Atme.
Kahlan tat, wie ihr befohlen, stieß die Sliph aus und sog die beißend kalte Luft ein.
Das Geräusch einer zischenden Fackel klang ihr in den Ohren. Ihr eigener Atem hallte schmerzhaft laut. Doch mittlerweile wußte sie, was sie zu erwarten hatte, und geduldete sich, bis die Welt um sie herum wieder in ihren Normalzustand zurückgekehrt war.
Nur war dies nicht normal. Wenigstens war es nicht die Art von normal, die sie erwartet hatte.
»Wo sind wir, Sliph?« Ihre Stimme hallte von allen Seiten wider.
»Dort, wohin du reisen wolltest: beim Jocopo-Schatz. Du solltest zufrieden sein, wenn aber nicht, versuche ich es noch einmal.«
»Nein, nein, nicht, daß ich nicht zufrieden wäre. Ich hatte es mir nur anders vorgestellt.«
Sie befand sich in einer Höhle. Die Fackel war nicht von der üblichen Sorte, die sie gewohnt war – ein Stück Holz mit etwas Pech am oberen Ende –, sondern bestand statt dessen aus zusammengebundenen Gräsern. Kahlan streifte mit dem Kopf fast die Decke, als sie die Beine von der Ummauerung der Sliph herunterschwang und sich aufrichtete.
Sie zog die Fackel aus gebündelten Gräsern aus der Spalte im groben Mauerwerk, wo sie jemand eingeklemmt hatte.
»Ich bin gleich wieder zurück«, meinte sie zur Sliph. »Ich sehe mich etwas um, und wenn ich keinen Weg nach draußen finde, komme ich zurück, und wir reisen woanders hin.« Ihr wurde klar, daß es einen Ausweg geben mußte, sonst wäre die Fackel nicht hier. »Oder ich komme zurück, sobald ich gefunden habe, was ich suche.«
»Ich bin für dich bereit, wenn du reisen willst. Wir werden wieder reisen. Du wirst zufrieden sein.«
Kahlan nickte dem silbernen Gesicht zu, in dem sich das tanzende Licht der Fackel spiegelte, dann trat sie tiefer in die Höhle hinein. Es gab nur einen Ausgang aus dem Raum, einen breiten, niedrigen Durchgang, also nahm sie diesen und folgte ihm auf seinem verschlungenen Weg durch das bräunliche Felsgestein. Ansonsten gab es weder andere Gänge noch Räume, und so setzte sie ihren Weg fort.
Der Gang führte in einen großzügigen Raum von vielleicht fünfzig bis sechzig Fuß Breite, und sie erkannte, wieso dieser Ort der Jocopo-Schatz genannt wurde. Das Licht der Fackeln wurde in Gestalt Tausender goldener Lichtfunken zurückgeworfen. Der Raum war voller Gold.
Einiges davon war in groben Barren oder Kugeln gestapelt, so als hätte man das geschmolzene Metall in Töpfe gegossen und diese dann drum herum weggebrochen. Einfache Kisten quollen über von Nuggets. Andere Kisten mit Griffen an beiden Seiten enthielten allerhand verschiedene Gegenstände aus Gold.
Es gab mehrere Tische, auf denen Goldscheiben lagen, sowie Regale parallel zu einer Wand. Darin standen mehrere goldene Statuen, hauptsächlich aber lagerten dort Rollen feinen Pergaments. Für den Jocopo-Schatz interessierte Kahlan sich nicht. Sie nahm sich nicht die Zeit, die Gegenstände, die sie auf allen Seiten umgaben, zu untersuchen, sondern begab sich statt dessen zum Gang auf der anderen Seite des Raumes.
Sie hatte nicht die Absicht, hier länger zu verweilen, denn sie war besorgt und wollte zu den Schlammenschen, doch selbst wenn sie Interesse daran gehabt hätte, sich umzusehen, wäre sie nicht lange geblieben. Die Luft roch entsetzlich und verursachte bei ihr Atembeschwerden und Hustenreiz.
Der faulige Gestank bewirkte, daß ihr Kopf sich zu drehen begann und sie Kopfschmerzen bekam.
Die Luft im Gang war besser, auch wenn man sie kaum als gut bezeichnen mochte. Sie tastete nach dem Knochenmesser und stellte fest, daß es noch immer warm war, wenngleich nicht mehr so heiß wie zuvor.
Der Tunnel begann auf seiner gewundenen Bahn anzusteigen. Weiter oben ging der dunkle Fels in Erde über, die stellenweise von Balken gestützt wurde. Sie fand keine weiteren Abzweigungen, bis sie schließlich frische Luft schnupperte. Dann zweigte ein Tunnel nach links ab, und ein paar Schritte weiter ein anderer nach rechts. Sie spürte die kühle Luft, die durch den geradeaus führenden hereinwehte, also folgte sie diesem.
Die Flamme der Fackel zuckte und flackerte, als sie in die Nacht hinaustrat. Der Himmel war mit funkelnden Sternen übersät. Nicht weit entfernt sprang eine Gestalt auf. Kahlan zog sich ein paar Schritte weit wieder in die Höhle zurück und sah sich kurz nach beiden Seiten um, ob noch jemand draußen lauerte.
»Mutter Konfessor?« erscholl eine bekannte Stimme.
Kahlan machte einen Schritt nach vorn und hielt die Fackel hinaus in die Nachtluft.
»Chandalen? Bist du das, Chandalen?«
Die muskulöse Gestalt sprang in den Schein der Fackel. Er trug kein Hemd und war mit Schlamm beschmiert. An Armen und Kopf waren Grasbündel festgebunden. Das schwarze Haar war mit dem klebrigen Schlamm, wie ihn die Jäger benutzten, glattgestrichen. Obwohl auch sein Gesicht damit bedeckt war, erkannte sie das breite, vertraute Grinsen wieder.
»Chandalen«, seufzte sie erleichtert. »Ach, Chandalen, was bin ich froh, dich zu treffen.«
»Und ich Euch, Mutter Konfessor.«
Er kam auf sie zu, um ihr einen Schlag ins Gesicht zu verpassen, die traditionelle Begrüßung der Schlammenschen, mit der man Respekt vor der Stärke des anderen bekundete. Kahlan hielt ihn mit ausgestreckten Händen von sich fern.
»Nicht! Bleib fort!«
Er richtete sich auf und blieb stehen. »Warum?«
»Weil dort, wo ich herkomme, in Aydindril, eine Krankheit ausgebrochen ist. Ich will keinem von euch zu nahe kommen, denn ich habe Angst, du oder jemand anderes von unserem Volk könnte sich anstecken.«
Die Schlammenschen waren tatsächlich ihr Volk. Sie und Richard waren vom Vogelmann und den anderen Dorfältesten zu Schlammmenschen ernannt worden und gehörten jetzt zur Dorfgemeinde, obwohl sie nicht dort lebten.
Chandalens Wiedersehensfreude schwand. »Auch hier wütet eine Krankheit, Mutter Konfessor.«
Kahlan senkte die Fackel. »Was?« fragte sie leise.
»Es ist viel passiert. Unser Stamm hat Angst, und ich kann ihn nicht beschützen. Großvaters Seele hat uns aufgesucht. Er meinte, es werde sehr großen Ärger geben.
Er sagte, er müsse mit Euch reden und werde Euch eine Nachricht senden, damit Ihr zu uns kommt.«
»Das Messer«, erwiderte sie. »Ich habe seinen Ruf über das Messer gespürt. Und ich habe mich sofort auf den Weg hierher gemacht.«
»Ja. Das erzählte er uns kurz vor der Dämmerung. Einer der Dorfältesten trat aus dem Haus der Seelen und sagte, ich solle hierher gehen und auf Euch warten. Wie seid Ihr durch das Loch in der Erde zu uns gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Es hat mit Magie zu tun … Chandalen, ich kann nicht warten, bis wir eine weitere Versammlung einberufen können, um mit den Ahnenseelen zu sprechen. Es gibt Schwierigkeiten. Ich kann mir nicht leisten, drei Tage lang zu warten.«
Er nahm ihr die Fackel aus der Hand. Sein Gesicht unter der Maske aus Schlamm wirkte hart.
»Es ist nicht nötig, drei Tage zu warten. Großvater erwartet dich im Haus der Seelen.«
Kahlan riß die Augen auf. Sie wußte, daß eine Versammlung nur die eine Nacht währte, in der sie einberufen wurde.
»Wie ist das möglich?«
»Die Ältesten sitzen noch im Kreis. Großvater trug ihnen auf, auf dich zu warten. Er wartet ebenfalls.«
»Wie viele sind erkrankt?«
Chandalen hielt alle zehn Finger einmal in die Höhe, dann, beim zweiten Mal, nur eine Hand. »Sie haben große Schmerzen im Kopf. Sie entleeren ihren Magen, obwohl sie nichts darin haben. Sie glühen vor Fieber. Einige von ihnen werden an den Fingern und Zehen schwarz.«
»Gütige Seelen«, sagte Kahlan leise zu sich selbst. »Ist schon jemand gestorben?«
»Heute, kurz bevor Großvater mich hierherschickte, ist ein Kind gestorben. Der Junge war als erster erkrankt.«
Kahlan fühlte sich selbst krank. Ihr drehte sich der Kopf bei dem Versuch, das Gehörte zu begreifen. Normalerweise duldeten die Schlammenschen keine Fremden in ihrem Dorf und verließen ihr Land nur äußerst selten. Wie konnte das geschehen?
»Waren irgendwelche Fremden hier, Chandalen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das würden wir nicht zulassen. Fremde bringen nichts als Ärger.« Er schien nachzudenken. »Möglicherweise hat es eine Fremde versucht. Aber wir haben ihr nicht erlaubt, das Dorf zu betreten.«
»Eine Frau?«
»Ja. Einige der Kinder waren draußen im Grasland und spielten Jagd. Eine Frau näherte sich ihnen und fragte, ob sie ins Dorf kommen dürfe. Die Kinder liefen zurück und erzählten uns davon. Als ich meine Jäger zu der Stelle führte, konnten wir sie nicht finden. Wir sagten den Kindern, die Ahnenseelen würden zornig werden, wenn sie uns noch einmal einen solchen Streich spielten.«
Kahlan hatte Angst, weiter nachzufragen, denn sie fürchtete sich vor der Antwort. »Das Kind, das heute gestorben ist, war eines der Kinder, die behauptet hatten, sie hätten die Frau getroffen, nicht wahr?«
Chandalen legte den Kopf schief. »Ihr seid eine weise Frau, Mutter Konfessor.«
»Nein, Chandalen. Ich habe nur Angst. Eine Frau kommt nach Aydindril und spricht Kinder an. Und jetzt beginnen sie zu sterben. Der Junge, der gestorben ist, hat er erzählt, sie habe ihm ein Buch gezeigt?«
»Als ich mit Euch auf meine Reise ging, habt Ihr mir diese Dinge gezeigt, die Ihr Bücher nennt und dazu benutzt, Wissen weiterzugeben, aber unsere Kinder kennen so etwas nicht. Wir unterrichten unsere Kinder mit lebenden Worten, wie es uns unsere Ahnen beigebracht haben.
Der Junge erzählte aber, die Frau habe ihm hübsche bunte Lichter gezeigt. Das klingt nicht nach den Büchern, an die ich mich erinnere.«
Kahlan legte Chandalen eine Hand auf den Arm, eine Geste, die ihm früher wegen der damit verbundenen Bedrohung durch die Kraft eines Konfessors angst gemacht hätte, die ihm jetzt jedoch aus einem ganz anderen Grund bedenklich erschien.
»Ihr habt gesagt, wir dürfen uns nicht nahe kommen.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, beruhigte sie ihn. »Ich kann keinen größeren Schaden mehr anrichten. Hier ist dieselbe Seuche ausgebrochen wie in Aydindril.«
»Es tut mir leid, Mutter Konfessor, daß Krankheit und Tod auch Euer Zuhause heimsuchen.«
Sie umarmten sich in Freundschaft und geteilter Angst.
»Was ist das hier für ein Ort, Chandalen? Diese Höhle?«
»Ich habe Euch damals davon erzählt. Es ist der Ort mit der schlechten Luft und dem wertlosen Metall.«
»Dann befinden wir uns nördlich des Dorfes?«
»Nördlich und ein Stück nach Westen.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir wieder im Dorf sind?«
Er schlug sich vor die eigene Brust. »Chandalen ist stark und rennt schnell. Ich habe das Dorf verlassen, als die Sonne unterging. Chandalen braucht nicht mehr als ein paar Stunden. Auch im Dunkeln nicht.«
Sie betrachtete das mondbeschienene Grasland jenseits des niedrigen, felsigen Hügels, auf dem sie standen. »Der Mond ist hell genug, um sehen zu können, wohin wir laufen.« Kahlan brachte ein dünnes Lächeln zuwege. »Außerdem müßtest du wissen, daß ich ebenso stark bin wie du, Chandalen.«
Der Schlammensch erwiderte das Lächeln. Es war ein wunderbarer Anblick, selbst unter den gegebenen Umständen.
»Ja, ich erinnere mich genau, wie stark du bist, Mutter Konfessor. Wir werden also rennen.«
Im Mondlicht waren die gespenstischen, kastenförmigen Umrisse des Dorfes der Schlammenschen nur schemenhaft zu erkennen, das verborgen in der dunklen, grasbewachsenen Ebene lag. In den kleinen Fenstern brannten kaum Lichter. Zu dieser späten Stunde waren nicht viele Menschen unterwegs, und Kahlan war froh darüber. Sie wollte sich die Gesichter dieser Menschen, die Angst und den Kummer in ihren Augen, ersparen. Viele von ihnen würden sterben.
Chandalen brachte sie auf dem kürzesten Weg zum Haus der Seelen am Nordende des Dorfes. Die meisten der Gebäude standen dicht beieinander, das Haus der Seelen aber stand ein wenig abseits. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Schindeldach, bei dessen Herstellung Richard geholfen hatte. Wachposten, Chandalens Jäger, hatten das fensterlose Gebäude umstellt.
Draußen vor der Tür, auf einer niedrigen Bank, hockte die väterliche Gestalt des Vogelmannes. Sein silbergraues Haar hing ihm über die Schultern und schimmerte im Mondlicht. Er war nackt. Schwarzer und weißer Schlamm bedeckte seinen Körper und sein Gesicht in einem Durcheinander aus Kreisen und Linien: eine Maske, die alle Teilnehmer der Versammlung trugen, damit die Seelen sie erkennen konnten.
Zwei Töpfe, einer mit weißem und der andere mit schwarzem Schlamm, standen zu Füßen des Vogelmannes auf dem Boden. Anhand des glasigen Blicks in seinen Augen wußte sie, daß er sich in Trance befand und daß Worte ihr nichts nützen würden. Ihr war klar, was sie zu tun hatte.
Sie löste die Schnalle ihres Gürtels. »Chandalen, würde es dir etwas ausmachen, dich umzudrehen, bitte? Und bitte deine Männer, dasselbe zu tun.« Größere Zugeständnisse an ihre Sittsamkeit ließen die Umstände nicht zu.
Chandalen erteilte seinen Männern den Befehl in seiner eigenen Sprache.
»Meine Männer und ich werden das Haus der Seelen bewachen, solange du mit den Ältesten drinnen bist«, erklärte Chandalen ihr über die Schulter hinweg.
Nachdem sie alle ihre Kleider abgestreift hatte und schließlich nackt in der kühlen Nachtluft stand, begann der Vogelmann schweigend, den klebrigen Schlamm aufzutragen, damit die Seelen auch sie erkennen konnten. Schläfrige Hennen hockten auf einer nahen, niedrigen Mauer und verfolgten das Geschehen. In der Mauer war immer noch die Kerbe von Richards Schwert zu sehen.
Sie wußte, ihr blieb keine andere Wahl: Sie mußte hineingehen und mit den Seelen sprechen, aber versessen war sie nicht darauf. Mit den Seelen sprach man nur in Zeiten allergrößter Not, und wenn das Ergebnis auch gelegentlich die gewünschten Antworten enthielt, so bereitete es doch niemals Freude.
Als der Vogelmann fertig war und Kahlan mit schwarzem und weißem Schlamm bedeckt hatte, führte er sie schweigend hinein. Die sechs Ältesten hockten im Kreis um die in der Mitte angeordneten Schädel ihrer Ahnen. Der Vogelmann nahm seinen Platz ein und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf die Erde. Kahlan ließ sich ihm gegenüber nieder, rechts von ihrem Freund Savidlin. Sie sprach ihn nicht an. Auch er befand sich in Trance und sah die Seelen in der Kreismitte.
Hinter ihr stand ein geflochtener Korb. Wissend, weshalb er dort stand, zog sie ihn zu sich und griff hinein. Zögernd schloß sie ihre Hand um einen zappelnden roten Seelenfrosch und preßte dessen Rücken zwischen ihre Brüste – die einzige Stelle, wo sie nicht bemalt war.
Der Schleim des Frosches kribbelte auf ihrer Haut. Sie ließ den Seelenfrosch los und faßte die Ältesten zu beiden Seiten an den Händen. Nicht lange dauerte es, bis sie spürte, wie sie scheinbar taumelnd in einen Dämmerzustand hinüberglitt.
Der Raum begann schwindelerregend zu kreisen. Sie wurde aus der Welt, die sie kannte, fortgetragen und in einen sich drehenden Strudel aus Licht und Schatten, Gerüchen und Klängen gesogen. Die Schädel drehten sich mit ihr.
Die Zeit verzerrte sich, ganz so wie in der Sliph, wenn auch nicht auf eine solch beruhigende Weise. Das Erlebnis hatte etwas Verstörendes, das ihr den Schweiß auf die Stirn trieb.
Und es bewirkte, daß die Seele in Erscheinung trat.
Ihre leuchtende Gestalt stand plötzlich vor ihr, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie erschienen war. Sie war einfach da.
»Großvater«, sagte sie leise in der Sprache der Schlammenschen.
Chandalen hatte davon gesprochen, es sei sein Großvater, der bei der Versammlung erschienen war, für sie dagegen bedeutete er noch weitaus mehr: Er war ihr Beschützer geworden. Sie spürte die Verbindung mit dem Knochen, der im Leben ihm gehört hatte.
»Kind.« Der unwirkliche Klang seiner Stimme, die durch den Vogelmann übermittelt wurde, kribbelte auf ihrer Haut. »Danke, daß du meinem Ruf gefolgt bist.«
»Was wünscht die Seele unseres Ahnen von mir?«
Der Mund des Vogelmannes bewegte sich zu der Stimme der Seele. »Das, von dem uns ein Teil anvertraut wurde, ist geschändet worden.«
»Euch anvertraut? Was hat man euch anvertraut?«
»Den Tempel der Winde.«
Kahlans nackter Körper überzog sich mit einer kribbelnden Gänsehaut.
Den Seelen anvertraut? Die Bedeutung dessen erzeugte in ihrem Kopf ein Schwindelgefühl. Die Welt der Seelen, das war die Unterwelt, die Welt der Toten. Wie konnte ein Tempel, der größtenteils aus leblosem Material wie Steinen bestand, in die Unterwelt geschickt werden?
»Der Tempel der Winde befindet sich in der Unterwelt?«
»Der Tempel der Winde existiert teils in der Welt der Toten und teils in der Welt des Lebendigen. Er existiert an beiden Orten gleichzeitig.«
»An beiden Orten, in beiden Welten gleichzeitig? Wie ist das möglich?«
Die leuchtende Gestalt, die einem vom Licht geworfenen Schatten glich, hob eine Hand. »Ist ein Baum ein Geschöpf der Erde wie die Würmer, oder ist er ein Geschöpf der Lüfte wie die Vögel?«
Kahlan wäre eine einfache Antwort lieber gewesen, doch sie war nicht so unklug, den Toten zu widersprechen.
»Verehrter Großvater, vermutlich gehört der Baum zu keiner Welt, existiert aber in beiden.«
Die Seele schien zu lächeln. »So ist es, Kind«, sagte sie durch den Vogelmann. »Genau wie der Tempel der Winde.«
Kahlan beugte sich vor. »Willst du damit sagen, der Tempel der Winde ist wie der Baum, mit Wurzeln in dieser Welt und den Ästen in der deinen?«
»Er existiert in beiden Welten.«
»Wo befindet er sich in dieser Welt, in der Welt des Lebendigen?«
»Dort, wo er immer war, auf dem Berg der Vier Winde. Du kennst ihn als Berg Kymermosst.«
»Berg Kymermosst«, wiederholte Kahlan tonlos. »Verehrter Großvater, ich war an diesem Ort. Der Tempel der Winde steht nicht mehr dort. Er ist verschwunden.«
»Du mußt ihn finden.«
»Ihn finden? Alles deutet darauf hin, daß er früher einmal dort gestanden hat, doch der Mutterfels des Berges ist an der Stelle, wo der Tempel früher stand, weggebrochen. Der Tempel ist bis auf einige seiner Nebengebäude verschwunden. Dort gibt es nichts mehr. Tut mir leid, verehrter Großvater, aber in unserer Welt sind seine Wurzeln abgestorben und verrottet.«
Die Seele stand da und schwieg. Kahlan befürchtete, sie könnte zornig werden.
»Kind«, sprach die Seele, wenn auch nicht durch den Vogelmann. Die Stimme kam aus der Seele selbst. Der Laut war so schmerzhaft, daß sie ihn kaum ertragen konnte. Ihr war, als werde ihr das Fleisch von den Knochen gebrannt. »Den Winden wurde etwas gestohlen und in deine Welt gebracht. Du mußt Richard helfen, oder all mein Blut in deiner Welt, unser gesamter Stamm, wird sterben.«
Kahlan schluckte. Wie konnte etwas aus der Welt der Seelen, der Welt der Toten, gestohlen und wieder in die Welt der Lebenden zurückgeschafft werden?
»Kannst du mir helfen? Kannst du mir einen Hinweis geben, der mir hilft, den Tempel der Winde zu entdecken?«
»Ich habe dich nicht hergerufen, um dir zu sagen, wie du den Tempel der Winde finden kannst. Die Wege der Winde werden sich mit dem Mond offenbaren. Ich habe dich hierher gerufen, damit du das Ausmaß dessen siehst, was freigesetzt wurde, und was aus deiner Welt werden wird, wenn man zuläßt, daß es weiterbesteht.«
Die Seele des Großvaters breitete die Arme aus. Weiches Licht stürzte kaskadenartig von ihnen herab, wie Wasser, das über ein schmales Felsband fließt. Das Licht breitete sich in ihrem Blickfeld aus, bis sie nichts mehr außer ihm sah.
Es klärte sich, und sie sah den Tod. Überall lagen Leichen, wie Laub, das im Herbst die Erde bedeckt. Sie lagen auf der Straße verstreut, wo sie gestürzt waren. Sie hockten auf Stufen, lehnten zusammengesunken an Geländern. Sie lagen in Hauseingängen und auf Leichenwagen. Kahlans Blick wurde wie auf den Schwingen eines Vogels durch Fenster getragen. Tote verwesten in ihren Häusern. Sie sah sie in Betten, auf Stühlen, in Fluren, hingestreckt auf dem Fußboden und übereinander gesunken.
Der Gestank raubte ihr den Atem.
Kahlan schwebte durch bekannte Ortschaften und Städte, und überall war es das gleiche. Der Tod hatte fast jeden dahingerafft, die Körper der Menschen wurden schwarz und faulig, noch bevor sie starben. Wohin sie sich auch wandte, überall weinten die wenigen Überlebenden voller Qualen.
Sie kehrte ins Dorf der Schlammenschen zurück. Dort sah sie die Leichen von Menschen, die sie kannte. Neben den Kochfeuern lagen tote Mütter, die ihre toten Kinder in den Armen hielten. Tote Ehemänner umschlangen ihre toten Frauen. Da und dort trauerten verwaiste Kinder mit tränenverschmierten Gesichtern und weinten hysterisch neben den Leichen ihrer Eltern. Der Gestank war allenthalben so überwältigend, daß ihre Augen tränten.
Kahlan unterdrückte ein Schluchzen und schloß die Augen. Es hatte keinen Sinn. Der Anblick der Toten brannte sich tief in ihre Seele ein.
»Das«, sagte der Großvater, »wird sich zutragen, wenn das, was den Winden gestohlen wurde, nicht aufgehalten wird.«
»Was kann ich tun?« fragte Kahlan leise weinend.
»Die Winde wurden geschändet. Man hat gestohlen, was ihnen anvertraut wurde. Die Winde haben beschlossen, du sollst der Pfad des Prinzen sein. Ich bin gekommen, um dir die Folgen dieser Schändung vor Augen zuführen und dich im Namen meiner lebenden Nachkommen zu bitten, deinen Teil zu tun, sobald man dich darum bittet.«
»Und was ist der Preis dafür?«
»Man hat mir den Preis nicht gezeigt, aber ich warne dich vorab:
Du hast keine Möglichkeit, dies zu umgehen oder zu vermeiden. Es muß geschehen, wie es dir offenhart wird, oder alles ist verloren. Ich möchte dich bitten, schlage den Weg ein, sobald die Winde ihn dir zeigen, denn sonst wird sich ereignen, was ich dir gezeigt habe.«
Kahlan, der die Tränen in Strömen über die Wangen liefen, brauchte nicht lange nachzudenken. »Ich werde es tun, Großvater.«
»Danke, Kind. Da ist noch etwas, das ich dir sagen möchte. In unserer Welt, in der die Seelen derer residieren, die aus deiner Welt gegangen sind, gibt es zum einen jene, die ihr Dasein im Licht des Schöpfers fristen, zum anderen die, die auf ewig durch den Hüter im Schatten seiner Herrlichkeit gehalten werden.«
»Willst du damit sagen, daß sowohl Gute als auch Böse Seelen in diese Angelegenheit verwickelt sind?«
»Das wäre eine übertriebene Vereinfachung, die fast den Blick auf die Wahrheit verstellt, aber näher kannst du in deiner Welt dem Verständnis dieser Welt nicht kommen. In dieser unserer Welt machen alle sie zu dem, was sie ist. Die Winde sind verpflichtet, jeden den Pfad selbst bestimmen zu lassen.«
»Kannst du mir sagen, wie die Magie den Winden gestohlen wurde?«
»Der Pfad war Verrat.«
»Verrat? Wen haben sie verraten?«
»Den Hüter.«
Kahlan sackte das Kinn herunter. Sie mußte sofort an die Schwester der Finsternis denken, die in Aydindril gewesen war: Schwester Amelia. Um die mußte es sich handeln. »Die Schwester der Finsternis hat ihren Herrn und Meister verraten?«
»Es war der Pfad dieser Seele, den Tempel der Winde durch den Saal des Verräters zu betreten. Das ist die einzige Möglichkeit, die erste und entscheidende Bresche zu schlagen. Sie wurde als Vorsichtsmaßnahme geschaffen.
Um den Saal des Verräters betreten zu können, muß der Betreffende alles vollständig und unwiderruflich verraten, an das er glaubt. Da er seine Ziele unwiederbringlich verraten hat, besitzt er keinen Grund mehr einzutreten.
Der Traumwandler fand eine Prophezeiung, die sich dazu benutzen ließ, seinen Widersacher zu besiegen, aber um sie in Kraft treten zu lassen, benötigte er eine Magie der Winde.
Er fand eine Möglichkeit, diese Seele zu zwingen, ihren Herrn und Meister, den Hüter, zu verraten und dennoch die Wünsche des Traumwandlers zu erfüllen. Dies gelang ihm, indem er anfangs zuließ, daß sie ihren Eid an den Hüter aufrechterhielt, und er sich selbst die Rolle ihres untergeordneten Meisters, ihres Herrn und Meisters in deiner Welt alleine, übertrug. Anschließend zwang er sie, ihren obersten Herrn und Meister zu verraten. Sie konnte den Saal des Verräters betreten, ohne daß ihr Auftrag und ihre Pflicht ihm gegenüber Schaden nahmen. Auf diese Weise schändete der Traumwandler die Winde und erreichte sein Ziel.
Diejenigen aber, die den Tempel in die Winde schickten, entwarfen einige Notpläne für den Fall, daß dergleichen geschehe. Der rote Mond war der Auslöser dieser Pläne.«
Bereits beim Wort Verrat schlug Kahlans Herz heftiger. »Müssen wir uns auf diese Art Zutritt zu den Winden verschaffen?«
Die Seele betrachtete sie nachdenklich, als wäge sie ihr Innerstes ab. »Ist der Tempel der Winde erst einmal geschändet, ist der Pfad verschlossen, und ein anderer muß gewählt werden. Aber das ist nicht deine Sorge. Die Winde werden ihre Bedingungen in Übereinstimmung mit den Geboten des Gleichgewichts bekanntgeben. Jene fünf Seelen, die die Winde bewachen, werden den Pfad entsprechend vorzeichnen.«
»Verehrter Großvater, wie kann ein Palast Anweisungen geben? Das klingt, als seien die Winde lebendig.«
»Ich existiere in der Welt des Lebendigen nicht mehr, aber wenn ich gerufen werde, kann ich Wissen durch den Schleier hindurch weitergeben.«
Kahlan schmerzte der Kopf vom Versuch, das alles zu begreifen.
Sie wünschte, Richard wäre hier, um Fragen zu stellen. Sie hatte Angst, die eine entscheidende zu vergessen.
»Aber verehrter Großvater, du kannst das tun, weil du eine Seele bist. Du hast gelebt. Du hast einen unsterblichen Geist.«
Die Seele begann zu verblassen.
»Die Grenze, der Schleier, wurde durch dieses Ereignis in den Winden beschädigt. Ich kann nicht länger verweilen. Die Skrin, die Bewacher der Grenze zwischen den Welten, ziehen mich zurück. Da die Schändung der Winde das Gleichgewicht verändert hat, können wir erst wieder zu einer Versammlung kommen, wenn dieses Gleichgewicht wiederhergestellt ist.« Die Seele verblaßte, bis sie kaum noch zu erkennen war.
»Großvater, ich muß mehr wissen. Ist die Seuche selbst Magie?«
Die Stimme kam aus großer Ferne. »Die in die Winde entsandte Magie ist von gewaltiger Kraft. Um sie ganz nutzen zu können, benötigt man ungeheures Wissen. Sie wurde ohne Verständnis dessen benutzt, was freigesetzt wurde oder wie man dies beherrscht. Die Pest wurde durch diese Magie ausgelöst, ganz so, wie der Blitz eines Zauberers zwar Magie ist, nicht aber die Feuersbrunst, die entsteht, wenn dieser Blitz in leicht entzündbares Grasland einschlägt. So verhält es sich auch mit der Pest. Sie wurde mit Hilfe von Magie ausgelöst, jetzt aber ist sie nur eine Seuche wie andere vorher auch – wahllos und unberechenbar –, doch angeheizt von Magie.«
»Die Pest ist hier und in Aydindril. Wird sie begrenzt bleiben?«
»Nein.«
Jagang war sich nicht darüber im klaren, was er angerichtet hatte. Wenn er zuließe, daß die Angelegenheit außer Kontrolle geriet, konnte sie am Ende ihn selbst töten.
»Hat sie, wie du mir gezeigt hast, bereits auf andere Orte übergegriffen? Ist sie auch an diesen anderen Orten bereits ausgebrochen?«
»Ja«, war ein fernes, hallendes Flüstern zu hören.
Sie hatten gehofft, die Pest auf Aydindril beschränken zu können. Diese Hoffnung war dahin. Die gesamten Midlands, die ganze Neue Welt stand im Begriff, von jenem Feuersturm verwüstet zu werden, den der magische Funke aus dem Tempel der Winde entfacht hatte.
In der Mitte des Kreises, dort, wo die Seele sich befunden hatte, entstand ein Luftwirbel, als die Seele wieder in der Unterwelt entschwand.
In der Ferne, in der Unterwelt, hörte Kahlan den Widerhall des Lachens einer anderen Seele. Das boshaft vergnügte Lachen bereitete ihr eine Gänsehaut.
Als Kahlan aus der Trance der Versammlung erwachte, standen die Ältesten im Kreis um sie herum. Sie waren an diesen veränderten Seinszustand mehr gewöhnt als sie. Ihr drehte sich noch immer der Kopf, außerdem war ihr schlecht. Der Älteste Breginderin hielt ihr die Hand hin und bot sich an, ihr aufzuhelfen.
Als sie seine Hand ergriff, sah sie die Male unter der Hülle aus schwarzem und weißem Schlamm. Sie schaute hinauf in sein Gesicht, in sein freundliches, beruhigendes Lächeln. Er würde diesen Tag nicht überleben.
Ihr Freund Savidlin war zur Stelle und hielt ihre Kleider. Kahlan fühlte sich trotz des Schlamms plötzlich sehr nackt. Sie begann ihre Kleider überzustreifen und versuchte sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Gleichzeitig schalt sie sich angesichts der bevorstehenden Katastrophe für derart weltliche Sorgen. In einer Versammlung ging es darum, die Seelen der Toten herbeizurufen, nicht darum, ob jemand Mann war oder Frau. Trotzdem, sie war die einzige des letzteren Geschlechts, während die anderen alle dem ersteren angehörten.
»Danke, daß du gekommen bist, Mutter Konfessor«, sagte der Vogelmann. »Wir wissen, diese Heimkehr ist nicht das freudige Ereignis, das wir uns alle gewünscht haben.«
»Nein«, antwortete sie leise, »das ist es wohl nicht. Mein Herz singt, weil ich mein Volk wiedersehe, aber das Lied ist getrübt von Traurigkeit. Wir werden nicht ruhen, bis diese Geschichte zu Ende gebracht ist.«
»Glaubst du, du kannst so etwas wie ein Fieber aufhalten?« fragte Surin.
Savidlin legte ihr eine Hand auf die Schulter, als sie ihr Hemd zuknöpfte. »Die Mutter Konfessor und Richard haben uns schon einmal geholfen. Wir wissen, wie tapfer sie sind. Unsere Ahnen meinten, es handele sich um ein Fieber, das durch Magie ausgelöst wurde. Die Mutter Konfessor und ihr Sucher besitzen mächtige Magie. Sie werden tun, was sie tun müssen.«
»Savidlin hat recht. Wir werden tun, was wir tun müssen.«
Savidlin lächelte sie an. »Und wenn du fertig bist, wirst du dann nach Hause zu deinem Volk kommen und dich wie geplant trauen lassen? Meine Frau Weselan möchte sehen, wie ihre Freundin, die Mutter Konfessor, in dem Kleid getraut wird, das sie für dich genäht hat.«
Kahlan hätte am liebsten lauthals aufgeschrien. »Nichts würde mir mehr Freude bereiten, als euch alle wohlbehalten zu sehen.«
»Du bist eine große Freundin unseres Volkes, Kind«, sagte der Vogelmann. »Wir alle freuen uns auf die Hochzeit, wenn du mit dieser Angelegenheit der Seelen und der Magie fertig bist.«
Kahlan blickte in alle Augen, die auf sie gerichtet waren. Sie glaubte nicht, daß diese Männer Zeugen der Visionen des Todes, die man ihr gezeigt hatte, oder der wahren Ausmaße der Seuche, mit denen sie es zu tun hatten, geworden waren.
»Verehrte Älteste, wenn wir scheitern … wenn wir…«
Ihr versagte die Stimme. Der Vogelmann kam ihr zur Hilfe.
»Solltest du scheitern, Kind, dann werden wir trotzdem alle wissen, daß du alles getan hast, was in deiner Macht stand. Wenn es einen Pfad gibt, dann wirst du alles tun, um ihn zu finden, das wissen wir. Wir vertrauen auf dich.«
»Danke«, murmelte sie.
Die Welt verschwamm hinter Tränen. Sie zwang sich, den Kopf nicht hängen zu lassen. Sie würde diesen Menschen nur angst machen, wenn sie ihre eigene zeigte.
»Kahlan, du mußt Richard mit dem Zorn heiraten.« Der Vogelmann lachte leise vergnügt in sich hinein, als wollte er sie aufmuntern. »Er hat sich bereits einmal einer Hochzeit mit einer Frau der Schlammenschen entzogen. Der Hochzeit mit dir wird er nicht entgehen, wenn ich etwas in der Angelegenheit zu sagen habe. Er muß eine Frau der Schlammenschen heiraten.«
Sie war zu benommen, um sein Lächeln zu erwidern.
»Wirst du den Rest der Nacht hierbleiben?« fragte Savidlin. »Weselan würde sich sehr freuen, dich zu sehen.«
»Verzeiht mir, verehrte Älteste, aber wenn ich euer Volk retten soll, muß ich sofort zurück. Ich muß zu Richard und ihn davon unterrichten, was ich mit eurer Hilfe herausgefunden habe.«