Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stützte die Stirn in die Hände. Er hörte, wie jemand ins Zimmer kam, und sah auf. Es war Kahlan.
Als er ihr Lächeln sah, ihre strahlend grünen Augen, ihr üppiges dichtes Haar – ihre ganze Schönheit, faßte er wieder Mut. Diese Schönheit und die Tatsache, daß sie ihn liebte, verwunderte ihn stets aufs neue.
Das Gefühl der Selbstgewißheit, das ihm diese Liebe verlieh, hätte er sich niemals träumen lassen. Er hatte sich immer vorgestellt, jemanden zu lieben, doch das Gefühl von Sicherheit und Frieden, das dies seiner Seele gab, hatte er sich nicht träumen lassen. Sollte Shota jemals versuchen, daran zu kratzen…
Kahlan hielt eine dampfende Suppenschüssel in der Hand. »Ich dachte, vielleicht möchtest du etwas essen. Seit Tagen arbeitest du jetzt schon ununterbrochen. Außerdem finde ich, du mußt mehr schlafen.«
Er warf einen kurzen Blick auf die große weiße Schüssel in ihrer Hand. »Danke.«
Sie runzelte die Stirn. »Was ist mit dir, Richard? Dein Gesicht ist weiß wie Asche.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte. »Ich fühle mich ein wenig krank.«
Sie wurde ebenfalls bleich. »Krank! Richard, es ist doch nicht –«
»Nein, ist es nicht. Es rührt von diesem Buch über die Untersuchung und die Verhandlung über den Tempel der Winde her. Ich wünschte fast, ich hätte es nie entdeckt.«
Kahlan beugte sich über ihn, als sie die Schüssel abstellte. »Hier. Iß etwas.«
»Was ist es denn?« fragte Richard und schielte auf den üppigen Schwung ihres Busens, der sich im rechteckigen Ausschnitt ihres Konfessorenkleides auf und ab bewegte.
»Linsenbrei. Iß etwas. Was hast du herausgefunden?«
Richard pustete auf den Brei, um ihn zu kühlen. »Ich bin noch nicht sehr weit gekommen. Es dauert ewig. Aber nach dem bißchen, das ich mir habe zusammenreimen können, haben diese Leute … diese Zauberer … sämtliche Zauberer hingerichtet, die den Tempel der Winde fortgeschickt hatten. Die Tempelmannschaft, wie sie sie nennen. Fast einhundert Mann.« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.
Kahlan setzte sich ihm gegenüber auf die Tischkante. »Welches Verbrechen haben sie begangen, das die Todesstrafe rechtfertigt?«
Richard rührte in seinem Brei. »Nun, einerseits ließen sie, wie befohlen, einen Weg in den Tempel offen, andererseits erschwerten sie die Rückkehr in den Tempel dermaßen, daß sie den Leuten, als diese zurückkamen, um sich eine bestimmte Magie zu beschaffen und damit den Krieg zu bestreiten, nicht gelang.«
»Kolo schrieb, es seien rote Monde erschienen, und der Tempel habe eine Warnung geschickt. Willst du damit sagen, die Zauberer von damals seien gar nicht in der Lage gewesen, diese Warnung zu beherzigen?«
»Nein, so hat das nicht funktioniert. Es ist ihnen durchaus gelungen, den Tempel wieder zu betreten.« Er fuchtelte mit dem Löffel herum, um seine Worte zu unterstreichen. »Genaugenommen war das Grund für den roten Mond. Gescheitert sind sie beim zweiten Versuch hineinzugelangen, als sie auf die roten Monde reagieren wollten, die von der ersten Person, die man hineingeschickt hatte, hervorgerufen worden waren.«
Kahlan beugte sich zu ihm vor, während Richard einen Löffel Mus verschlang. »Aber diese erste Person gelangte hinein?«
»Oh, ja, er gelangte hinein. Genau darin lag das Problem.«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht ganz folgen.«
Richard legte den Löffel weg und lehnte sich zurück. Er sah ihr in die Augen.
»Die Tempelmannschaft, die den Tempel der Winde fortschickte, das waren dieselben Leute, die auch die Magie dort deponiert hatten. Du kennst doch einige dieser grauenerregenden magischen Wesen, die während des Krieges erschaffen wurden. Wesen, die man aus Menschen geschaffen hatte, wie zum Beispiel die Mriswith? Die Traumwandler?
Wie auch immer, die Menschen aus der Neuen Welt kämpften gegen die Menschen aus der Alten Welt, die die Magie vernichten wollten, ganz so wie Jagang heute. In gewisser Hinsicht hatten diese Leute, die die Gegenstände der Macht in die Obhut des Tempels brachten, Verständnis für die Menschen aus der Alten Welt, die die Magie vernichten wollten. Sie waren der Überzeugung, wenn man Menschen zur Schaffung dieser fürchterlichen Waffen mißbrauchte, sei dies ebenso verwerflich wie einige der Dinge, gegen die sie zu Felde zogen.«
Kahlan beugte sich fasziniert weiter vor. »Willst du damit sagen, sie haben sich auf die Seite des Feindes geschlagen? Und in Wahrheit für die Menschen in der Alten Welt gearbeitet, die die Magie vernichten wollten?«
»Nein, sie hatten es nicht darauf abgesehen, die Neue Welt zu besiegen oder alle Magie abzuschaffen. Aber sie glaubten die ganze Angelegenheit in einem größeren Zusammenhang als bloß dem Krieg zu sehen, ganz anders als die Zauberer, die hier, in der Burg, das Sagen hatten. Sie suchten einen Mittelweg, irgendwo zwischen den Fronten. Dadurch kamen sie zu dem Schluß, der Krieg und all ihre Schwierigkeiten mit dem Mißbrauch von Magie hingen zusammen. Sie kamen zu dem Schluß, man müsse etwas tun.« Kahlan strich sich ein paar Haare hinters Ohr. »Etwas tun? Und was?«
»Weißt du noch, wie es früher in der Burg von Zauberern nur so wimmelte? Als die Zauberer beide Seiten der Magie besaßen? Und die Zauberer von damals über sehr viel mehr Macht verfügten als jetzt selbst Zedd, der Oberste Zauberer? Und wie die, die mit der Gabe geboren werden, mit der Zeit immer seltener wurden?
Ich glaube, diese Zauberer haben den Tempel der Winde dazu benutzt, einen Teil der Macht der Magie aus dieser Welt abzuziehen – und sie in der Unterwelt wegzusperren, wo sie ihrer Ansicht nach nicht dazu mißbraucht werden konnte, in dieser Welt Unheil anzurichten.«
Kahlan schlug sich die Hand vor die Brust. »Gütige Seelen. Woher hatten sie das Recht, darüber zu befinden? Sie sind nicht der Schöpfer, von dem alles stammt, auch die Magie.«
Richard lächelte. »Der Vorsitzende des Untersuchungsrates war ziemlich genau derselben Ansicht. Er verlangte genau zu wissen, was sie getan hatten.«
»Und hast du die Antwort gefunden?«
»Ich bin mit meiner Übersetzung noch nicht weit gekommen und verstehe nicht, wie die Magie funktioniert, aber ich glaube, die Tempelmannschaft hat folgendes getan: Sie sperrte den Subtraktiven Teil der Magie der Zauberer weg. Diesen hatte man dazu benutzt, Menschen in diese Waffen zu verwandeln. Mit ihm nahm man diesen Menschen einen Teil ihrer Eigenschaften, jenen Teil, den diese Zauberer nicht wollten, um ihnen anschließend mit Hilfe von Additiver Magie jenen Teil hinzuzufügen, den man benötigte, um diese Menschen als Waffe mißbrauchen zu können.«
»Und du? Du wurdest mit beiden Seiten der Magie geboren. Wenn die Kraft weggesperrt wurde, wie erklärt sich dann deine Gabe? Ich besitze in meiner Konfessorenkraft ebenfalls ein Element Subtraktiver Magie. Darken Rahl benutzte Subtraktive Magie, genau wie einige der Schwestern. Noch heute existieren Wesen, die in ihrer Magie einen Teil dieses Elements besitzen.«
Richard fuhr sich erschöpft mit der Hand durchs Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal über das im klaren, was ich dir erzählt habe. Noch immer muß der größte Teil des Buches übersetzt werden. Ich stehe ganz am Anfang.
Selbst wenn ich alles übersetze, weiß ich nicht genau, ob wir dadurch die Antworten erhalten, nach denen wir suchen. Das war damals eine Untersuchung und eine Gerichtsverhandlung. Kein Mensch damals hatte die Absicht, mich über Geschichte zu belehren. Damals war das Allgemeinwissen. Es brauchte nicht weiter erklärt zu werden.
Allmählich glaube ich, die Tempelmannschaft wollte verhindern, daß die Subtraktive Magie an die Nachkommen von Zauberern weitergegeben werden konnte. Du hast deine Magie nicht von einem Zauberer vererbt bekommen, deshalb war sie vielleicht nicht davon betroffen. Darken Rahl hat den Umgang mit Subtraktiver Magie erlernt, er ist damit nicht geboren worden. Vielleicht liegt darin der Unterschied. Vielleicht haben sie sich dabei verrechnet, wie es sich auf das Gleichgewicht auswirkt, wenn man denen, die mit der Gabe der Zauberer geboren worden sind, die Subtraktive Magie entzieht – weshalb auch niemand vorhergesehen hat, daß überhaupt immer weniger Menschen mit der Gabe geboren wurden.
Vielleicht wußten sie es ja auch. Vielleicht war gerade das ihr Ziel. Vielleicht hat man sie deshalb hingerichtet.«
»Und was ist mit den roten Monden?«
»Nun, als die Machthaber dahinterkamen, schickten sie jemanden los, der das, was die Zauberer getan hatten, wieder rückgängig machen sollte. Sie brauchten jemanden, der über ungeheure Kraft und innere Gewißheit verfügte, und hofften darauf, er besäße die Kraft, sich durchzusetzen. Sie schickten den eifrigsten Verfechter von Magie aus ihren Reihen, einen Fanatiker – den obersten Ankläger, einen mächtigen Zauberer namens Lothain – zum Tempel der Winde, um den Schaden zu beheben.«
Kahlan zog ihre Unterlippe durch die Zähne. »Und was geschah dann?«
»Er gelangte hinein, durch den Saal des Verräters. Alles fand so statt, wie du erzählt hast. Lothain ging hinein, doch eben dadurch verriet er sie. Was er dort tat, weiß ich nicht genau. Vermutlich beziehen sich viele der Ausdrücke auf besondere Magien, von denen ich nichts verstehe. Aber nach dem, was ich mir zusammengereimt habe, verstärkte er noch, was die Zauberer, die den Tempel fortgeschickt hatten, bewirkt hatten, und machte die ganze Sache noch schlimmer.
Er verriet die Menschen in der Neuen Welt. Da er die Methode ändern mußte, mit deren Hilfe der Tempel der Winde diese Magie zurückhielt, löste er die Warnung der roten Monde aus.
Als der Tempel die roten Monde heraufbeschwor und den Hilferuf aussandte, schickte man einen Zauberer los. Die Zauberer waren froh darüber, daß der Tempel um Hilfe bat, denn das bedeutete, daß sie ihn nicht durch den Saal des Verräters würden betreten müssen. Sie waren überzeugt, hineingehen und das Problem ein für allemal lösen zu können. Der betreffende Zauberer kehrte nie zurück. Sie schickten einen anderen, noch mächtigeren und erfahreneren Zauberer los, und auch der kam nie zurück.
In Anbetracht des Ernstes der Lage machte sich schließlich der Oberste Zauberer selbst auf den Weg zum Tempel der Winde.« Richard hielt das Amulett auf seiner Brust ein wenig in die Höhe. »Baraccus.«
»Baraccus«, hauchte Kahlan erstaunt. »Ist es ihm gelungen, den Tempel zu betreten?«
»Das hat man nie genau herausgefunden.« Richard strich mit dem Daumen über die Tischkante. »Als Baraccus zurückkehrte, befand er sich in einem Zustand benommener Verwirrtheit. Sie folgten ihm, aber er reagierte auf nichts, was man sagte oder tat.
Er ging in die Enklave des Obersten Zauberers – seine Zufluchtsstätte – und ließ dies dort zurück.« Richard zeigte ihr das Amulett auf seiner Brust. »Er kam wieder heraus, legte den Rest seiner Amtstracht ab – die Gegenstände, die ich jetzt trage –; anschließend trat er an den Rand der Mauer und stürzte sich hinunter in den Tod.«
Kahlan drückte den Rücken durch und lehnte sich zurück, während Richard sich räusperte und erst seine Gedanken sammelte, bevor er fortfuhr.
»Danach gaben die Zauberer jeden weiteren Versuch, in den Tempel der Winde zu gelangen, um den Ruf der roten Monde zu erhören, als unmöglich auf. Es ist ihnen nie gelungen, den Schaden wiedergutzumachen, den die Tempelmannschaft und Lothain angerichtet hatten.«
Kahlan sah ihn nüchtern an, während er ins Leere starrte. »Woher wußten sie das alles?«
Richards Faust schloß sich fester um das Amulett auf seiner Brust.
»Sie haben sich eines Konfessors bedient. Magda Searus. Der ersten Mutter Konfessor persönlich.«
»Sie hat zu jener Zeit gelebt? Sie war während dieses Krieges dort? Das wußte ich gar nicht.«
Richard strich mit den Fingerspitzen über die Falten auf seiner Stirn. »Lothain weigerte sich, ihnen zu erklären, was er getan hatte. Die Zauberer, die die Verhandlung leiteten, waren dieselben, die die Einsetzung der Konfessoren anordneten. Magda Searus war die erste. Sie wußten, daß sie die Wahrheit nicht aus Lothain herausfoltern konnten – sie hatten es bereits versucht –, also nahmen sie diese Frau, Magda Searus, und schufen die Magie der Konfessoren.
Sie berührte Lothain mit ihrer Kraft und erfuhr von ihm die Wahrheit. Er gestand in vollem Umfang, was die Tempelmannschaft und er angestellt hatten.«
Richard wich dem Blick ihrer grünen Augen aus. »Der Zauberer, der dies Magda Searus antat und die Kraft der Konfessoren schuf, hieß Meritt. Das Tribunal war so zufrieden mit seiner Zauberei, daß man anordnete, einen Orden der Konfessoren zu gründen, und Zauberer damit beauftragte, diese zu beschützen.
Meritt wurde Magda Searus' Beschützer, ihr Zauberer. Das war die Gegenleistung für das Leben, die Pflicht, zu der man sie verdammt hatte, zu der man alle Nachkommen der Konfessoren verdammt hatte, die noch folgen sollten.«
Es wurde still im Raum. Kahlan hatte ihre Konfessorenmiene aufgesetzt: jenen leeren Gesichtsausdruck, der nichts von ihren Gefühlen verriet. Er brauchte sie nicht anzusehen, um ihre Gefühle zu kennen. Richard zog den Brei wieder heran und aß weiter. Er war beträchtlich abgekühlt.
»Richard«, meinte Kahlan schließlich leise. »Wenn diese Zauberer mit all ihrer Macht, mit all ihrem Wissen … wenn selbst sie nicht in den Tempel der Winde hineingelangen konnten, nachdem dieser seine Warnung der roten Monde ausgesandt hatte, dann…«
Sie ließ den Satz unbeendet. Richard beendete ihn für sie.
»Wie kann ich dann hoffen, es zu schaffen?«
Er aß den Linsenbrei. Das bedrückende Schweigen zog sich in die Länge.
»Richard«, stellte Kahlan ruhig fest, »wenn es uns nicht gelingt, den Tempel zu betreten, wird das geschehen, was mir die Ahnenseele vor Augen geführt hat. Der Tod wird das Land heimsuchen. Unzählige Menschen werden sterben.«
Fast wäre Richard aufgesprungen und hätte sie angebrüllt, daß er das wisse. Fast hätte er sie angebrüllt und sie gefragt, was sie von ihm erwartete. Statt dessen würgte er die Wut hinunter – zusammen mit dem Brei.
»Ich weiß«, antwortete er leise.
Er ging wieder daran, schweigend seinen Brei zu löffeln. Als er fertig war und sicher, daß er seine Fassung wiedergefunden hatte, fuhr er fort.
»Einer aus der Tempelmannschaft, ein Zauberer namens Ricker, gab eine Erklärung ab, bevor man ihn hinrichtete.« Richard zog einen Zettel mit der Übersetzung aus dem unordentlichen Stapel und las sie ihr vor. »›Ich kann nicht länger gutheißen, was wir mit unserer Gabe tun. Wir sind weder der Schöpfer, noch sind wir der Hüter. Selbst eine leidige Hure hat das Recht, ihr Leben so zu gestalten, wie sie will.‹«
»Was meinte er damit?« fragte Kahlan.
»Ich glaube, wenn die Zauberer tatsächlich Menschen mißbrauchten – sie zerstörten –, um Wesen zu schaffen, die sie für die Kriegführung benötigten, dann verwendeten sie dafür Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund störend oder lästig waren – Menschen, deren Schicksal ihnen gleichgültig war. Ich habe mir sagen lassen, ein Zauberer müsse die Menschen benutzen. Ich glaube kaum, daß jemand ahnt, welch grauenhafte Herkunft dieser Grundsatz hat.«
Er sah die Bestürzung in ihren Augen.
»Nach dem, was du gelesen hast, Richard, glaubst du, es ist hoffnungslos? Glaubst du, wir können gar nichts tun?«
Richard wußte nicht, was er antworten sollte. Er nahm ihre Hand. »Bevor sie hingerichtet wurden, führte die Tempelmannschaft zu ihrer Verteidigung an, sie hätten den Tempel nicht endgültig verschlossen, was sie leicht hätten tun können, sondern hätten statt dessen eine Möglichkeit gelassen, hinein zugelangen und auf den Hilferuf zu reagieren. Sie behaupteten, wenn die Not wirklich groß genug sei, könne man ihn nach wie vor betreten.
Ich werde hineinkommen, Kahlan. Das schwöre ich.«
Einen kurzen Moment lang leuchtete in ihren wunderschönen Augen so etwas wie Erleichterung auf, doch dann bekam ihr Blick wieder etwas Gehetztes. Richard wußte, was sie dachte. Er hatte sich dieselbe Frage gestellt, als er vom Wahnsinn des Krieges und dem, was die Menschen sich gegenseitig antaten, gelesen hatte.
»Wir benutzen keine Magie, um Menschen für unsere Zwecke zu zerstören, Kahlan. Wir benutzen sie, um etwas zu bekämpfen, dem hilflose Kinder zum Opfer fallen. Wir treten für die Freiheit von Terror und Mord ein.«
Ein vorsichtiges Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück, und sie drückte seine Hand.
Als es an der offenen Tür klopfte, hoben beide den Kopf.
Es war Drefan. »Darf ich hereinkommen? Ich störe doch nicht, oder?«
»Nein, schon in Ordnung«, sagte Richard. »Komm rein.«
»Ich wollte nur, daß du weißt, daß ich die Karren bestellt habe, wie du es gewünscht hast. Es ist soweit.«
Richard strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Wie viele?«
»Letzte Nacht ein wenig über dreihundert, wenn man davon ausgeht, daß sämtliche Berichte vorliegen. Wie du vermutet hast, können die Menschen diese Menge von Toten nicht mehr bewältigen, und die Zahlen steigen jeden Tag noch.«
Richard nickte. »Wir können die Toten unmöglich warten lassen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie sie unter freiem Himmel verwesen, könnte sich die Pest noch schneller ausbreiten. Die Menschen müssen sofort nach ihrem Ableben beerdigt werden. Sag den Männern, ich will, daß die Totenkarren losgeschickt werden, sobald sie das organisiert haben. Ich gebe ihnen bis Sonnenuntergang Zeit.«
»Das habe ich ihnen bereits erklärt. Wie du sagtest, dürfen wir nicht zulassen, daß mit der Pest infizierte Leichen herumliegen, um die sich niemand kümmert. Das könnte die Seuche noch verschlimmern.«
»Kann sie überhaupt noch schlimmer werden?« fragte Richard spöttisch.
Drefan antwortete nicht.
»Entschuldige«, sagte Richard. »Das war nicht der rechte Ton. Hast du irgend etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«
Drefan zog die Ärmel seines weißes Hemds herunter. »Gegen die Pest gibt es kein Heilmittel, Richard. Zumindest kenne ich keines. Die einzige Hoffnung besteht darin, gesund zu bleiben. Wo wir gerade davon sprechen, es ist ungesund, den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht hier herumzusitzen. Du bekommst schon wieder nicht genug Schlaf. Das sehe ich dir an den Augen an. Ich habe dich schon einmal gewarnt. Du brauchst Bewegung und frische Luft.«
Richard war den Versuch leid, das Buch zu übersetzen, war die Dinge leid, die er entdeckte, wenn es ihm gelang. Er klappte es zu und stieß seinen Stuhl zurück.
»Es hat sowieso keinen Zweck. Befolgen wir deinen Vorschlag, und gehen wir spazieren.« Er reckte sich und gähnte. »Und womit hast du dir die Zeit vertrieben, während ich in diesem muffigen Zimmer eingeschlossen war?« fragte er Kahlan.
Sie sah heimlich zu Drefan hinüber. »Ich … ich habe Drefan und Nadine geholfen.«
»Ihnen geholfen? Wobei?«
Drefan strich die Rüschen auf seiner Hemdbrust glatt. »Kahlan hat sich um die Dienstboten gekümmert. Einige von ihnen sind … erkrankt.«
Richard blickte erst Kahlan, dann Drefan an. »Die Pest hat bereits den Palast erreicht?«
»Ich fürchte, ja. Sechzehn Dienstboten sind erkrankt. Ein paar haben ganz gewöhnliche Krankheiten, die übrigen –«
Richard seufzte schwer. »Verstehe.«
Draußen vor seinem Zimmer hielt Raina Wache. Sie drückte den Rücken durch, als Richard aus der Tür trat.
»Wir gehen ein wenig spazieren, Raina. Am besten begleitet Ihr uns, sonst liegt mir Cara ewig damit in den Ohren.«
Lächelnd strich Raina eine dunkle Locke zurück. Sie wußte, er hatte recht, und war sichtlich froh, daß er sich fügte.
»Lord Rahl«, sagte Raina, »ich wollte Euch nicht bei der Arbeit stören, aber der Kommandant der Stadtwache hat seinen Bericht gebracht.«
»Ich weiß. Ich habe es bereits gehört. Letzte Nacht sind dreihundert Menschen gestorben.«
Rainas Lederanzug knarzte, als sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte. »Das auch. Aber ich soll Euch ausrichten, daß man gestern abend eine weitere Frau gefunden hat. Sie wurde aufgeschlitzt, wie schon die anderen vier.«
Richard schloß die Augen, fuhr sich mit der Hand über den Mund und mußte feststellen, daß er an diesem Tag nicht daran gedacht hatte, sich zu rasieren. »Bei den Gütigen Seelen. Sterben nicht so schon genug Menschen, auch ohne daß so ein Irrer noch mehr umbringt?«
»War sie auch eine Hure wie die anderen?« erkundigte sich Drefan.
»Der Kommandant sagte, das könne er nicht mit absoluter Gewißheit sagen, aber er sei sich ziemlich sicher.«
Drefan schüttelte angewidert den Kopf. »Man sollte meinen, er hätte Angst vor der Pest oder davor, gefaßt zu werden. Die Pest läuft unter den Huren Amok, mehr noch als unter der übrigen Bevölkerung.«
Richards Blick fiel auf Berdine, die den Flur entlangkam. »So gerne ich etwas dagegen unternehmen würde, zur Zeit haben wir größere Sorgen.« Er wandte sich an Raina. »Sobald wir zurück sind, teilt Ihr dem Kommandanten mit, seine Soldaten sollen unter diesen Frauen die Nachricht verbreiten, daß ein Mörder umgeht und wir um ihrer eigenen Sicherheit willen hoffen, daß sie ihren Beruf aufgeben, wenigstens bis auf weiteres.
Ich bin sicher, die Soldaten wissen, wo sie die Huren finden«, fügte er kaum hörbar hinzu. »Sie sollen die Nachricht sofort verbreiten. Wenn diese Frauen nicht damit aufhören, ihren Körper zu verkaufen, werden sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Gesellschaft eines falschen Freiers wiederfinden. Und das wird dann ihr letzter sein.«
Richard wartete, bis Berdine sie erreicht hatte. »Solltet Ihr nicht in der Burg sein und Eure Schicht bei der Bewachung der Sliph übernehmen?« fragte Richard.
Berdine zuckte die Achseln. »Ich war oben, um Cara abzulösen, aber sie sagte, sie wolle noch eine weitere Wache bleiben.«
Richard harkte sich sein Haar zurück. »Warum sollte sie das tun?«
Berdine zuckte erneut die Achseln. »Das hat sie mir nicht verraten.«
Kahlan nahm ihn beim Arm. »Ich glaube, es sind die Ratten.«
»Was?«
»Ich kann es ihr nicht verdenken«, murmelte Berdine.
»Widerliche Biester«, warf Drefan ein. »Ich kann es ihr auch nicht verdenken.«
»Wenn einer von euch sie deswegen aufzieht«, warnte Kahlan, »bekommt er es mit mir zu tun – sobald Cara mit ihm fertig ist. Das ist nicht komisch.«
Offenbar war niemand in der Stimmung, Kahlan zu widersprechen, noch war jemand in der rechten Laune, daran etwas komisch zu finden.
»Wohin geht Ihr?« fragte Berdine.
»Spazieren«, antwortete Richard. »Wahrscheinlich habt Ihr ebenso viel herumgesessen wie ich. Begleitet uns doch, wenn Ihr wollt.«
Nadine bog um die Ecke und erblickte sie just in dem Moment, als sie nach draußen gehen wollten. »Was ist denn hier los?«
»Nichts«, erwiderte Richard. »Wie geht es dir, Nadine?« Sie lächelte. »Gut, danke. Ich habe die Krankenzimmer ausgeräuchert, wie Drefan mich gebeten hat.«
»Wir wollen nur ein wenig Spazierengehen«, sagte Kahlan. »Ihr habt hart gearbeitet, Nadine. Warum begleitet Ihr uns nicht?«
Richard sah Kahlan stirnrunzelnd an. Sie begegnete seinem Blick nicht.
Nadine musterte Kahlan einen Augenblick lang. »Sicher, sehr gerne.«
Die sechs begaben sich zum Haupttor des Palastes, gingen durch Marmorflure, vorbei an beeindruckenden Wandbehängen und eleganten Möbeln, über kostbare Teppiche. Patrouillierende Soldaten verbeugten sich oder schlugen sich die Faust aufs Herz, als die sechs vorüberkamen. Die Dienstboten, die Richard bei der Arbeit sah, schienen sich in einem Schockzustand zu befinden. Er bemerkte Menschen, die ihre Arbeit hastig und unter Tränen erledigten.
Kurz vor Erreichen der Tür begegneten sie Tristan Bashkar. Richard war nicht in der Stimmung, mit dem jaranischen Botschafter zu plaudern. Tristan kam auf sie zugeschlendert und blieb vor ihnen stehen. Diesmal sollte es ihnen nicht gelingen, ihm aus dem Weg zu gehen.
Der Mann neigte den Kopf. »Mutter Konfessor, Lord Rahl, es freut mich, Euch hier zufällig zu treffen.«
»Was wollt Ihr, Tristan?« fragte Kahlan in gleichmütigem Ton.
Er starrte beim Sprechen auf ihren Busen. Sein Blick wanderte hinüber zu Richard. »Mich würde interessieren –«
Richard schnitt ihm das Wort ab. »Seid Ihr gekommen, um die Kapitulation Jaras anzubieten?«
Tristan zog seinen Uniformrock zurück und stützte seine Hand auf die Hüfte. »Die mir zugestandene Zeit ist noch nicht abgelaufen. Ich mache mir Sorgen wegen dieser Pest. Ihr seid Lord Rahl. Angeblich regelt Ihr jetzt sämtliche Amtsgeschäfte. Mich würde interessieren, was Ihr gegen die Seuche zu unternehmen gedenkt?«
Richard hielt sich zurück. »Was wir nur können.«
Tristan schielte erneut auf Kahlans Busen. »Nun, Ihr versteht sicher, daß ich Gewißheit haben muß.« Sein Blick wandte sich wieder Richard zu. Ein verschlagenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Wie kann ich schließlich mein Land guten Gewissens einem Mann überantworten, unter dessen Herrschaft sich die möglicherweise größte Katastrophe in der Geschichte der Midlands abspielt? Das soll keine Beleidigung sein. Der Himmel sagt mir die Wahrheit. Ich bin sicher, Ihr habt Verständnis für meinen Standpunkt.«
Richard beugte sich zu dem aufgeblasenen Botschafter vor. »Eure Zeit läuft sehr bald ab, Botschafter. Bereitet Euch darauf vor, Jara bald zu übergeben, sonst werde ich mich selbst darum kümmern – auf meine Art. Und wenn Ihr uns jetzt entschuldigen würdet, wir brauchen dringend frische Luft. Hier drinnen stinkt es plötzlich.«
Tristan Bashkars Miene verfinsterte sich.
Als sein Blick zu Kahlan zurückwanderte, riß Richard Tristan das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel, bevor dieser auch nur mit den Augen blinzeln konnte.
Richard setzte dem Mann die Messerspitze auf die Brust.
»Und wenn ich Euch noch ein einziges Mal dabei erwische, daß Ihr Kahlan mit Euren lüsternen Blicken woanders hin als ins Gesicht seht, schneide ich Euch das Herz heraus.«
Richard machte kehrt, schleuderte das Messer fort und versenkte es in einer Eichenholzkugel auf einem in der Nähe stehenden Geländerpfosten. Das Geräusch des Aufpralls hallte durch die Marmorflure. Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm er Kahlan beim Arm und marschierte mit wehendem Goldcape davon. Kahlan hatte einen hochroten Kopf bekommen. Die beiden Mord-Sith folgten breit grinsend. Auch Drefan lächelte, während er den anderen hinterherging. Nadine zeigte keinerlei Reaktion.