Richard starrte benommen geradeaus, während Drefan den toten Jungen in ein Laken schlug. Nur Richard und Kahlan hatten gesehen, was passiert war – hatten gehört, was der tote Junge gesagt hatte. Hinter ihm, im vorderen Zimmer, jammerte die Mutter.
Drefan beugte sich nah an ihn heran. »Richard.« Drefan berührte seinen Arm. »Richard.«
Richard erschrak. »Was?«
»Was willst du tun?«
»Tun? Wie meinst du das?«
Drefan sah über die Schulter und betrachtete die anderen hinten an der Tür. »Was willst du den Leuten erzählen? Er ist an der Pest gestorben. Willst du das geheimhalten?«
Richard schien seine Gedanken nicht ordnen zu können.
Kahlan schob sich an ihm vorbei. »Geheimhalten? Warum?«
Drefan holte tief Luft. »Nun ja, die Nachricht von einer Pestepidemie könnte eine Panik auslösen. Wenn wir die Leute davon unterrichten, glaubt mir, dann hat die Nachricht den Palast schneller erreicht als wir.«
»Glaubt Ihr, andere haben sich ebenfalls angesteckt?« wollte sie wissen.
Drefan zuckte die Achseln. »Ich bezweifele, daß wir es nur mit einem Einzelfall zu tun haben. Wir müssen den Leichnam sofort vergraben oder verbrennen. Seine Bettdecke, das Bett und alles, womit er sonst in Berührung gekommen ist, sollte auch verbrannt werden. Das Zimmer sollte ausgeräuchert werden.«
»Werden die Leute nicht wissen wollen, was hier vor sich geht?« fragte Richard. »Werden sie nicht von selbst darauf kommen?«
»Wahrscheinlich.«
»Wie können wir es dann geheimhalten?«
»Du bist Lord Rahl. Dein Wort ist Gesetz. Du müßtest sämtliche Informationen zurückhalten. Die Familie verhaften. Sie eines Verbrechens beschuldigen. Nimm sie in Gewahrsam, bis diese Geschichte vorüber ist. Lasse ihre gesamten Habseligkeiten von Soldaten fortschaffen und verbrennen und ihr Haus versiegeln.«
Richard rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen. Er war der Sucher der Wahrheit und nicht deren Unterdrücker.
»Das können wir einer Familie, die gerade einen Sohn verloren hat, nicht antun. Das werde ich nicht tun. Wäre es außerdem nicht besser, wenn die Leute Bescheid wüßten? Haben die Menschen kein Recht darauf zu erfahren, in welcher Gefahr sie schweben?«
Drefan nickte. »Wenn ich zu entscheiden hätte, würde ich wollen, daß die Menschen Bescheid wissen. Ich habe die Pest bereits kennengelernt, in kleinen Orten. In einigen versuchte man, die Kunde davon zu unterdrücken, um eine Panik zu vermeiden, als jedoch immer mehr Menschen zu sterben begannen, ließ sie sich nicht mehr geheimhalten.«
Richard fühlte sich, als sei der Himmel über ihm eingestürzt. Er kämpfte darum, seine Gedanken zu ordnen, doch die Worte des toten Jungen hallten ihm immer wieder durch den Kopf. Die Winde machen Jagd auf dich.
»Wenn wir versuchen, die Menschen zu belügen, werden sie uns gar nichts mehr glauben. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Sie haben ein Recht darauf.«
»Richard hat recht«, stimmte Kahlan zu. »Wir sollten nicht versuchen, die Menschen zu täuschen, erst recht nicht in einer Angelegenheit, die sie das Leben kosten kann.«
Drefan bestätigte mit einem Nicken, daß er derselben Ansicht war. »Wenigstens haben wir Glück mit der Jahreszeit. In der Hitze des Sommers wütet die Pest am schlimmsten. Hätten wir jetzt Sommer, könnte es sein, daß sie wild um sich greift. Im kälteren Frühlingswetter dürfte sie sich nicht so schnell ausbreiten. Mit etwas Glück handelt es sich um einige wenige Fälle, die bald ausgestanden sind.«
»Mit etwas Glück«, wiederholte Richard murmelnd. »Glück ist etwas für Träumer, und ich habe nur Alpträume. Wir müssen die Menschen warnen.«
Drefan blickte einen nach dem anderen mit seinen blauen Augen an. »Ich verstehe, und ich stimme deinen Überlegungen zu. Viel können wir allerdings nicht tun, außer die Toten rasch zu verscharren und ihre Habseligkeiten zu verbrennen. Es gibt Heilmittel, aber ich fürchte, sie sind nur von begrenztem Wert.
Ich will dich nur warnen: Die Nachricht von einer Pestepidemie wird sich verbreiten wie ein Feuersturm.«
Richard bekam eine kribbelnde Gänsehaut.
Mit dem roten Mond wird der Feuersturm kommen.
»Mögen die Guten Seelen uns das ersparen«, flüsterte Kahlan. Ihr ging das gleiche durch den Kopf wie ihm.
Richard sprang auf. »Yonick.« Er ging durch das Zimmer, damit der Junge nicht gezwungen war, sich seinem toten Bruder zu nähern.
»Ja, Lord Rahl?« Seine Stirn legte sich in Falten, als er sich bemühte, seine Tränen zurückzuhalten.
Richard stellte ein Knie auf den Boden und nahm den Jungen bei den Schultern.
»Es tut mir so leid, Yonick. Wenigstens leidet dein Bruder nicht mehr. Er ist jetzt bei den Guten Seelen und ruht in Frieden. Sicherlich hofft er, daß wir uns an die schönen Zeiten mit ihm erinnern und nicht traurig sind. Die Guten Seelen werden über ihn wachen.«
Yonick wischte sich das blonde Haar auf Seite. »Aber … ich…«
»Ich will nicht, daß du dir Vorwürfe machst. Niemand hätte etwas für ihn tun können. Niemand. Manchmal werden Menschen krank, und keiner von uns hat die Macht, sie wieder gesund zu machen. Niemand hätte irgend etwas ausrichten können. Selbst wenn du mich gleich zu Anfang geholt hättest.«
»Aber Ihr habt Magie.«
Richard war zutiefst verzweifelt. »Für einen solchen Fall nicht«, erwiderte er leise.
Er nahm Yonick einen Augenblick lang in die Arme. Im Zimmer nebenan weinte sich die Mutter an Rainas Schulter aus. Nadine war damit beschäftigt, ein paar Kräuter für die Frau zusammenzustellen und ihr Anweisungen für die Anwendung zu geben. Die Frau an Rainas Schulter nickte und hörte schluchzend zu.
»Ich brauche deine Hilfe, Yonick. Ich muß die anderen Jungs aus der Ja'La-Mannschaft aufsuchen. Kannst du mich dahin bringen, wo sie wohnen?«
Yonick wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Warum denn?«
»Ich fürchte, sie können auch krank werden. Das müssen wir wissen.«
Der Junge drehte sich sichtlich besorgt zu seiner Mutter um. Richard gab Cara ein Zeichen.
»Wo ist dein Vater, Yonick?«
»Er ist ein Filzmacher. Er arbeitet die Straße runter, und dann die dritte rechts. Jeden Tag ist er bis spät in den Abend bei der Arbeit.«
Richard erhob sich. »Cara, schickt ein paar Soldaten los, die Yonicks Vater holen sollen. Er sollte jetzt hier bei seiner Frau sein. Sorgt dafür, daß ein paar Soldaten für heute und morgen seinen Platz einnehmen und aushelfen, so gut sie können, damit seiner Familie der Verdienst nicht verlorengeht. Sagt Raina, sie soll bei der Mutter bleiben, bis Yonicks Vater zu Hause ist. Das dürfte nicht lange dauern, anschließend kann sie nachkommen.«
Am Fuß der Treppe faßte Kahlan ihn am Arm, hielt ihn zurück und bat Drefan und Nadine, draußen bei Yonick zu warten, solange Cara unterwegs war, um seinen Vater zu suchen. Kahlan schloß die Tür zur Gasse, so daß sie unten im düsteren Treppenhaus mit Richard alleine war.
Sie wischte sich die Tränen mit zitternden Fingern von den Wangen. Aus ihren grünen Augen rannen immer neue.
»Richard.« Sie schluckte und rang keuchend nach Atem. »Ich wußte nichts davon, Richard. Da war Marlin, und diese Schwester der Finsternis … Ich hatte ja keine Ahnung, daß Yonicks Bruder so krank war, sonst hätte ich niemals –«
Richard hob die Hand, damit sie schwieg. Er sah ihr jedoch an dem verängstigten Blick an, daß es seine finstere Miene war, die sie hatte verstummen lassen.
»Wage nicht zu glauben, dich wegen Nadines grausamer Lügengeschichten erklären zu müssen. Wage es ja nicht. Ich kenne dich, und ich würde niemals so etwas von dir denken. Niemals.«
Sie schloß erleichtert die Augen und ließ sich an seine Brust sinken. »Der arme Junge«, weinte sie.
Er strich ihr über das lange braune Haar. »Ja, ich weiß.«
»Wir haben beide gehört, was der Junge nach seinem Tod gesagt hat, Richard.«
»Noch ein warnendes Zeichen dafür, daß der Tempel der Winde geschändet wurde.«
Sie schob sich von ihm zurück. Ihre grünen Augen suchten seine.
»Wir müssen jetzt alles noch einmal überdenken, Richard. Was du mir über den Tempel der Winde erzählt hast, stammt aus einer einzigen Quelle, und die ist nicht einmal offiziell. Es handelt sich bloß um ein Tagebuch eines einzelnen, der sich damit die Zeit vertrieben hat, während er die Sliph bewachte. Davon abgesehen hast du es nur in Auszügen gelesen, und es ist auf Hoch-D'Haran, was sich nur schwer genau übersetzen läßt. Vielleicht hast du aus dem Tagebuch eine falsche Vorstellung von diesem Tempel der Winde gewonnen.«
»Na ja, ich weiß nicht, ob ich dir zustimmen würde, daß –«
»Du bist todmüde. Du denkst nicht nach. Jetzt kennen wir die Wahrheit. Der Tempel der Winde versucht überhaupt nicht, eine Warnung zu schicken – er versucht, dich zu töten!«
Richard zögerte, als er die Sorge in ihrem Gesicht sah. Er sah nicht nur den Kummer in ihren Augen, sondern auch die Sorge um ihn.
»Bei Kolo klang das ganz anders. Nach allem, was ich gelesen habe, glaube ich, der rote Mond ist eine Warnung, daß der Tempel der Winde geschändet wurde. Als damals der rote Mond zu sehen war –«
»– schrieb Kolo, alles sei in Aufruhr gewesen. Über den Aufruhr hat er sich nicht näher ausgelassen, stimmt's? Vielleicht deswegen, weil der Tempel versuchte, sie umzubringen. Kolo schrieb, die Mannschaft, die den Tempel der Winde fortgeschickt hat, habe sie verraten.
Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Richard. Dieser Junge hat gerade eine Warnung des Tempels der Winde überbracht: ›Der Wind macht Jagd auf dich.‹ Wenn man Jagd auf etwas macht, dann will man es töten. Der Tempel der Winde macht Jagd auf dich – und versucht dich zu töten.«
»Warum hat er dann nicht mich, sondern den Jungen getötet?«
Darauf wußte sie keine Antwort.
Draußen auf der Gasse beobachtete Drefan aus seinen blauen Darken-Rahl-Augen, wie Richard und Kahlan über die Bohlen im Schlamm zurückkamen. Es schien, als gewährten diese Augen einen Einblick in seine Gedanken. Vermutlich mußten Heiler scharfe Menschenbeobachter sein, diese Augen aber gaben Richard ein Gefühl von Nacktheit. Wenigstens konnte er in ihnen keinerlei Magie erkennen.
Nadine und Yonick warteten in stummer Sorge. Richard flüsterte Kahlan zu, sie solle bei Drefan und Yonick warten. Er faßte Nadine am Arm.
»Nadine, würdest du mich einen Augenblick begleiten, bitte?«
Sie sah ihn strahlend an. »Sicher, Richard.«
Er half ihr die Stufen zum Treppenhaus hoch. Während Richard die Tür schloß, war sie damit beschäftigt, nervös ihr Haar zu richten.
Als die Tür geschlossen war, drehte er sich zu der lächelnden Nadine um und stieß sie krachend mit dem Rücken gegen die Wand, so fest, daß ihr die Luft wegblieb.
Sie stieß sich von der Wand ab. »Richard –«
Er packte sie bei der Kehle, stieß sie noch einmal gegen die Wand und hielt sie dort fest.
»Du und ich, wir wollten niemals heiraten.« Die Magie des Schwertes, sein Zorn, übertrug sich auf seine Stimme. Sie strömte durch seine Adern. »Wir wollten niemals heiraten. Ich liebe Kahlan. Ich werde Kahlan heiraten. Es gibt nur einen einzigen Grund, daß du noch hier bist: Irgendwie bist du in diese Geschichte verwickelt. Du wirst erst einmal bleiben, bis wir uns Klarheit verschaffen.
Ich kann dir verzeihen, was du mir angetan hast, und habe es bereits getan, aber solltest du noch einmal voller Absicht etwas so Grausames und Verletzendes zu Kahlan sagen, wirst du den Rest deines Lebens unten in der Grube verbringen. Hast du mich verstanden?«
Nadine legte zärtlich ihre Finger auf seinen Unterarm. Sie lächelte geduldig, so als wäre sie überzeugt, er sei unfähig, die Situation ganz zu erfassen, und sie würde ihm gleich ihre vernünftige Sichtweise nahebringen.
»Ich weiß, du bist jetzt aufgebracht, Richard, das sind wir alle, aber ich wollte dich nur warnen. Ich wollte nicht, daß du nicht über den Vorfall unterrichtet bist. Du solltest die Wahrheit wissen über das, was sie –«
Er stieß sie abermals krachend gegen die Wand. Er versuchte, sich zu zügeln, um ihr verständlich machen zu können, daß er mehr als verärgert war und daß er meinte, was er sagte.
»Ich weiß, du hast auch Gutes in dir, Nadine. Ich weiß, Menschen sind dir nicht gleichgültig. Damals in Kernland waren wir Freunde, also werde ich es bei einer Warnung bewenden lassen. Und du solltest ernst nehmen, was ich sage. Es gibt Ärger. Eine Menge Menschen werden Hilfe brauchen. Du hast den Menschen immer helfen wollen. Ich gebe dir Gelegenheit, genau das zu tun.
Aber Kahlan ist die Frau, die ich liebe, und die Frau, die ich heiraten werde. Ich lasse nicht zu, daß du etwas daran änderst oder versuchst, ihr weh zu tun. Wage nicht einmal, auch nur daran zu denken, mich in diesem Punkt auf die Probe zu stellen, sonst suche ich mir eine andere Kräuterfrau, die mir hilft. Hast du das begriffen?«
»Ja, Richard. Was immer du sagst. Ich verspreche es. Wenn du sie wirklich willst, dann mische ich mich nicht ein, gleich, wie verkehrt –«
Er hob den Zeigefinger. »Du stehst mit den Zehen bereits auf der Linie, Nadine. Einen Schritt weiter, und es gibt, das schwöre ich dir, kein Zurück mehr.«
»Ja, Richard.« Sie lächelte auf eine verständnisvolle, geduldige, leidgeplagte Weise. »Was immer du sagst.«
Sie schien sich damit zufriedenzugeben, daß er ihr zugehört hatte. Sie erinnerte ihn an ein Kind, daß sich unartig benahm, um die geliebten Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Er funkelte sie wütend an, bis er sicher war, daß sie kein Wort mehr von sich geben würde, dann erst öffnete er die Tür.
Drefan hatte sich hingehockt, hatte Yonick eine Hand auf die Schulter gelegt und sprach leise beruhigend auf den Jungen ein. Aus ihren grünen Augen beobachtete Kahlan, wie Nadine eine Hand nach hinten ausstreckte, damit Richard ihr auf die schmale Bohle im Matsch hinunterhalf.
»Drefan«, wandte sich Richard an seinen Halbbruder, als er wieder bei ihnen war, »ich muß mit dir über ein paar Dinge sprechen, die du da drinnen gesagt hast.«
Drefan strich Yonick über den Rücken und erhob sich dann. »Über welche Dinge?«
»Zum einen wolltest du, daß Cara und Raina mich dort rausschaffen. Ich will wissen, warum.«
Drefan sah erst Richard, dann Yonick einen Augenblick lang nachdenklich an. Dann schlug er sein Gewand auf und hakte es hinter eine der Ledertaschen an seinem Gürtel. Er öffnete den Beutel an der Vorderseite seines Gürtels und schüttete ein wenig trockenes Pulver aus einem Ledersäckchen auf ein Stück Papier. Er drehte das Papier zusammen und gab es dem Jungen.
»Bevor wir uns die anderen Jungen ansehen gehen, würdest du das bitte zu deiner Mutter hochbringen, Yonick, und ihr sagen, sie soll es ein paar Stunden in heißem Wasser ziehen lassen und einen Tee daraus kochen, ihn dann durchseihen und dafür sorgen, daß alle aus der Familie ihn heute abend trinken? Er wird helfen, die Abwehrkräfte deiner Familie zu stärken, damit ihr gesund bleibt.«
Yonick betrachtete das Papier in seiner Hand. »Natürlich. Ich sag' es meiner Mutter und bin gleich wieder hier.«
»Du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte Drefan. »Wir werden auf dich warten.«
Richard wartete, bis Yonick die Tür geschlossen hatte. »Also gut, ich weiß, du wolltest mich wegen der Gefahr, mich bei dem kranken Jungen mit der Pest anzustecken, da rausbringen. Aber wir sind alle in Gefahr, nicht wahr?«
»Ja, nur habe ich keine Ahnung, wie sehr. Du bist Lord Rahl. Ich wollte dich so weit weg haben wie möglich.«
»Wie steckt man sich mit der Pest an?«
Drefan warf einen Blick auf Kahlan und Nadine, dann auf Ulic und Egan, die hinten bei den Soldaten standen, die die beiden Enden der Gasse bewachten. Er holte tief Luft.
»Niemand weiß, wie die Pest von einem Menschen auf den anderen übertragen wird oder ob sie sich überhaupt auf diesem Weg ausbreitet. Einige glauben, es sei der Zorn der Seelen, der über uns gekommen ist, und die Seelen entscheiden, wen sie dahinraffen soll. Es gibt andere, die behaupten, die Ausdünstungen verunreinigten die Luft eines Ortes, einer Stadt, und brächten so jeden in Gefahr. Andere beharren darauf, man könne sich damit nur anstecken, wenn man mit dem infektiösen Atem eines Kranken in Berührung kommt.
Aus Gründen der Vorsicht muß ich davon ausgehen, daß die Pest, wie Feuer, um so gefährlicher ist, je näher man ihr kommt. Ich wollte nicht, daß du der Gefahr so nah bist, das ist alles.«
Richard war übel vor Müdigkeit. Nur seine entsetzliche Angst hielt ihn noch auf den Beinen. Kahlan war dem Jungen auch nahe gekommen.
»Du meinst also, es sei möglich, daß wir uns alle angesteckt haben, nur weil wir im selben Haus mit jemandem waren, der daran erkrankt ist.«
»Ja.«
»Aber die Familie des kranken Jungen hat sie nicht, und sie wohnen mit ihm unter einem Dach. Seine Mutter hat ihn gepflegt. Müßte nicht wenigstens sie sich angesteckt haben, wenn das stimmt?«
Drefan überlegte sich sorgfältig die Worte, die er als nächstes sagte. »Ich habe mehrere Male einen einzelnen Fall der Pest gesehen. Einmal, als ich jung und noch in der Ausbildung war, begleitete ich einen Heiler nach Castaglen, einer Ortschaft, die von der Pest heimgesucht wurde. Dort habe ich vieles von dem gelernt, was ich über die Pest weiß.
Alles begann damit, daß ein Händler mit einem Karren voller Waren in den Ort kam. Man erzählte sich, er habe bei seiner Ankunft gehustet, sich erbrochen und über quälende Kopfschmerzen geklagt. Mit anderen Worten, er war bereits von der Pest befallen, als er in Castaglen eintraf. Wir fanden nie heraus, wie er sich damit angesteckt hatte, möglicherweise jedoch hatte er vergiftetes Wasser getrunken, hatte bei einem kranken Bauern übernachtet, oder die Seelen hatten sich entschieden, ihn damit zu strafen.
Die Bewohner des Ortes, die einem altbekannten Händler eine Freundlichkeit erweisen wollten, brachten ihn in einem Zimmer unter, wo er am nächsten Morgen starb. Eine Zeitlang blieben alle gesund, und die Leute dachten, die Gefahr sei vorüber. Wenig später hatten sie den Mann vergessen, der mitten unter ihnen gestorben war.
Wegen der Verwirrung, die Krankheit und Tod ausgelöst hatten, waren die Berichte, die wir bei unserer Ankunft erhielten, sehr unterschiedlich. Wir konnten jedoch ermitteln, daß der erste Ortsbewohner einigen Berichten zufolge wenigstens vierzehn Tage, anderen Berichten nach sogar bis zu zwanzig Tage nach Ankunft des Händlers an der Pest erkrankte.«
Richard kniff sich in die Unterlippe und überlegte. »Vor ein paar Tagen, während des Ja'La-Spiels, ging es Kip noch gut. Seine eigentliche Ansteckung muß demzufolge noch etwas länger zurückliegen.«
Bei aller Trauer um den Tod des Jungen empfand Richard große Erleichterung darüber, daß seine Befürchtung nicht logisch schien. Wenn Kip die Pest lange vor dem Ja'La-Spiel bekommen hatte, dann war Jagang nicht darin verwickelt. Die Prophezeiung hatte nichts damit zu tun.
Warum aber dann die Warnung, die Winde machten Jagd auf ihn?
»Das bedeutet auch«, fuhr Drefan fort, »daß die Familie des toten Jungen noch erkranken kann. Im Augenblick scheinen alle gesund zu sein, sie könnten sich jedoch bereits tödlich mit der Pest infiziert haben. Genau wie die Menschen in Castaglen.«
»Dann«, sagte Nadine, »haben wir uns womöglich alle schon angesteckt, nur weil wir mit dem Jungen in einem Zimmer waren. Dieser entsetzliche Gestank, das war seine Krankheit. Am Ende haben wir alle die Pest, weil wir ihn eingeatmet haben, nur werden wir das erst in ein paar Wochen wissen.«
Drefan warf ihr einen herablassenden Blick zu. »Ich kann nicht leugnen, daß diese Möglichkeit besteht. Willst du davonlaufen, Kräuterfrau, und die nächsten zwei oder drei Wochen damit zubringen, dich auf den Tod vorzubereiten, indem du die Dinge auslebst, die du immer schon hast tun wollen?«
Nadine reckte ihr Kinn vor. »Nein. Ich bin Heilerin. Ich habe vor zu helfen.«
Auf diese heimlich wissende Art, die ihm eigen war, lächelte Drefan. »Also gut. Ein echter Heiler steht über den bösartigen Phantomen, denen er nachjagt.«
»Aber sie könnte recht haben«, sagte Richard. »Wir könnten uns mit der Pest angesteckt haben.«
Drefan wehrte diese Befürchtung mit einer Handbewegung ab. »Wir dürfen uns nicht von Angst leiten lassen. Als ich in Castaglen war, habe ich mich um viele Menschen gekümmert, die der Tod bereits, genau wie diesen kleinen Jungen, in seinen Klauen hatte. Übrigens auch der Mann, der mich dorthin mitgenommen hatte. Wir wurden nicht krank.
Ich habe nie ein bestimmtes Erscheinungsmuster der Pest feststellen können. Wir kamen jeden Tag mit den Kranken in Berührung und haben uns niemals angesteckt. Vielleicht, weil wir soviel mit den Kranken zusammen waren, daß unser Körper sich an sie gewöhnt hatte und sich gegen ihren verderblichen Einfluß gewappnet hatte.
Gelegentlich wurde das Familienmitglied eines Kranken von der Pest befallen und starb, und danach alle anderen, selbst die, die dem Krankenzimmer ferngeblieben waren. In anderen Häusern wurde ich Zeuge, wie eines oder mehrere Kinder an der Pest dahinsiechten, die Mütter hingegen, die sie ohne Unterlaß pflegten, erkrankten nicht, ebensowenig wie andere Mitglieder des Haushaltes.«
Richard lächelte verzweifelt. »Das alles ist nicht sonderlich hilfreich, Drefan. Vielleicht so, vielleicht so, manchmal ja, manchmal nein.«
Drefan fuhr sich erschöpft mit der Hand übers Gesicht. »Ich erzähle dir nur, was ich gesehen habe, Richard. Es gibt Menschen, die dir voller Überzeugung erzählen werden, dieses oder jenes treffe zu. Bald werden Leute auf den Straßen unfehlbare Heilmittel verkaufen, unstrittige Schutzmittel gegen die Pest. Scharlatane, alle miteinander.
Was ich dir zu verstehen geben will, ist, daß ich die Antwort nicht kenne. Manchmal übersteigt das Wissen unser begrenztes Auffassungsvermögen. Es gehört zu unseren Grundsätzen als Heiler, daß ein kluger Mann die Grenzen seines Wissens und seiner Fähigkeiten eingesteht, weil alles andere zu großem Schaden führen kann.«
»Sicher.« Richard kam sich töricht vor, da er auf Antworten gedrängt hatte, die niemand kannte. »Du hast natürlich recht. Es ist besser, die Wahrheit zu kennen, als seine Hoffnung auf Lügen zu setzen.«
Er sah zum Himmel, um den Stand der Sonne zu prüfen, doch zogen Wolken auf, die sie verdeckten. Ein kalter Wind erhob sich. Wenigstens war es nicht warm. Drefan hatte gesagt, bei Hitze verbreite sich die Pest am schnellsten.
Er sah wieder Drefan an. »Kennst du irgendwelche Kräuter – irgend etwas –, mit denen man sie verhindern oder heilen kann?«
»Eine übliche Vorsichtsmaßnahme besteht darin, das Zuhause der Erkrankten mit Rauch zu behandeln. Angeblich kann Rauch die Luft von den Ausdünstungen reinigen. Es gibt Kräuter, die für das Ausräuchern von Krankenzimmern empfohlen werden – aber soweit ich weiß, keine, die die Pest an sich heilen. Selbst bei diesen Behandlungsmethoden wird der Betreffende sehr wahrscheinlich ganz genauso sterben, nur daß ihm die Kräuter vor seinem Dahinscheiden etwas Linderung verschaffen.«
Kahlan berührte Drefan am Arm. »Sterben alle, die an der Pest erkranken? Ist jeder, der sich ansteckt, zum Tod verurteilt?«
Drefan lächelte sie beruhigend an. »Nein, manche erholen sich wieder. Anfangs weniger, am Ende einer Epidemie mehr. Manchmal erholt sich der Betreffende, wenn das Gift aus dem Körper abgelassen und die Infektion auf die Spitze getrieben werden kann, und beschwert sich dann sein Leben lang über die Tortur der Behandlung.«
Richard sah Yonick aus der Tür kommen. Er legte Kahlan den Arm um die Hüfte und zog sie an sich.
»Es ist also möglich, daß wir uns alle bereits angesteckt haben.«
Drefan sah ihm einen Moment lang in die Augen. »Das ist möglich, trotzdem glaube ich es nicht.«
Richards Kopf pochte, nur lag das nicht an irgendeiner Seuche, das rührte vom Schlafmangel und der Angst her.
»Na gut, gehen wir also zu den Häusern der anderen Jungen und sehen wir, was wir herausfinden können. Wir müssen soviel wie möglich in Erfahrung bringen.«