Nadine hielt inne.
»Wer …?«
»Er ist eine Art Heiler«, flüsterte Kahlan, während sie beobachtete, wie der Mann mechanisch nach unten geklettert kam. »Aus D'Hara. Mir wurde berichtet, er sei gekommen, um Richard seine Dienste anzubieten. Ich glaube, er ist ein wichtiger Mann.«
Nadine ging mit einem Murren darüber hinweg. »Was will er denn ohne Kräuter oder dergleichen anfangen?« Sie beugte sich vor, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Er scheint überhaupt nichts bei sich zu haben.«
Kahlan sagte ihr, sie solle still sein. Steinstaub knirschte unter seinen Stiefeln, als sich der Mann umdrehte. Das Geräusch hallte durch die angespannte Stille der Grube. Er kam gemessenen Schritts näher. Die Fackel befand sich hinter ihm an der Wand, so daß Kahlan seine Gesichtszüge unter der großen Kapuze nicht erkennen konnte.
Er war so groß wie Richard und hatte ebenso breite Schultern.
»Mord-Sith«, stellte er mit einer Stimme fest, die glatt und herrisch wirkte und ebenfalls ein wenig an Richards erinnerte.
Er zog eine Hand unter seinem Gewand hervor und machte eine Geste. Kahlan gehorchte und drehte Cara mit dem Rücken auf den Steinfußboden. Während er Caras Zittern zu begutachten schien, wollte Kahlan ihn nicht damit behelligen, daß sie die beiden einander vorstellte. Sie wollte nichts anderes, als daß jemand Cara half.
»Was ist mit ihr passiert?« fragte er aus dem Schatten seiner Kapuze heraus, mit einer Stimme, die fast ebenso tief und dunkel war.
»Sie hatte die Kontrolle über den Mann, der –«
»Er hatte die Gabe? Sie war mit ihm verbunden?«
»Ja«, antwortete Kahlan. »So nannte sie es.« Aus seiner Kehle löste sich ein Grunzen, als wollte er sich die Information gedanklich einverleiben. »Wie sich herausstellte, war der Mann von einem Traumwandler besessen und –«
»Was ist ein Traumwandler?«
»Soweit ich verstanden habe, jemand, der in den Verstand eines anderen eindringen kann, indem er in die Zwischenräume seiner Gedanken schlüpft. Auf diese Weise kann er den Betreffenden beherrschen. Er hatte insgeheim von diesem Mann Besitz ergriffen, mit dem sie verbunden war.«
Er dachte einen Augenblick lang nach. »Verstehe. Fahrt fort!«
»Wir kamen hier herunter, um den Mann zu verhören –«
»Um ihn zu foltern.«
Kahlan atmete gereizt durch. »Nein. Ich erklärte Cara, daß wir ihn nur befragen wollten, um, wenn möglich, Antworten zu erhalten. Der Mann war ein gedungener Mörder, den man geschickt hatte, um Lord Rahl zu töten. Und wenn er diese Fragen nicht beantwortet hätte, dann wäre Cara bereit gewesen, zu tun, was immer sie tun mußte, um an diese Antworten zu kommen – und um Lord Rahl zu schützen.
Aber soweit kam es gar nicht. Wir fanden heraus, daß dieser Traumwandler die Kontrolle über den Zauberer hatte und über seine Gabe. Der Traumwandler benutzte die Gabe des Mannes, um in das Gestein hinter Euch eine Prophezeiung zu schreiben.«
Der Heiler drehte sich nicht mal um. »Und weiter?«
»Dann wollte er fliehen. Cara hat versucht, ihn aufzuhalten –«
»Über ihre Verbindung?«
»Ja. Sie stieß einen Schrei aus, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte, hielt sich die Ohren zu und brach zusammen.« Kahlan deutete mit dem Kopf auf Nadine. »Diese Frau und ich haben den Mann verfolgt. Glücklicherweise haben wir ihn erwischt. Er kam zu Tode. Als wir zurückkamen, fanden wir Cara auf dem Fußboden vor. Sie wand sich in Krämpfen.«
»Ihr hättet sie nicht alleine lassen dürfen. Sie hätte an ihrem Erbrochenen ersticken können.«
Kahlan preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Ihr Gegenüber stand einfach da und sah zu, wie Cara sich schüttelte.
Schließlich riß ihr der Geduldsfaden. »Sie ist eine der persönlichen Leibwächterinnen von Lord Rahl. Wir brauchen sie. Habt Ihr die Absicht, Ihr zu helfen, oder wollt Ihr einfach nur rumstehen?«
»Immer mit der Ruhe«, entgegnete er in besorgtem Ton. »Zuerst muß man hinschauen, bevor man handelt, sonst richtet man am Ende noch mehr Schaden an.«
Kahlan funkelte die düstere Gestalt wütend an. Endlich ging er in die Hocke und setzte sich auf seine Fersen. Er ergriff Caras Handgelenk mit einer seiner großen Hände und schob einen Finger zwischen ihren Handschuh und ihren Ärmel. Mit einer fahrigen Geste deutete er auf die am Boden verteilten Gegenstände.
»Was ist das alles?«
»Das sind meine Arzneien«, erklärte Nadine. Sie reckte das Kinn vor. »Ich bin Heilerin.«
Noch immer Caras Handgelenk haltend, hob der Mann mit der anderen einen Lederbeutel hoch und betrachtete die Zeichen darauf. Er legte ihn wieder hin und nahm Nadine die beiden Hörner aus dem Schoß.
»Mutterkraut«, sagte er und warf es zurück in Nadines Schoß. Er betrachtete die Symbole auf dem anderen. »Zehrkraut.« Er warf es ebenfalls zurück.
»Ihr seid keine Heilerin, Ihr seid eine Kräuterfrau.«
»Wie könnt Ihr es wagen –«
»Habt Ihr der Frau, abgesehen von dem Lavendelöl, irgend etwas von Euren Arzneien gegeben?«
»Woher wißt … Ich hatte noch keine Zeit, ihr etwas anders zu geben.«
»Gut«, verkündete er. »Das Lavendelöl wird ihr nicht helfen, aber wenigstens schadet es auch nicht.«
»Na ja, ich weiß natürlich, daß es ihr die krampfartigen Zuckungen nicht nehmen wird. Es sollte nur ihre Schmerzen ein wenig lindern. Gegen die Zuckungen wollte ich ihr Passionsblumentinktur geben.«
»Ach, wirklich? Dann ist es ein Glück, daß ich rechtzeitig gekommen bin.«
Nadine verschränkte die Arme über der Brust. »Wieso denn das?«
»Weil Passionsblumentinktur sie mit großer Wahrscheinlichkeit getötet hätte.«
Nadines Miene verfinsterte sich. Sie löste die Arme voneinander und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Passionsblumen sind ein starkes Beruhigungsmittel. Wahrscheinlich hätte es ihre Zuckungen zum Stillstand gebracht. Hättet Ihr Euch nicht eingemischt, hätte ich sie inzwischen längst wiederbelebt.«
»Ach, tatsächlich? Habt Ihr ihren Puls gefühlt?«
»Nein.« Nadine wurde vorsichtig. »Warum auch? Welchen Unterschied hätte das gemacht?«
»Ihr Puls geht schwach, unregelmäßig und schleppend. Diese Frau kämpft mit aller Kraft gegen einen Herzstillstand. Hättet Ihr ihr Passionsblumen verabreicht, hätte es genau das bewirkt, was Ihr gerade sagtet: Es hätte sie beruhigt. Ihr Herz hätte ausgesetzt.«
»Ich … ich verstehe nicht, wieso…«
»Selbst eine einfache Kräuterfrau sollte wissen, daß Vorsicht angebracht ist, wenn man es mit Magie zu tun hat.«
»Magie.« Nadine ließ den Kopf hängen. »Ich bin aus Westland. Ich hatte noch nie zuvor mit Magie zu tun. Ich wußte nicht, daß Magie sich auf Heilkräuter auswirkt. Tut mir leid.«
Er ignorierte ihre Entschuldigung und zeigte auf Cara. »Öffnet die Knöpfe und macht sie oben herum frei.«
»Warum?« wollte Nadine wissen.
»Macht schon! Oder wollt Ihr sie sterben lassen? Lange wird sie nicht mehr durchhalten.«
Nadine beugte sich vor und ging daran, die Leiste mit den kleinen roten Lederknöpfen seitlich über Caras Rippen aufzuknöpfen. Als sie damit fertig war, machte er ihr ein Zeichen, daß sie das Ledergewand öffnen sollte. Nadine sah kurz zu Kahlan. Die nickte, und sie zog das geschmeidige Leder zurück und machte Caras Brust frei.
»Dürfte ich Euren Namen erfahren?« fragte Kahlan ihn.
»Drefan.« Anstatt sich nach ihrem zu erkundigen, legte er Cara ein Ohr auf die Brust und horchte.
Er ging um sie herum, bis er sich an Caras Kopf befand, und drängte Kahlan so, ihm eiligst Platz zu machen. Nun untersuchte er kurz die blutende Wunde über ihrem linken Ohr, dann, nachdem er sie offenbar als unbedeutend abgetan hatte, fuhr er damit fort, systematisch ihren Halsansatz abzutasten.
Kahlan konnte nichts von seinem Gesicht sehen, das im Schatten der tief heruntergezogenen Kapuze lag. Die eine Fackel spendete ohnehin nicht viel Licht.
Drefan beugte sich vor und umfaßte Caras Brüste mit seinen großen Händen.
Kahlan richtete sich auf. »Was glaubt Ihr, was Ihr da tut?«
»Ich untersuche sie.«
»So nennt Ihr das?«
Er lehnte sich auf seine Fersen zurück. »Betastet ihre Brüste.«
»Warum?«
»Damit Ihr seht, was ich herausgefunden habe.«
Schließlich löste Kahlan den Blick von seiner Kapuze, faßte aber nicht wie er beherzt zu, sondern legte die Rückseite ihrer Finger seitlich an Caras linke Brust. Sie war heiß – sie glühte vor Fieber. Sie befühlte die andere. Sie war eiskalt.
Auf einen Wink von Drefan tat Nadine es ihr nach. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie.
»Ich möchte mit meinem endgültigen Urteil warten, bis ich die Untersuchung abgeschlossen habe, aber es verheißt nichts Gutes.«
Er legte ihr die Finger seitlich an den Hals und fühlte erneut ihren Puls. Er strich ihr mit den Daumen nach außen über die Stirn. Dann beugte er sich vor und hielt sein Ohr nacheinander an ihre beiden. Prüfend sog er ihren Atem ein. Vorsichtig hob er ihren Kopf an und ließ ihn kreisen. Er breitete ihre Arme zu den Seiten aus, machte die Lederkleidung weiter auf, so daß Caras Oberkörper bis zur Hüfte nackt war, woraufhin er sich über sie beugte und ihren Unterleib bis unter die Rippen abtastete.
Den Kopf zur Seite geneigt, als konzentriere er sich, berührte er mit seinen Fingern einen Augenblick lang die Vorderseite ihrer Schultern, die Seiten ihres Halses, die Schädelbasis, ihre Schläfen, mehrere Stellen auf dem Brustkorb und ihre Handflächen.
Kahlan wurde allmählich ungeduldig. Sie sah eine Menge Grabschen und Betatschen, von Heilen jedoch keine Spur. »Und?«
»Ihre Aura ist ernsthaft verknotet«, verkündete er, während er ohne jede Scham seine große Hand unter das rote Leder auf Caras Hüfte schob.
Starr vor Fassungslosigkeit, verfolgte Kahlan, wie seine Hand bis zwischen ihre Beine glitt. Sie konnte sehen, wie er seine Finger unter dem engen Leder in ihr Geschlechtsteil einführte.
So fest sie konnte, boxte Kahlan ihn auf den Oberarm, auf einen äußerst empfindlichen Nerv.
Er zuckte vor Schmerz zurück. Stöhnend kippte er seitlich auf die Hüfte und hielt sich den Arm, wo sie ihn getroffen hatte.
»Wie könnt Ihr es wagen, sie so zu begrabschen! Das lasse ich nicht zu, habt Ihr verstanden!«
»Ich habe sie nicht begrabscht«, knurrte er.
Die Erregung war noch nicht aus Kahlans Stimme gewichen. »Wie nennt Ihr das denn?«
»Ich habe versucht festzustellen, was dieser Traumwandler mit ihr angestellt hat. Er hat ihre Aura stark durcheinandergebracht und dadurch ihren Verstand so verwirrt, daß sie ihren Körper nicht mehr kontrollieren kann.
Genaugenommen leidet sie gar nicht unter krampfhaften Zuckungen. Sie hat unkontrollierbare Muskelkontraktionen. Ich wollte mich vergewissern, ob er nicht den Teil ihres Gehirns aktiviert hat, der für die Erregung zuständig ist, ob er sie nicht in den Zustand eines dauerhaften Orgasmus versetzt hat. Dazu muß ich wissen, in welchem Ausmaß er die Sperren und Auslöser gestört hat, damit mir klar wird, wie sich der Prozeß umkehren läßt.«
Nadine bekam große Augen und beugte sich vor. »Magie wäre zu so etwas fähig? Daß ein Mensch einen … andauernden …?«
Er nickte und beugte seinen schmerzenden Arm. »Vorausgesetzt, der Fachmann weiß, was er tut.«
»Könntet Ihr so etwas zustande bringen?« fragte sie kaum hörbar.
»Nein. Ich besitze weder die Gabe noch irgendeine andere Form von Magie. Aber ich weiß, wie man heilt – vorausgesetzt, der Schaden ist nicht allzu groß.« Die Kapuze schwenkte zu Kahlan herum. »Darf ich jetzt fortfahren, oder wollt Ihr zusehen, wie sie stirbt?«
»Macht weiter. Aber wenn Ihr Eure Hand noch einmal dort unten hinlegt, werdet Ihr in Zukunft ein einarmiger Heiler sein.«
»Ich habe bereits herausgefunden, was ich wissen muß.«
Nadine beugte sich wieder vor. »Hat sie …?«
»Nein.« Er machte eine gereizte Handbewegung. »Zieht ihr die Stiefel aus.«
Nadine ging schwerfällig um sie herum und tat, was man ihr aufgetragen hatte. Er drehte sich leicht in Kahlans Richtung, so als wollte er sie aus den Tiefen seiner Kapuze heraus betrachten. »Wußtet Ihr, wo sich dieser bestimmte Nerv in meinem Arm befindet, oder war das einfach Glück?«
Kahlan musterte den Schatten und versuchte seine Augen zu erkennen. Es war unmöglich. »Ich wurde in diesen Dingen ausgebildet – damit ich mich und andere verteidigen kann.«
»Ich bin beeindruckt. Mit solchen Kenntnissen über die Nerven könntet Ihr lernen, wie man heilt, anstatt den Menschen weh zu tun.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Nadine. »Drückt die dritte vordere Achse des Rückenmeridians nach unten.«
Nadine zog ein Gesicht. »Was?«
Er fuchtelte mit der Hand herum und zeigte es ihr. »Zwischen der Sehne hinten an ihrer Ferse und dem Knochen, der zu den Seiten hin vorsteht. Drückt dort mit Daumen und einem Finger zu. An beiden Knöcheln.«
Nadine tat, wie ihr geheißen, während Drefan mit seinen beiden kleinen Fingern hinter Caras Ohren und gleichzeitig mit den beiden Daumen auf ihren Schultern zudrückte. »Fester, Frau.« Er legte Cara beide Handflächen übereinander auf das Brustbein.
»Jetzt den zweiten Meridian«, brummte er.
»Was?«
»Geht einen halben Zoll nach unten und wiederholt dort dieselbe Prozedur. An beiden Knöcheln.« Er glitt mit Fingern hoch zu Caras Kopf, konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. »Sehr gut. Den ersten Meridian.«
»Wieder einen halben Zoll nach unten?« fragte Nadine.
»Ja, ja. So beeilt Euch doch.«
Er hielt Caras Ellenbogen zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie beide ein paar Zoll in die Höhe.
Schließlich ließ er sich mit einem Seufzer auf die Fersen zurücksinken. »Erstaunlich«, murmelte er wie zu sich selbst. »Das ist nicht gut.«
»Was denn?« wollte Kahlan wissen. »Soll das heißen, daß Ihr ihr nicht helfen könnt?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wäre er zu beschäftigt, um zu antworten.
»Antwortet mir«, hakte Kahlan beharrlich nach.
»Wenn ich will, daß Ihr mich behelligt, Frau, dann werde ich Euch darum bitten.«
Nadine beugte sich vor und legte den Kopf schief. »Habt Ihr eigentlich eine Ahnung, mit wem Ihr sprecht?« Sie deutete mit dem Kinn auf Kahlan.
Er war damit beschäftig, Caras Ohrläppchen abzutasten. »Ihrem Aussehen nach würde ich sagen mit irgendeiner Putzfrau. Einer, die dringend ein Bad benötigt.«
»Ich habe gerade ein Bad genommen«, erwiderte Kahlan kaum hörbar.
Nadine senkte gewichtig die Stimme. »Ihr tätet gut daran, ein wenig Respekt an den Tag zu legen, Heiler. Ihr gehört der gesamte Palast hier. Alles. Sie ist die Mutter Konfessor höchstpersönlich.«
Er strich Cara mit dem Finger über die Innenseite ihrer Oberarme. »Tatsächlich? Nun, das ist schön für sie. Und jetzt seid bitte still, alle beide.«
»Außerdem ist sie die Verlobte von Lord Richard Rahl.«
Drefans Hand erstarrte. Sein ganzer Körper spannte sich an.
»Und da Lord Rahl der Herrscher D'Haras ist und Ihr aus D'Hara stammt«, fuhr Nadine fort, »macht ihn das vermutlich zu Eurem Dienstherrn. An Eurer Stelle würde ich gegenüber der zukünftigen Frau von Lord Richard Rahl ein wenig mehr Respekt an den Tag legen. Ich habe gesehen, wie er Leuten für ihre Grobheiten die Zähne ausgeschlagen hat.«
Drefan bewegte keinen Muskel.
Kahlan fand, daß Nadine es sehr derb formuliert hatte, bezweifelte aber, daß man es deutlicher hätte ausdrücken können.
»Und nicht nur das«, fügte Nadine hinzu, »sie ist es auch gewesen, die den Meuchelmörder getötet hat. Mit Magie.«
Endlich räusperte sich Drefan. »Verzeiht mir, Herrin…«
»Mutter Konfessor«, verbesserte Kahlan ihn.
»Ich bitte untertänigst um Verzeihung … Mutter Konfessor. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte nicht die Absicht, einen…«
Kahlan schnitt ihm das Wort ab. »Verstehe. Ihr wart mehr darum bemüht, Cara hier zu heilen, als Euch mit Förmlichkeiten abzugeben. Genau wie ich. Könnt Ihr ihr helfen?«
»Ja.«
»Dann fahrt bitte fort damit.«
Er wandte sich augenblicklich wieder Cara zu. Stirnrunzelnd verfolgte Kahlan, wie seine Hände nach einem bestimmten Muster über den dahingestreckten Körper glitten, wobei seine Finger unter einer nicht erkennbaren Anstrengung zu zittern begannen.
Nadine, zu Caras Füßen, verschränkte erneut die Arme. »Das nennt Ihr heilen? Meine Kräuter hätten besser gewirkt als dieser Unfug, und obendrein schneller.«
Er schaute hoch. »Unfug? Ihr haltet das für Unfug? Für irgendeinen Hokuspokus? Habt Ihr auch nur die geringste Ahnung, junge Frau, womit wir es hier zu tun haben?«
»Mit einem Krampfanfall. Dagegen muß man etwas tun, nicht beten.«
Er richtete sich auf. »Ich bin der Hohepriester der Raug'Moss. Es ist nicht meine Art, für meine Heilerfolge zu beten.« Nadine schnaubte spöttisch. Er nickte, als hätte er einen Entschluß gefaßt. »Ihr wollt sehen, womit wir es zu tun haben? Ihr wollt einen Beweis, den Ihr mit Eurem schlichten Kräuterfrauenblick begreifen könnt?«
Nadines Blick verfinsterte sich. »Angesichts fehlender Ergebnisse wäre ein kleiner Beweis nicht schlecht.«
Er deutete auf etwas. »Ich habe ein Horn mit Beifuß gesehen.
Gebt es mir. Vermutlich habt Ihr auch eine Wachskerze in Eurem Beutel. Zündet sie an.«
Während Nadine die Kerze zur Fackel trug, um sie dort anzuzünden, schlug Drefan sein Gewand auf und entnahm einem Beutel mehrere Gegenstände. Nadine reichte ihm die brennende Kerze. Er träufelte heißes Wachs neben sich auf den Fußboden und steckte die Kerze darin fest.
Der Hohepriester langte unter sein Gewand und holte ein langes Messer mit dünner Klinge hervor. Er beugte sich vor und preßte es zwischen Caras Brüste. Der rubinrote Tropfen unter der Messerspitze wurde immer größer. Er legte das Messer zur Seite und beugte sich über sie. Mit einem langstieligen Löffel schöpfte er das Blut von ihrer Haut.
Er lehnte sich zurück, entkorkte das Horn, das Nadine ihm gegeben hatte, und schüttelte ein wenig Beifuß auf das Blut im Löffel. »Das nennt Ihr Beifuß! Man darf nur die pelzige Unterseite der Blätter sammeln. Ihr habt das ganze Blatt daruntergemischt.«
»Das spielt keine Rolle. Es ist alles Beifuß.«
»Von sehr schlechter Qualität, wenn man es so macht. Ihr solltet wissen, daß man Beifuß von hoher Qualität benutzt. Was für eine Kräuterfrau seid Ihr eigentlich?«
Nadine kniff empört die Augen zusammen. »Er wirkt prächtig. Wollt Ihr Euch etwa herausreden, damit Ihr uns nicht beweisen müßt, Ihr wüßtet, was Ihr tut? Wollt Ihr Euer Versagen etwa auf die schlechte Qualität des Beifußes schieben?«
»Für meine Zwecke ist die Qualität mehr als ausreichend, für Eure hingegen nicht.« Sein Ton wurde belehrend und dabei geradezu höflich. »Reinigt das nächste Mal die Probe, die Ihr gesammelt habt, und Ihr werdet feststellen, daß es wesentlich besser wirkt.«
Er beugte sich vor, hielt den Löffel in die Spitze der Kerzenflamme, bis der Beifuß sich entzündete und dabei reichlich Rauch und einen schweren moschusartigen Geruch absonderte. Drefan ließ den qualmenden Löffel über Caras Bauch kreisen und hüllte ihn so in Rauch.
Schließlich gab er den Löffel mit dem kokelnden Beifuß an Nadine weiter. »Haltet ihr das zwischen die Füße.«
Er legte die Finger an die Schläfen und sprach leise murmelnd einen Sprechgesang.
Dann löste er die Hände von seinem Kopf. »Jetzt paßt auf, und Ihr werdet sehen, was ich sehen kann, Ihr werdet fühlen, was ich – ohne den Rauch – fühlen kann.«
Er legte Cara die Daumen an die Schläfen und die kleinen Finger seitlich an den Hals.
Ein Ruck ging durch die dichte Schicht aus Beifußrauch.
Kahlan stockte der Atem, als sie seilartige Rauchlinien sah, die sich über Caras gesamtem Körper wanden und schlängelten. Drefan löste seine Hände, und die Rauchspuren erstarrten zu einem ruhenden Geflecht aus Linien. Einige spannten sich von ihrem Brustbein zu ihren Brüsten, ihren Schultern, Hüften und Schenkeln. Ein Gewirr aus Linien führte von der oberen Hälfte ihres Kopfes zu Punkten überall auf ihrem Körper.
Drefan fuhr mit dem Finger an einer entlang. »Seht Ihr diese hier? Von ihrer linken Schläfe zum linken Bein? Seht her.« Er preßte seine Finger links gegen die Unterseite ihres Schädels, und die Rauchlinie wechselte hinüber auf das rechte Bein. »Da. Dort gehört sie hin.«
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Kahlan verwundert.
»Das sind ihre Meridianlinien: der Fluß ihrer Kraft, ihres Lebens. Ihre Aura. Es ist noch mehr als das, aber es ist schwierig, Euch das alles mit ein paar wenigen Worten zu erklären. Ich habe nichts anderes getan als das, was ein Sonnenstrahl tut, der die durch die Luft treibenden Staubpartikel sichtbar macht.«
Nadine war die Kinnlade heruntergeklappt. Sie hockte da wie erstarrt und hielt den rauchenden Löffel. »Wie habt Ihr die Linie dazu gebracht, sich zu bewegen?«
»Dadurch, daß ich eine heilende Kraft mit Hilfe meiner Lebensenergie dorthin gezwungen habe, wo sie benötigt wird.«
»Dann besitzt Ihr Magie.«
»Nein, Übung. Preßt ihre Fersen, wie beim ersten Mal.«
Nadine legte den Löffel beiseite und drückte auf Caras Fersen. Das Gewirr der Linien, die zu den Beinen hinunterführten, drehte und entwirrte sich und verschob sich in einer geraden Linie von den Hüften zu den Beinen.
»Da«, meinte Drefan. »Ihr habt soeben ihre Beine entwirrt. Seht Ihr, wie sie sich beruhigt haben?«
»Das war ich?« fragte Nadine ungläubig.
»Ja. Aber das war der einfache Teil. Seht Ihr das hier?« Er deutete auf ein Geflecht aus Linien, das von ihrem Kopf ausging. »Dies ist der gefährliche Teil dessen, was der Traumwandler angerichtet hat. Es muß rückgängig gemacht werden. Diese Linien deuten darauf hin, daß sie ihre Muskeln nicht kontrollieren kann. Sie kann nicht sprechen, und sie wurde geblendet. Seht Ihr, hier? Diese Linie, die von ihren Ohren nach außen führt und dann wieder zurück zu ihrer Stirn? Das ist die einzige, die korrekt verläuft. Sie kann alles hören und verstehen, was wir sagen, sie kann nur nicht darauf reagieren.«
Jetzt blieb auch Kahlan der Mund offenstehen. »Sie kann uns verstehen?«
»Jedes Wort. Seid versichert, sie weiß, daß wir Ihr zu helfen versuchen. Und nun, bitte, muß ich mich konzentrieren. Dies alles muß in der richtigen Reihenfolge geschehen, sonst verlieren wir sie.«
Kahlan machte eine auffordernde Handbewegung in seine Richtung. »Natürlich. Tut, was Ihr müßt, um sie zu retten.«
Drefan beugte sich über seine Arbeit, arbeitete sich um Caras Körper herum, preßte seine Finger oder seine flache Hand auf verschiedene Stellen ihres Körpers. Ab und zu benutzte er die Messerspitze und schnitt in die Haut. Er entnahm nie mehr als einen Tropfen Blut. Bei fast jedem Handgriff bewegten sich einige der seilartigen Rauchlinien. Sie entwirrten sich, einige legten sich auf Caras Körper, während andere sich in schwungvollem Bogen nach außen krümmten, bevor sie zu einer von ihm behandelten Stelle zurückkehrten.
Als er das Fleisch zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger zusammendrückte, streckten sich nicht nur die Rauchlinien über ihrem Arm, sondern Cara stöhnte erleichtert auf, drehte den Kopf und bewegte die Schultern. Es war überhaupt die erste normale Reaktion, die Cara zeigte. Nachdem er ihr das Messer oben in die Fersen gestochen hatte, japste sie keuchend nach Luft und begann in gleichmäßigem, wenn auch schnellem Rhythmus zu atmen. Ein Gefühl der Erleichterung und Hoffnung durchströmte Kahlan.
Schließlich hatte er sie einmal ganz umrundet und bearbeitete ihren Kopf, indem er ihr die Daumen längs des Nasenrückens und quer über die Stirn aufdrückte. Ihr Körper war vollkommen ruhig und zuckte nicht mehr. Ihre Brust hob und senkte sich mühelos.
Er preßte ihr die Messerspitze zwischen die Augenbrauen. »Das sollte genügen«, murmelte er in sich hinein.
Cara schlug die blauen Augen auf. Ihr Blick suchte herum, bis er Kahlan fand. »Ich habe gehört, was Ihr gesagt habt«, sagte sie leise. »Ich danke Euch, meine Schwester.«
Kahlan lächelte erleichtert. Sie wußte, was sie meinte. Cara hatte tatsächlich mitbekommen, wie Kahlan zu ihr gesagt hatte, sie sei nicht allein.
»Ich habe Marlin erwischt.«
Cara lächelte. »Ihr macht mich stolz darauf, in Euren Diensten zu stehen. Leider war all Eure Mühe, mich zu heilen, umsonst.«
Kahlan runzelte die Stirn. Sie wußte nicht, worauf die Mord-Sith hinauswollte. Cara drehte den Kopf zurück und sah hoch zu Drefan, der sich über sie beugte.
»Wie fühlt Ihr Euch?« erkundigte er sich. »Fühlt sich jetzt wieder alles normal an?«
Sie runzelte die Stirn, und sie bekam einen benommen verwirrten Blick, der an Bestürzung grenzte.
»Lord Rahl?« fragte sie ungläubig.
»Nein. Ich bin Drefan.«
Er schlug seine Kapuze mit beiden Händen zurück. Kahlan bekam große Augen, ebenso Nadine.
»Aber Darken Rahl war auch mein Vater. Ich bin Lord Rahls Halbbruder.«
Kahlan starrte ihn verwundert an. Dieselbe Größe, derselbe muskulöse Körperbau wie bei Richard. Blondes Haar wie das von Darken Rahl, wenn auch kürzer und nicht so glatt. Richards Haar war dunkler und nicht so fein. Drefans Augen, eher stechend blau wie die von Darken Rahl als grau wie Richards, wiesen dennoch die gleiche raubvogelhafte Schrägstellung auf. Seine Züge besaßen dieselbe unfaßbare Perfektion einer Statue wie die von Darken Rahl. Diese grausame Vollkommenheit hatte Richard nicht geerbt. Drefans Äußeres, irgendwo in der Mitte zwischen beiden, neigte ein wenig mehr zu Darken Rahl als zu Richard.
Aber obschon kein Mensch Drefan mit Richard verwechseln würde, hätte niemand Mühe zu erkennen, daß sie Brüder waren.
Sie fragte sich, wieso Cara dieser Irrtum unterlaufen war. Dann sah sie den Strafer in Caras Faust. Mit ›Lord Rahl‹ hatte Cara gar nicht ihn gemeint. Sie hatte in ihrem verwirrten Zustand keinesfalls Richard in ihm gesehen.
Sie hatte ihn für Darken Rahl gehalten.