche Botschaften mit auf den Weg geben.
Zedd und Ann, die Handgelenke noch immer hinter dem Rücken gefesselt, wurden in den Pferch gestoßen und stürzten zu Boden. Sie landeten im Matsch. Grunzende Schatten sprangen davon. Schweine! Dem Untergrund nach, den sie zu einem morastigen Sumpf aufgewühlt hatten, stand das Dorf seit wenigstens einigen Monaten an dieser Stelle.
Die Seelenjäger, fast fünfzig Mann, wie Zedd schätzte, gingen auseinander. Eingekreist von fröhlichen Kindern und stoischen Frauen, machten sich ein paar zu ihren Zelten auf. Andere umstellten den Pferch, um Wache zu halten. Die meisten der Anwesenden riefen den Gefangenen etwas zu und gaben ihnen Botschaften an die Vorfahren mit.
»Warum tut ihr das?« fragte Zedd einen der Bewacher. Er deutete mit einem Nicken auf Ann. »Warum?« Er zuckte die Achseln.
Einer der Bewacher schien zu verstehen. Er machte eine schneidende Bewegung über seine Kehle, dann deutete er imaginäres Blut an, das aus der vorgetäuschten Wunde rann. Er zeigte mit seinem Speer auf den Mond.
»Blutmond?« fragte Ann kaum hörbar.
»Roter Mond«, hauchte Zedd, als er begriff. »Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, haben die Konfessoren den Nangtong das Versprechen abgenommen, keine Menschenopfer mehr darzubringen. Ich war nie sicher, ob sie ihr Versprechen halten würden. Wie auch immer, die Menschen haben sich von ihnen ferngehalten.
Der rote Mond muß ihnen angst und sie glauben gemacht haben, die Welt der Seelen sei erzürnt. Wahrscheinlich sollen wir deshalb auch geopfert werden: um die erzürnten Seelen zu besänftigen.«
Ann wand sich unbehaglich neben ihm im Schlamm. Sie warf ihm einen mörderischen Blick zu.
»Ich bete nur, daß Nathan sich in einer Lage befindet, die noch schlimmer als die unsere ist.«
»Was meintest du doch gleich«, fragte Zedd zerstreut, »über das Herumtreiben mit einem Verrückten?«