55

Kahlan stand hinter Richard, der auf seinem Stuhl in seinem Arbeitszimmer saß, hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen, die Wange auf den Kopf gelegt und weinte.

Richard rollte Rainas Strafer zwischen seinen Fingern hin und her. Berdine hatte gemeint, Raina habe gewollt, daß er ihn bekomme.

Die Mord-Sith hatte um Erlaubnis gebeten, zur Burg der Zauberer hinaufgehen und es Cara mitteilen zu dürfen. Sie hatte auch gefragt, ob sie deren Schicht bei der Wache der Sliph übernehmen könne, da Cara bereits die letzten drei Tage oben gewesen war.

Richard hatte ihr erklärt, sie möge tun, was immer sie wolle und so lange sie wolle, und wenn er ihre Wachschicht übernehmen oder ihr Gesellschaft leisten solle, brauche sie nur zu fragen. Sie hatte geantwortet, sie wolle lieber eine Weile alleine sein.

»Wieso hat der Tempel keine Nachricht geschickt?«

Kahlan strich ihm übers Haar. »Ich weiß es nicht.«

»Was sollen wir bloß tun?« fragte er. Er erwartete keine Antwort. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«

Kahlan ließ ihre Hände von seinen Schultern über die Oberarme gleiten. »Glaubst du, du findest in den Aufzeichnungen über die Verhandlung einen Hinweis?«

»Nach allem, was ich weiß, könnte es die allerletzte Zeile sein, die mir irgend etwas Brauchbares liefert.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Wir werden alle längst tot sein, bevor ich die letzte Zeile übersetzt habe.«

Richard hakte Rainas Strafer zum Amulett an die Kette auf seiner Brust. Die rote Farbe des Strafers paßte gut zu dem Rubin.

Es war eine ganze Weile still im Raum, bevor er es aussprach: »Jagang wird gewinnen.«

Kahlan drehte seinen Kopf zu sich herum. »Das darfst du nicht sagen.«

Er zwang sich zu lächeln. »Du hast recht. Wir werden ihn besiegen.«

An der Tür klopfte es. Auf Richards Frage, wer dort sei, steckte Ulic den Kopf zur Tür herein.

»General Kerson möchte wissen, ob Ihr ihm eine Minute Eurer Zeit widmen könntet, Lord Rahl.«

Kahlan gab Richard einen leichten Klaps auf die Schulter. »Ich werde gehen und Drefan und Nadine von Rainas Tod erzählen.«

Richard brachte sie zur Tür. Draußen wartete General Kerson, in der Hand die üblichen Berichte.

»Ich komme gleich nach«, sagte Richard.

Kahlan ging und überließ es Richard, sich die Berichte des Generals anzuhören. Egan schloß sich ihr an. Es war ein eigenartiges Gefühl, von Egan alleine beschützt zu werden, ohne eine Mord-Sith. Früher schien stets eine von ihnen in der Nähe gewesen zu sein.

»Mutter Konfessor«, setzte Egan an, »soeben sind im Palast einige Personen eingetroffen, die Euch und Lord Rahl sprechen möchten. Ich habe ihnen erklärt, alle seien sehr beschäftigt. Ich wollte Lord Rahl nicht unnötig damit belasten.«

»Angesichts des ganzen Ärgers ist der Saal der Bittsteller sicher voll von Menschen, die uns sprechen wollen.«

»Sie warten nicht im Saal der Bittsteller. Die Wachen haben sie angehalten, als sie einen der Empfangssäle betreten wollten. Sie sind nicht gerade überheblich, so wie manche anderen Abgesandten, die ich erlebt habe, aber sie legen eine merkwürdige Hartnäckigkeit an den Tag.«

Kahlan sah den riesenhaften, blonden D'Haraner stirnrunzelnd an. »Haben sie gesagt, wer sie sind? Hast du das herausfinden können?«

»Sie sagten, sie seien Andolier.«

Kahlan blieb mit einem Ruck stehen und packte Egans mächtigen Arm. »Andolier! Und die Wachen haben sie hereingelassen? Sie haben Andolier in den Palast gelassen?«

Egan runzelte verwirrt die Stirn. »Ich weiß nicht, wie sie hereingekommen sind. Nur, daß sie hier sind. War das falsch, Mutter Konfessor?«

Die Hand des Mannes ging sofort zum Schwert. »Nein, das eigentlich nicht. Nur … Gütige Seelen, wie soll man jemandem die Andolier erklären?« Sie suchte nach den passenden Worten. »Genaugenommen sind sie – gar keine Menschen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es gibt Geschöpfe der Magie, die in den Midlands leben, und es gibt Menschen mit Magie in den Midlands. Manchmal fällt es schwer, zwischen ihnen eine Trennlinie zu ziehen. Einige dieser Menschen mit Magie sind teils Kreatur – wie eben die Andolier.«

»Mit Magie?« fragte Egan, offensichtlich angewidert. »Sind sie gefährlich?«

Schweren Herzens entschied Kahlan sich anders und begab sich statt dessen zum Empfangssaal. »Im Grunde nicht. Jedenfalls normalerweise nicht. Vorausgesetzt, man weiß mit ihnen umzugehen.

Niemand kennt die Andolier genauer. Wir lassen sie in Frieden. Die meisten Völker der Midlands hegen eine starke Abneigung gegen sie. Die Andolier stehlen. Dabei geht es ihnen nicht um den Wert der Gegenstände, sondern sie sind einfach von bestimmten Dingen fasziniert. Meist von Dingen, die glänzen. Ein Stück Glas, eine Goldmünze oder ein Knopf – für sie bedeutet das alles dasselbe.

Die Menschen mögen die Andolier nicht, weil sie fast genau so aussehen wie du und ich. Deshalb denken die Menschen, sie müßten sich benehmen wie sie. Doch im Grunde sind es gar keine.

Gewöhnlich lassen sie sich nur aus reiner Neugier irgendwo blicken. Im Palast erhalten sie keinen Einlaß, weil sie sehr zwiespältige Gefühle wecken. Am besten sperrt man sie aus. Aufgrund ihrer Magie können sie ziemlich unangenehm werden, wenn man versucht, sie in die Schranken zu weisen. Sehr unangenehm.«

»Vielleicht sollte ich sie von den Soldaten hinauswerfen lassen.«

»Nein. Das könnte sehr gefährlich werden. Der Umgang mit ihnen erfordert eine ganz bestimmte Art von Protokoll. Glücklicherweise ist mir dieses Protokoll geläufig. Ich werde dafür sorgen, daß sie wieder verschwinden.«

»Und wie?«

»Die Andolier lieben es, Nachrichten zu überbringen. Das mögen sie lieber als alles andere – sogar noch lieber als glänzende Gegenstände. Ganz besonders gefällt es ihnen, Menschen Nachrichten zu überbringen. Vermutlich fühlen sie sich der menschlichen Seite zugehöriger, wenn sie in die Angelegenheiten der Menschen einbezogen werden.

Einige der Völker der Midlands setzen sie zu eben diesem Zweck ein. Andolier sind zuverlässiger als jeder Kurier. Sie sind bereit, es für einen glänzenden Knopf zu tun. Ja, sogar ohne Gegenleistung übernehmen sie jeden Auftrag. Das Überbringen von Nachrichten ist ihr Leben.

Ich brauche ihnen nur eine Botschaft zu geben, die sie übermitteln sollen, und sie werden sich sofort auf den Weg machen. Das ist die einfachste Methode, einen Andolier loszuwerden.«

»Die Frage ist nur, ob wir sie alle auf diese Weise loswerden«, meinte Egan, sich am Kopf kratzend.

»Alle? Gütige Seelen, sag bloß, es sind mehr als nur ein paar.«

»Sie sind zu siebt. Sechs Frauen, die alle gleich aussehen, sowie ein Mann.«

Kahlan blieb stehen. »Das glaube ich einfach nicht. Das müßten dann ja Legat Rishi und seine sechs Frauen sein, alles Schwestern. Die sechs Schwestern stammen übrigens alle aus einem … Wurf.«

Nach Ansicht der Andolier war nur ein Wurf von sechs Weibchen geeignet, die Frauen eines Legaten zu werden. Kahlan drehte sich der Kopf, als sie versuchte, sich trotz der Niedergeschlagenheit über Rainas Tod, über all die Toten zu konzentrieren. Sie mußte sich überlegen, wohin sie die Andolier schicken konnte, und dazu eine Nachricht, die sie überbringen sollten.

Vielleicht etwas über die Pest. Sie konnte sie mit einer Pestwarnung irgendwohin schicken. Vielleicht nach Süden, in die Wildnis. Die Stämme und Völker der Wildnis waren den Andoliern gegenüber toleranter als die meisten anderen Völker der Midlands.

Ein dichtes Gedränge aus waffenstrotzenden Wachen füllte die Flure rings um den Empfangssaal. Zwei Männer mit Langspießen öffneten die hohe, mit Mahagoni getäfelte Doppeltür, als Kahlan und Egan sich ihr näherten.

Bei dem Saal, in dem die Andolier warteten, handelte es sich um einen der kleineren ohne Fenster. Skulpturen jeder Art, angefangen bei Herrscherbüsten bis hin zu einem Bauern mit Ochsen, größtenteils aus blassem Marmor gearbeitet, ruhten auf quadratischen Granitblöcken, die man hinten vor die dunklen Wände gestellt hatte. Hinter jeder Skulptur hing ein als Verzierung dienender Wandbehang in tiefem Kastanienbraun, den man vor Halbsäulen aus dunkelviolettem Marmor zurückgebunden hatte, welche zwischen den einzelnen Skulpturen vor die Wand gesetzt worden waren. Das erweckte den Anschein, als werde jedes Einzelstück auf einer Bühne zur Schau gestellt, deren Vorhänge sich soeben öffneten.

Vier voneinander getrennte Trauben reich verzierter Lampen mit Zylindern aus geschliffenem Glas hingen an silbernen Ketten. Wegen des düsteren Dekors schafften es die vielen Lampen kaum, die Atmosphäre im Saal über eine gewisse bedrückende Stimmung hinaus aufzuhellen. Drei schwere, dunkle Tische ruhten auf dem schwarzen Marmorboden.

Vor einem dieser Tische standen die Andolier. Die sechs Schwestern waren rank und schlank und für Kahlan unmöglich auseinanderzuhalten. Ihr Haar hatten sie mit den Beeren des Hassetbusches, der in der Heimat der Andolier gedieh, leuchtend orange eingefärbt. Sie lebten weit entfernt und hatten eine lange Reise auf sich genommen, um nach Aydindril zu gelangen.

Mit ihren großen, runden Augen verfolgten sie, wie Kahlan auf sie zuging. Das orangefarbene Haar, zu Hunderten von kleinen Zöpfen geflochten, ließ die Frauen aussehen, als trügen sie Perücken aus Garn. In dieses garnartige Haar hineingeflochten waren kleine, glänzende Gegenstände – Knöpfe, Metallfetzen, Gold- und Silbermünzen, Glasscherben, Obsidiansplitter – alles, was sie ihrem Geschmack entsprechend für glänzend genug befunden hatten.

Alle sechs waren in schlichte, aber elegante Gewänder aus einem durchscheinenden, satinähnlichen Stoff gekleidet. Trotz allem, was Kahlan über die Andolier wußte – angeblich konnte bereits ein einfaches Gewitter sie winselnd und schutzsuchend unter einen Busch oder in ein Erdloch treiben –, strahlten sie eine gewisse Noblesse aus. Was auch verständlich war. Schließlich waren sie die Frauen des Legaten, des Führers der Andolier.

Der Legat selbst war kleiner als seine Frauen und erheblich älter. Sah man von seinen runden schwarzen Augen ab, wirkte er eher wie ein vornehmer, ein wenig zur Untersetztheit neigender Beamter. Über einem Kranz aus weißem Haar glänzte ein kahler Schädel. Der war mit irgendeinem Fett eingerieben worden, das ihm Glanz verleihen sollte.

Sein Gewand war denen seiner Frauen ähnlich, wenn auch aus einem goldenen Stoff, der mit Reihen glänzender, aufgenähter Objekte besetzt war. An jedem seiner Finger trug er wenigstens einen Ring. Von weitem ließen ihn all die glänzenden Gegenstände wohlhabend erscheinen. Aus der Nähe wirkte er eher wie ein verrückter Bettler, der sich durch einen Abfallhaufen gewühlt hatte, um wertlosen Tand daraus hervorzukramen, den normale Menschen weggeworfen hatten.

Die Augen des Legaten Rishi waren rot gerändert und wirkten übermüdet. Er trug ein idiotisches Grinsen im Gesicht und hielt sich nur schwankend aufrecht. Kahlan sah ihn nicht oft, aber so hatte sie ihn nicht in Erinnerung.

Die sechs Schwestern stellten sich in einer Reihe vor ihm auf. Stolz warfen sie sich in die Brust.

»Unser ist der Mond«, sagte eine der sechs.

»Unser ist der Mond«, erwiderte Kahlan die traditionelle Begrüßung unter Frauen. Ihre nachlassenden Bauchkrämpfe erinnerten sie daran, daß diese Formel mehr als eine Bedeutung hatte.

Die übrigen erwiderten den Gruß. Ihre Art, mit ihren großen schwarzen Augen zu blinzeln, bereitete Kahlan eine Gänsehaut. Nach der offiziellen Begrüßung teilten die sechs sich in zwei Dreiergruppen auf und traten zu beiden Seiten ihres Ehemannes zurück.

Der Legat hob eine Hand wie ein König, der eine Menschenmenge grüßt. Er grinste blödsinnig. Kahlan fand sein eigenartiges Betragen verwunderlich, war aber keineswegs sicher, ob es auch für einen Andolier seltsam war.

»Unser ist die Sonne«, nuschelte er.

»Unser ist die Sonne«, antwortete Kahlan, er jedoch ignorierte sie, als seine Aufmerksamkeit von etwas in ihrem Rücken abgelenkt wurde.

Kahlan drehte sich um und sah, wie Richard, das Gesicht glühend vor Wut, mit großen Schritten durch den Saal geeilt kam.

»Wie war das mit dem Mond?« fragte Richard, als er Kahlan erreicht hatte.

Sie ergriff seine Hand. »Richard«, warnte sie ihn, »das ist Legat Rishi mit seinen Frauen. Sie sind Andolier. Ich habe ihnen gerade ihren traditionellen Gruß entboten, das ist alles.«

Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Oh, verstehe. Als sie etwas vom Mond erwähnten, dachte ich –«

Plötzlich wich das Blut aus Richards Gesicht.

»Andolier«, sagte er leise zu sich selbst. »Zauberer Ricker hat etwas mit den Andoliern angestellt…« Er schien sich in einem Wust aus Gedanken zu verlieren.

»Unser ist die Sonne«, meinte Legat Rishi, noch immer grinsend. »Den Frauen gehört der Mond. Ein Mann und eine Frau teilen sich die Sonne, nicht den Mond.«

Richard strich sich über die Stirn. Er schien ganz von seiner Erinnerung oder Verwirrung in Anspruch genommen. Kahlan drückte seine Hand in der Hoffnung, er werde die Warnung verstehen und ihr die Sache überlassen. Sie wandte sich wieder dem Legaten zu.

»Legat Rishi, ich möchte, daß Ihr –«

»Unser Ehemann hat etwas getrunken, was ihn glücklich gemacht hat«, warf eine der Ehefrauen ein, als sei dies eine faszinierende Neuigkeit. »Er hat ein paar seiner Beutestücke gegen dieses Getränk eingetauscht.« Ihr Gesichtsausdruck nahm einen verlegenen Zug an. »Dadurch ist er auch sehr langsam geworden, sonst wären wir schon eher hier gewesen.«

»Danke, daß Ihr mir dies mitteilt«, meinte Kahlan. Man mußte einem Andolier stets für jede Information danken, die er über sich selbst preisgab. Informationen über sich selbst, auf diese Weise gewährt, galten als Geschenk.

Kahlan richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Legaten. »Legat Rishi, ich möchte, daß Ihr eine wichtige Nachricht für mich übermittelt.«

»Tut mir leid«, meinte der Legat. »Wir können keine Nachricht für Euch überbringen.«

Kahlan war sprachlos. Sie hatte noch nie gehört, daß sich ein Andolier weigerte, eine Botschaft zu übermitteln.

»Aber warum nicht?«

Eine der sechs Frauen beugte sich zu Kahlan. »Weil wir bereits eine Nachricht von großer Wichtigkeit mit uns führen.«

»Tatsächlich?«

Sie schlossen ihre großen schwarzen Augen einmal bis zur Hälfte. »Ja. Es ist die allergrößte Ehre. Unser Gatte übermittelt eine Nachricht des Mondes.«

»Er tut was?« fragte Richard kaum vernehmbar, während sein Kopf hochschoß.

»Der Mond schickt eine Nachricht von den Winden«, erklärte der Legat in seinem betrunkenen Nuscheln.

Kahlan hatte das Gefühl, als bleibe die Welt stehen.

»Wir wären schon eher hier gewesen, aber unser Gatte mußte oft haltmachen, um den Trank des Glücks zu trinken.«

Kahlan spürte, wie sie vor Angst am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam.

»Schon eher hier gewesen?« wiederholte Richard. »Ihr habt Euch betrunken, während all diese Menschen elendig ums Leben kamen?« Seine Stimme hallte wie ein Donnerschlag von den Wänden wider. »Raina ist gestorben, weil Ihr unterwegs wart, um Euch zu betrinken!«

Richard explodierte zu einer kaum erkennbaren Bewegung. Seine Faust traf den Legaten Rishi mit solcher Wucht, daß der Mann nach hinten über den Tisch kippte.

»Die Menschen krepieren, und Ihr lauft draußen herum und laßt Euch vollaufen!« brüllte Richard und setzte über den Tisch hinweg.

»Richard, nicht!« schrie Kahlan. »Er besitzt Magie!«

Kahlan sah ein rotes Etwas von der Seite heranschießen. Cara warf sich aus vollem Lauf über den Tisch und stieß Richard der Länge nach zu Boden.

Legat Rishi war außer sich, als er sich erhob. Blutiger Schaum bedeckte seinen Mund und baumelte in Fäden von seinem Kinn.

Ein flackerndes, loderndes Licht und Wellen hin und her zuckender Finsternis schossen strahlengleich an seinen Armen empor und sammelten sich auf seiner Brust, während er sich aufrappelte. Er sammelte seine magischen Kräfte, bereitete sich darauf vor, sie gegen Richard freizusetzen. Richard griff nach seinem Schwert.

Cara versetzte Richard abermals einen Stoß, warf sich dann wieder auf den Legaten und verpaßte ihm einen Schlag mit dem Handrücken auf seinen blutverschmierten Mund. Der Legat wirbelte herum und richtete seinen Zorn gegen sie.

Mit katzenhafter Behendigkeit schoß Cara an ihm vorbei, verpaßte ihm einen weiteren Schlag und lenkte seine Aufmerksamkeit von Richard ab. Jetzt folgte der Legat ihr.

Er hatte seine magischen Kräfte bereits gesammelt und setzte sie gegen sie frei.

Es gab einen dumpfen Schlag in der Luft, die im selben Augenblick in Schwingungen zu geraten schien.

Der Legat ging mit einem schmerzhaften Ächzen zu Boden. Cara war über ihm, bevor er auf dem Boden aufschlug. Sie preßte ihm den Strafer an den Hals.

»Du gehörst jetzt mir«, sagte sie voller Hohn, als er gequält den Mund aufsperrte. »Deine Magie gehört jetzt mir!«

»Cara!« gellte Kahlan. »Bring ihn nicht um!«

Die sechs Schwestern kauerten sich zu einem zitternden Häuflein zusammen und schlangen vor lauter Angst die Arme umeinander. Kahlan legte die Hand schützend auf die verängstigten Frauen und beruhigte sie, ihnen werde nichts geschehen.

»Tut ihm nicht weh, Cara«, sagte Kahlan. »Er ist im Besitz einer Nachricht vom Tempel der Winde.«

Cara hob den Kopf, einen verstörten Blick in den Augen.

»Ich weiß. Sie kam über die Magie zu ihm. Seine Magie gehört jetzt mir. Die Nachricht, die er bei sich trägt, ist in seine Magie eingebunden.«

Richard schob sein Schwert in die Scheide zurück. »Soll das heißen, Ihr kennt die Nachricht?«

Cara nickte, und ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich kenne sie, genau wie er. Ich teile seine Magie und damit seine Kenntnis von der Nachricht.«

»Ulic, Egan«, sagte Richard, »schafft die Soldaten raus. Schließt die Türen. Sorgt dafür, daß niemand hereinkommt.«

Während Ulic und Egan die Soldaten nach draußen geleiteten, packte Richard den Legaten am Kragen seines Gewandes und riß ihn hoch. Er wuchtete ihn auf einen Stuhl, dann baute er sich vor dem plötzlich lammfromm wirkenden Führer der Andolier auf.

Schwer atmend packte Richard das Amulett und Rainas Strafer. Seine Kinnmuskeln spannten sich, als er auf das Gesicht des Legaten zeigte.

»Raus mit der Nachricht. Und Ihr tätet gut daran, sie wahrheitsgemäß wiederzugeben. Tausende von Menschen sind schon gestorben, weil Ihr Euer Eintreffen hinausgezögert habt, um Euch zu betrinken.«

»Die Nachricht von den Winden ist für zwei Menschen bestimmt.«

Richard sah auf. Die Worte waren nicht allein aus dem Mund des Legaten gekommen, sondern auch aus Caras. Sie hatte die Worte mit ihm gemeinsam gesprochen.

»Kennt Ihr die Nachricht ebenfalls, Cara, genau wie er?«

Die Mord-Sith wirkte genauso überrascht wie Richard. »Sie … ist mir eingefallen, als sie ihm einfiel. Ich wußte nur, daß er eine Nachricht hatte. Er kannte sie erst, nachdem er sie ausgesprochen hatte. Und ich habe sie im selben Augenblick gewußt wie er.«

»Für wen ist die Nachricht bestimmt?«

Kahlan ahnte es bereits.

»Für den Zauberer Richard Rahl und für die Mutter Konfessor, Kahlan Amnell.« Wieder hatten beide gesprochen.

»Wie lautet die Nachricht?«

Kahlan wußte es. Sie stellte sich neben Richard, nahm seine Hand und hielt sie fest, als ginge es ums nackte Leben.

Der Saal war menschenleer bis auf Richard, Kahlan, Cara, den Legaten Rishi und die sechs Schwestern, die unter einem der Tische kauerten. Die Lampen überall im Saal verdunkelten sich, als hätte jemand ihre Dochte heruntergedreht. Sie alle wurden in ein unheimliches, flackerndes Licht getaucht.

Der Legat, dessen Gesicht jeden Ausdruck verloren hatte, schien in einen Trancezustand verfallen zu sein. Er stand vom Stuhl auf, während ihm das Blut noch immer vom Kinn tropfte. Er hob den Arm und deutete auf Richard. Diesmal sprach nur er.

»Die Winde rufen dich, Zauberer Richard Rahl. Magie wurde aus dem Tempel der Winde entwendet und in dieser Welt dazu benutzt, Unheil anzurichten. Du mußt heiraten, um in den Tempel der Winde zu gelangen.

Dein Weib wird eine Frau mit Namen Nadine Brighton sein.«

Unfähig zu sprechen, legte Richard Kahlans Linke auf sein Herz und hielt sie dort mit beiden Händen fest.

Cara hob mechanisch den Arm und deutete auf Kahlan. Diesmal sprach nur sie, mit förmlich kalter, herzloser Stimme.

»Die Winde rufen dich, Mutter Konfessor Kahlan Amnell. Magie wurde aus dem Tempel der Winde entwendet und in dieser Welt dazu benutzt, Unheil anzurichten. Du mußt heiraten, um Zauberer Richard Rahl zu helfen, in den Tempel der Winde zu gelangen.

Dein Gemahl wird ein Mann mit Namen Drefan Rahl sein.«

Richard sank auf die Knie. Kahlan sank neben ihm nieder.

Sie glaubte, etwas fühlen zu müssen. Dabei empfand sie nur dumpfe Benommenheit. Es war wie ein Traum.

Sie hatte nicht geglaubt, daß es jemals so weit kommen würde. Und jetzt, da es geschah, ging alles viel zu schnell, so als stürzte sie Halt suchend über eine Klippe, ohne etwas greifen zu können, das ihren Sturz bremste, während sie in eiskalte Finsternis fiel.

Es war vorbei. Alles war vorbei. Ihr Leben, ihre Träume, ihre Zukunft, ihre Freude – vorbei. Blieb nur noch, diese Farce bis zum Ende durchzustehen.

Richard war aschfahl im Gesicht, als er aufsah. »Cara, ich flehe Euch an, tut uns das nicht an.« Seine Stimme brach. »Bei den Gütigen Seelen, Cara, tut uns das nicht an.«

Caras kalte blaue Augen hielten seinem Blick stand.

»Ich tue Euch das nicht an. Ich überbringe nur die Nachricht von den Winden. Wenn Ihr den Tempel der Winde betreten wollt, müßt Ihr Euch beide mit den Bedingungen einverstanden erklären.«

»Warum muß Kahlan heiraten?«

»Die Winde verlangen eine jungfräuliche Braut.«

Richards Blick zuckte hinüber zu Kahlan. Er wandte sich wieder Cara zu.

»Sie ist keine Jungfrau.«

»Doch, das ist sie«, widersprach Cara.

»Nein! Ist sie nicht!«

Kahlan legte ihre Stirn an Richards Wange, schlang die Arme um seinen muskulösen Hals und schmiegte sich an ihn.

»Doch Richard, das bin ich«, sagte sie leise. »In dieser Welt bin ich das. Shota hat es mir erklärt. Für die Seelen zählt das allein. In dieser Welt, in unserer Welt, in der Welt des Lebendigen, bin ich noch Jungfrau. Wir waren in einer anderen Welt zusammen. Hier gilt das nicht.«

»Das ist verrückt«, entgegnete er leise mit heiserer Stimme. »Das ist einfach verrückt.«

»Es erfüllt die Anforderungen der Winde«, hielt Cara dagegen.

»Dies ist die einzige Chance, die man Euch bieten wird«, verkündete der Legat. »Ergreift Ihr sie nicht, endet damit die Verpflichtung der Winde, den Schaden wiedergutzumachen.«

»Cara, bitte«, flehte Richard. »Bitte … tut das nicht. Es muß doch einen anderen Weg geben.«

»Dies ist der einzige Weg.« Cara ragte in ihrer roten Lederkleidung vor ihnen auf. »Es liegt an Euch, ob ihr den Schaden beheben wollt. Ihr müßt einwilligen. Folgt ihr dem Ruf nicht, wird er kein zweites Mal erfolgen, und die freigesetzte Magie wird ungehindert wüten.«

»Die Winde wollen Eure Antwort hören«, forderte der Legat. »Ihr müßt beide aus freiem Willen zustimmen. Die Hochzeit muß in jeder Hinsicht gültig sein. Die Ehe muß auf Lebenszeit geschlossen werden. Ihr müßt beide mit ehrlichen Absichten heiraten und Euren Angetrauten treu sein.«

»Er spricht die Wahrheit der Winde. Wie lautet Eure Antwort?« fragte Cara mit einer Stimme kalt wie Eis.

Kahlan sah Richard durch einen tränenverhangenen Schleier an. Sie bemerkte, wie hinter seinen Augen in diesem Moment sein Leben zu Ende ging.

»Es ist unsere Pflicht. Nur wir können diese Menschen retten, aber wenn du es verlangst, Richard, werde ich ablehnen.«

»Wie viele Rainas müssen noch in meinen Armen sterben? Ich kann dich nicht um den Preis eines weiteren Menschenlebens bitten, mich zu nehmen.«

Kahlan unterdrückte ihr Schluchzen. »Gibt es eine Möglichkeit … weißt du eine Möglichkeit, wie wir die Pest aufhalten könnten?«

Richard schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich habe keinen Ausweg aus dieser Geschichte gefunden.«

»Du hast mich nicht im Stich gelassen, Richard. Ich könnte es nicht ertragen, der Grund dafür zu sein, daß noch mehr Menschen sterben wie Raina heute.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals. »Ich liebe dich, Richard.«

Richard zog ihren Kopf mit seiner großen Hand zu sich. »Dann sind wir uns also einig. Wir müssen es tun.«

Richard zog sie im Aufstehen hoch. Sie hatte ihm noch so viel zu sagen, doch brachte sie kein Wort heraus. Als sie in Richards Augen blickte, wußte sie, daß Worte überflüssig waren.

Sie wandten sich Cara und dem Legaten zu.

»Ich willige ein. Ich werde Nadine heiraten.«

»Ich willige ein. Ich werde Drefan heiraten.«

Kahlan sank Richard in die Arme, als sie die Kontrolle über ihre Tränen verlor. Sie schluchzte gequält. Richard umarmte sie und zerdrückte sie dabei fast.

Im Nu waren Cara und der Legat zur Stelle und zerrten sie auseinander.

»Ihr seid beide anderen versprochen«, sagte Cara. »Das ist Euch ab jetzt nicht mehr gestattet. Ihr müßt Euren Angetrauten treu sein.«

Kahlan sah Richard, vorbei an dem Legaten, in die Augen. Sie wußten beide, daß dies ihre letzte Umarmung gewesen war.

In diesem Augenblick brach für sie eine Welt zusammen.

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