10

Hinter der letzten, zischenden Fackel verlor sich der Gang in Dunkelheit. Ein Soldat lag zusammengesunken an der Seite wie ein Haufen schmutziger Wäsche, die darauf wartet, abgeholt zu werden. Sein schwarzverkohltes Schwert lag mitten im Gang, die Klinge zu einem verdrehten Gewirr aus ineinander verschlungenen Stahlstreifen zersplittert.

Kahlan blieb stehen und blickte angestrengt in die reglose Stille, die vor ihr lag. Nichts war dort zu erkennen, nichts war von dort zu hören. Marlin konnte sich überall aufhalten, konnte sich in einem Nebengang verstecken, konnte mit Jagangs selbstzufriedenem Grinsen im Gesicht in einem Winkel lauern, den Verfolgern den Garaus zu machen.

»Ihr bleibt hier, Nadine!«

»Nein. Ich sagte bereits, wir beschützen unsere Leute. Er will Richard töten. Das lasse ich ihm nicht durchgehen, nicht solange ich noch die Chance habe zu helfen.«

»Die einzige Chance, die Ihr habt, besteht darin, daß Ihr getötet werdet.«

»Ich komme mit.«

Kahlan hatte weder Zeit noch Lust auf Diskussionen. Wenn Nadine unbedingt mitkommen wollte, dann sollte sie sich wenigstens nützlich machen. Kahlan mußte die Hände frei haben.

»Dann nehmt die Fackel dort.«

Nadine riß sie aus der Halterung und wartete.

»Ich muß ihn berühren«, erklärte ihr Kahlan. »Wenn ich ihn berühre, kann ich ihn töten.«

»Wen, Marlin oder Jagang?«

Kahlans Herz pochte laut in ihrer Brust. »Marlin. Wenn Jagang in seinen Verstand eindringen konnte, dann kann er vermutlich auch wieder heraus. Aber wer weiß? Zumindest wären wir Jagang fürs erste los, und sein Günstling wäre tot. Damit hätte die Sache ein Ende. Vorläufig.«

»War es das, was Ihr unten in der Grube versucht habt? Was habt Ihr damit gemeint, man müsse sich entscheiden, ein Leben für alle anderen?«

»Jetzt hört mir einmal zu. Hier geht es nicht um irgendeinen Tommy Lancaster, der Euch vergewaltigen will, wir haben es vielmehr mit einem Mann zu tun, der versucht, uns alle umzubringen. Ich muß ihn daran hindern. Wenn ein anderer ihn zur selben Zeit berührt wie ich, dann wird er mit ihm zusammen vernichtet. Ich werde nicht zögern, wenn Ihr oder jemand anderes ihn berührt. Habt Ihr das verstanden? Ich kann es mir nicht leisten zu zögern. Dafür steht zuviel auf dem Spiel.«

Nadine nickte. Sie richtete ihren Zorn auf die bevorstehende Aufgabe.

Kahlan fühlte, wie ihr das Blut von den Fingerspitzen ihrer linken Hand tropfte. Vermutlich würde sie den linken Arm nicht heben können, und den rechten brauchte sie, um Marlin zu berühren. Nadine konnte wenigstens die Fackel halten. Hoffentlich beging sie damit keinen Fehler. Falls Nadine sie nun behinderte?

Und hoffentlich erlaubte sie dem Mädchen nicht aus den falschen Gründen, sie zu begleiten.

Nadine nahm Kahlans rechte Hand und legte sie ihr auf die linke, verwundete Schulter. »Wir haben jetzt keine Zeit, das zu verbinden. Drückt die Wunde so fest zusammen, wie Ihr könnt, bis Ihr Eure Hand braucht, sonst verliert Ihr zuviel Blut und könnt nicht tun, was Ihr tun müßt.«

Leicht verärgert folgte Kahlan ihrer Anweisung. »Danke. Wenn Ihr schon mitkommt, dann haltet Euch hinter mir und leuchtet mir einfach nur den Weg. Wenn die Soldaten ihn nicht aufhalten können, was wollt Ihr dann ausrichten? Ich will nicht, daß Euch unnötig etwas zustößt.«

»Verstanden. Ich bin unmittelbar hinter Euch.«

»Vergeßt nicht, was ich gesagt habe, und kommt mir nicht in die Quere.« Kahlan stellte sich auf die Zehenspitzen und wandte sich an die Soldaten. »Setzt Eure Pfeile und Speere ein, wenn Ihr Gelegenheit zum Schuß bekommt, aber haltet Euch hinter mir. Holt noch mehr Fackeln. Wir müssen ihn in die Enge treiben.«

Einige von ihnen trabten zurück, um Fackeln zu holen, während Kahlan sich auf den Weg machte. Nadine leuchtete ihr und verfiel in leichten Trab, um Schritt zu halten. Die Flamme flackerte und fauchte, beleuchtete Wände, Decke und Boden in einem kleinen Umkreis und erzeugte dadurch eine tanzenden Insel aus Licht in einem Meer aus Dunkelheit. Dicht dahinter erzeugten die Soldaten ihre eigenen Lichtinseln. Während sie so liefen, hallte ein schweres Keuchen durch den Gang, das sich mit den Stiefeltritten, dem leisen Klingeln der Kettenpanzer, dem Klirren von Stahl und dem Zischen der Flammen paarte.

Und über alledem hörte Kahlan im Geist noch immer Caras Schreie.

An einer Kreuzung blieb sie stehen, versuchte keuchend, wieder zu Atem zu kommen und schaute erst nach vorn und dann in den Gang, der nach rechts abzweigte.

»Hier!« Nadine zeigte auf das Blut am Boden. »Er ist hier entlang gelaufen!«

Kahlan warf einen Blick nach vorn in die Dunkelheit. Dort gelangte man zum Treppenhaus und anschließend nach oben in den Palast. Der Gang, der nach rechts abzweigte, führte unter dem Palast hindurch in ein Labyrinth aus Lagerräumen, aufgegebenen Bereichen, die beim Bau des Palastes ausgehöhlt worden waren, Zugangstunneln für die Wartung der Grundmauern sowie Abflußkanälen für das Grundwasser. Mächtige Steinroste verhinderten am Ende der Abflußkanäle, wo das Wasser unter den Grundmauern hinweg durch mächtige Steinroste nach draußen floß, daß jemand in den Palast gelangte.

»Nein«, meinte Kahlan. »Hier entlang – nach rechts.«

»Aber das Blut«, protestierte Nadine. »Er ist hier entlang gelaufen.«

»Bis zu dieser Stelle war kein Blut zu sehen. Das Blut soll uns ablenken. Dieser Weg führt hinauf in den Palast. Jagang ist hier entlang gelaufen, wo niemand ist.«

Nadine folgte, als Kahlan den Gang rechts betrat. »Aber warum sollte es ihn scheren, daß dort Leute sind? Er hat all die Soldaten dort hinten getötet oder verwundet!«

»Und denen ist es gelungen, ihm einen Arm abzuhacken. Marlin ist verwundet. Jagang wird es egal sein, ob wir den Zauberer töten, doch wenn es ihm gelingt zu fliehen, kann er mit Marlin noch schlimmeres Unheil anrichten.«

»Was kann er denn noch Schlimmeres anrichten, als Menschen zu verletzen? All die Menschen oben und die Soldaten?«

»Die Burg der Zauberer«, sagte Kahlan. »Jagang verfügt, was die Magie betrifft, lediglich über seine Fähigkeiten als Traumwandler, allerdings kann er einen Menschen, der die Gabe besitzt, für seine Zwecke einspannen. Nach dem, was ich bis jetzt gesehen habe, weiß er nicht viel darüber, wie man die Magie von anderen benutzt. Was er da hinten gemacht hat, dieser einfache Gebrauch von Luft und Hitze, kann man nicht gerade einfallsreich nennen. Jagang fallen nur die einfachsten Dinge ein, wenn er die Magie anderer benutzt, meist brutale Gewalt. Das ist unser Vorteil.

An seiner Stelle würde ich versuchen, in die Burg der Zauberer zu kommen und die Magie dort dazu benutzen, um größtmögliche Verwüstungen anzurichten.«

Kahlan lief auf eine Treppe zu, die man aus dem nackten Fels geschlagen hatte, und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Unten führte der grobe, tunnelähnliche Gang in zwei Richtungen. Sie drehte sich zu den Soldaten um, die hinter ihr die Treppe hinuntergerannt kamen.

»Teilt euch auf – eine Hälfte in jede Richtung. Das hier ist das unterste Stockwerk. Sichert jede Kreuzung, auf die ihr stoßt. Vergeßt nicht, welchen Weg ihr bei jeder Abbiegung eingeschlagen habt, sonst könnt ihr euch da unten tagelang verlaufen.

Ihr habt gesehen, wozu er fähig ist. Wenn ihr ihn findet, geht kein Risiko ein, indem ihr versucht, ihn zu überwältigen. Stellt Posten auf, damit wir wissen, ob er zurückkommt, und dann holt mich.«

»Wie werden wir Euch finden?«

Kahlan sah nach rechts. »Ich werde mich im Zweifelsfall immer für den rechten Gang entscheiden, auf diese Weise könnt ihr nachvollziehen, welchen Weg ich genommen habe. Wir dürfen ihn nicht hinauslassen. Wenn er die Burg erreicht, kann er dort vielleicht Schilde passieren, die für mich unüberwindlich sind.«

Zusammen mit Nadine und der einen Hälfte der Soldaten eilte Kahlan weiter. Sie stießen auf mehrere Räume, alle leer, und wenig später auf einige weitere Gänge. Bei jeder Abzweigung teilte sie die Gruppe der Soldaten und führte ihre stetig kleiner werdende Truppe nach rechts.

»Was ist das, die Burg der Zauberer?« fragte Nadine, während sie sich durch die Dunkelheit vorantasteten.

»Das ist eine gewaltige Festungsanlage, in der einst Zauberer lebten. Sie wurde noch vor der Zeit des Palastes der Konfessoren erbaut.« Kahlan deutete mit einer Handbewegung auf den Palast, der über ihnen lag. »In einem längst vergessenen Zeitalter wurde so gut wie jeder mit der Gabe geboren. Während der letzten dreitausend Jahre ist die Gabe innerhalb der menschlichen Art fast ausgestorben.«

»Was befindet sich in dieser Burg?«

»Verlassene Gemächer, Bibliotheken, Räumlichkeiten aller Art. Außerdem werden dort magische Gegenstände aufbewahrt. Bücher, Waffen und dergleichen mehr. Schilde schützen die wichtigen oder gefährlichen Teile der Burg. Wer keine Magie besitzt, kann keinen der Schilde passieren. Da ich mit Magie geboren wurde, kann ich zwar einige von ihnen passieren, aber nicht alle.

Die Burg ist riesig. Im Vergleich dazu wirkt der Palast der Konfessoren wie eine beengte Kate. Während des Großen Krieges vor dreitausend Jahren war die Burg mit Zauberern und ihren Familien bevölkert. Richard behauptet, es sei ein Ort voller Leben und Lachen gewesen. Damals besaßen die Zauberer sowohl Subtraktive als auch Additive Magie.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Nein. Nur Richard wurde mit beiden Seiten geboren.«

»Hört sich nach einem grauenhaften Ort an.«

»Ich habe einen großen Teil meines Lebens dort verbracht, habe Bücher über Sprachen studiert und von den Zauberern gelernt. Für mich bildete die Burg stets einen Teil meines Zuhauses.«

»Wo sind diese Zauberer jetzt? Können sie uns nicht helfen?«

»Sie haben sich allesamt am Ende des Sommers, während des Krieges mit Darken Rahl, umgebracht.«

»Sich umgebracht! Wie schrecklich! Warum sollten sie so etwas tun?«

Kahlan schwieg einen Augenblick, derweil sie unermüdlich weiter in die Dunkelheit vordrangen. Das alles kam ihr vor wie ein Traum.

»Wir mußten den Obersten Zauberer finden, damit er den Sucher der Wahrheit ernennt, der wiederum Darken Rahl Einhalt gebieten konnte. Der Oberste Zauberer war Zedd. Er lebte in Westland, jenseits der Grenze. Die Grenze stand mit der Unterwelt in Verbindung, der Welt der Toten. Deshalb konnte sie niemand passieren.

Darken Rahl war ebenfalls hinter Zedd her. Sämtliche Zauberer waren nötig, um eine Magie zu bewirken, die mich durch die Grenze brachte, damit ich Zedd aufspüren konnte. Hätte Darken Rahl die Zauberer gefangengenommen, hätte er sie mit Hilfe seiner ruchlosen Magie zwingen können, ihr Wissen preiszugeben.

Damit ich genug Zeit hätte, mein Ziel zu erreichen, töteten sich die Zauberer selbst. Trotzdem gelang es Darken Rahl, seine Meuchelmörder auf mich anzusetzen. Damals lernte ich Richard kennen. Er hat mich beschützt.«

»Beim Schartenberg?« fragte Nadine in ungläubigem Staunen. »Am Fuß des Felsens hat man vier tote Soldaten gefunden. Sie trugen Lederuniformen und waren bis an die Zähne bewaffnet. Niemand hatte je zuvor solche Soldaten gesehen.«

»Das waren sie.«

»Was war geschehen?«

Kahlan warf ihr einen Seitenblick zu. »Etwas Ähnliches wie das, was Euch mit Tommy Lancaster passierte.«

»Das war Richard? Richard hat diese Soldaten getötet?«

Kahlan nickte. »Zwei von ihnen. Einen weiteren überwältigte ich mit meiner Kraft, und der wiederum tötete den letzten. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß Richard Männern begegnete, die ihm nicht nur eine einfache Abreibung verpassen wollten, nachdem er beschlossen hatte, jemanden zu beschützen. Mich zu beschützen. Seit diesem Tag auf dem Schartenberg hat er eine Menge schwieriger Entscheidungen treffen müssen.«

Sie liefen weiter durch die finsteren, faulig riechenden Gänge, und es kam Kahlan vor wie Stunden, obwohl sie wußte, daß nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten verstrichen sein konnten. Die Gesteinsquader waren hier größer, manchmal so mächtig, daß sie vom Boden bis zur Decke reichten. Sie waren grob behauen, paßten aber nicht weniger exakt aufeinander als das mörtellose Mauerwerk an anderen Stellen des Palastes.

Außerdem waren die Gänge feuchter. Stellenweise lief das Wasser an den Wänden herunter und floß in kleine, mit Fliesen ausgekleidete Tropflöcher an der Seite des Fußbodens, der zu den Seiten leicht abfiel, damit das Wasser in die Abflußrinnen geleitet wurde. Einige der Abflußrinnen waren mit Unrat verstopft, so daß sich flache Pfützen hatten bilden können.

Ratten benutzten die gefliesten Abflußrinnen als Tunnelgänge. Sie stoben quiekend auseinander, sobald Geräusch und Licht näherkamen. Einige huschten in die Abflußrinnen, andere liefen weiter nach vorne. Kahlan mußte wieder an Cara denken und fragte sich, ob sie wohl noch lebte. Es schien einfach zu grausam, daß sie sterben sollte, bevor sie Gelegenheit bekam, das Leben zu genießen – ohne den Wahnsinn, der wie ein Schatten auf ihr lag.

Nach etlichen Abzweigungen war Kahlans Begleitung auf Nadine und zwei Soldaten geschrumpft. Der Gang war so schmal, daß sie im Gänsemarsch weitergehen mußten. Die niedrige Gewölbedecke zwang sie, sich zu ducken.

Kahlan sah nirgends Blut – wahrscheinlich benutzte Jagang die Kontrolle über Marlins Verstand, um zu verhindern, daß er weiter blutete – aber an mehreren Stellen entdeckte sie im schlimmen Dreck an den Wänden waagerechte Spuren. In dem niedrigen und engen Durchgang dürfte es schwer sein, die nahen Wände nicht zu streifen. Kahlan kam häufiger an die Wände, als ihr lieb war. Jedesmal, wenn sie mit der Hand auf der Schulter gegen die schmierigen Mauern stieß, schoß ein scharfer Schmerz durch ihren Körper. Marlin – Jagang – mußte durch denselben Gang gekommen sein und die Wand ebenfalls gestreift haben.

Sie empfand sowohl ein leicht berauschendes Gefühl der Erleichterung, daß sie ihm tatsächlich auf der Spur war, als auch eine schreckliche Angst bei dem Gedanken, ihn womöglich einzuholen.

Der gewölbte Durchgang wurde noch einmal schmaler und niedriger. Sie mußten tief in die Hocke gehen, um ihren Weg fortsetzen zu können. Die Flammen der Fackeln züngelten am Mauerwerk dicht über ihren Köpfen, und der Rauch kroch in Schwaden unter der Decke entlang und brannte ihnen in den Augen.

Dann begann der Gang steil abzufallen. Alle rutschten mehr als einmal aus und fielen hin. Nadine schürfte sich den Ellenbogen auf, als sie stürzte und dabei gleichzeitig versuchte, die Fackel nicht loszulassen. Kahlan wurde langsamer, blieb jedoch nicht stehen, während einer der Soldaten Nadine auf die Beine half. Die drei hatten sie rasch wieder eingeholt.

Weiter vorne hörte Kahlan Wasser rauschen.

Der enge Gang weitete sich zu einem breiten, röhrenähnlichen Tunnel. Wasser schäumte in einem reißenden Strom durch den runden Tunnel, der zum Abwassersystem unter dem Palast gehörte. Kahlan blieb stehen.

»Was jetzt, Mutter Konfessor?« fragte einer der Soldaten.

»Wir halten an unserem Plan fest. Ich gehe mit Nadine stromabwärts, nach rechts. Ihr zwei geht stromaufwärts nach links.«

»Wenn er versucht, nach draußen zu gelangen, wird er sich rechts gehalten haben«, wandte der Soldat ein. »Er wird darauf setzen, an derselben Stelle wie das Wasser ins Freie zu gelangen. Wir sollten Euch begleiten.«

»Es sei denn, er weiß, daß wir ihn verfolgen und versucht, uns in die Irre zu locken. Ihr zwei geht nach links. Kommt schon, Nadine.«

»Da rein? Das Wasser reicht mir bestimmt bis zur Hüfte.«

»Sogar noch höher, würde ich sagen. Normalerweise ist es nicht tiefer als ein oder zwei Fuß. Jetzt ist es gestiegen, wegen der Frühjahrsschmelze. Drüben auf der anderen Seite gibt es Trittsteine, aber die liegen nun knapp unter Wasser. In der Mitte der Stelle, wo der Gang in den Abflußkanal übergeht, steht ein länglicher Stein, auf den man beim Hinübersteigen treten kann.«

Kahlan machte einen großen Schritt und stellte einen Fuß mitten im reißenden Strom auf den beschriebenen Stein. Dann hob sie ihr anderes Bein über das rauschende Wasser und tastete sich vor, bis sie mit dem Fuß einen der Steine in der Nähe der gegenüberliegenden Wand gefunden hatte. Sie reichte Nadine die Hand und zog sie auf die andere Seite. Auf den Trittsteinen war das Wasser nur knöcheltief, dennoch durchweichte es rasch den Saum und lief in die Stiefel. Es war eiskalt.

»Seht Ihr?« Kahlans Stimme hallte von den Wänden wider. Hoffentlich trug sie nicht allzuweit. »Seid vorsichtig. Die Trittsteine liegen ein Stück weit auseinander.«

Kahlan trat auf den nächsten und gab Nadine die Hand, um ihr hinüberzuhelfen. Dann machte sie den Männern ein Zeichen, daß sie tunnelaufwärts gehen sollten.

Die beiden stiegen herüber und entfernten sich zügig in die Dunkelheit. Kurz darauf verschwand der Lichtschein ihrer Fackeln hinter einer Biegung, und Kahlan stand alleine mit Nadine im schwachen Schein einer einzigen Fackel. Sie hoffte, daß die nicht sobald abbrannte.

»Vorsichtig jetzt«, mahnte sie Nadine.

Nadine hielt sich die Hand wie einen Trichter hinters Ohr. Im Getöse des Wassers war kaum ein Wort zu verstehen. Kahlan wiederholte ihr die Warnung ins Ohr. Sie wollte nicht schreien und Jagang aufmerksam machen, falls er in der Nähe war.

Auch wenn die Fackel heller gebrannt hätte, die Sicht wäre vermutlich nicht viel besser gewesen. Der Abflußtunnel wand und bog sich auf seinem abfallenden Weg unterirdisch aus dem Palast heraus. Kahlan mußte sich mit einer Hand an der kalten, schleimigen Steinmauer abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

An mehreren Stellen fiel der Tunnel sehr steil ab. Die Mauersteine an den Seiten folgten seinem Verlauf wie eine Treppe durch eine tosende Stromschnelle. Eiskaltes Wasser hing wie ein Nebel in der Luft und durchnäßte sie bis auf die Knochen.

Selbst auf den flacheren Abschnitten war es nicht möglich zu rennen, da sie gezwungen waren, vorsichtig von einem Stein auf den anderen zu treten. Wenn man zu schnell ging und einen Stein verfehlte, konnte man sich leicht den Fuß brechen. Hier unten im Tunnel, im Wasser, mit Jagang irgendwo in der Nähe, wäre es höchst ungünstig, sich zu verletzen. Das Blut, das ihr unentwegt den Arm hinunterlief, erinnerte Kahlan daran, daß sie sich bereits verletzt hatte. Aber wenigstens laufen konnte sie.

Just in diesem Augenblick stieß Nadine einen langen, spitzen Schrei aus und fiel ins Wasser.

»Laßt bloß die Fackel nicht los!« schrie Kahlan.

Nadine, bis zur Brust im reißenden Wasser, reckte die Fackel in die Höhe, um zu verhindern, daß sie gelöscht wurde. Kahlan packte sie am Handgelenk und suchte verzweifelt Halt, als die Strömung Nadine mit sich zog. Da war nichts, wo Kahlan sich mit ihrer anderen Hand hätte festhalten können. Sie hakte die Absätze ihrer Stiefel über die Kante des Trittsteins, um zu verhindern, daß sie ebenfalls mitgerissen wurde.

Nadine schlug, nach einem der Trittsteine suchend, mit ihrer freien Hand um sich. Sie fand einen und packte ihn. Mit Kahlans Hilfe zog sie sich wieder hoch.

»Gütige Seelen, ist das Wasser kalt.«

»Ich hab' doch gesagt, Ihr sollt vorsichtig sein!«

»Mich hat etwas, vermutlich eine Ratte, am Bein gestreift«, sagte sie und versuchte wieder zu Atem zu kommen.

»Bestimmt war sie tot. Ich habe welche vorübertreiben sehen. Jetzt paßt auf.«

Nadine nickte verlegen. Nadine war an Kahlan vorbeigespült worden und hatte so die Führung übernommen. Kahlan wußte nicht, wie sie problemlos ihre Positionen hätten tauschen sollen, also gab sie Nadine einfach ein Zeichen weiterzugehen.

Die Frau drehte sich um und wollte sich auf den Weg machen.

Plötzlich brach eine dunkle Gestalt aus den schwarzen Tiefen hervor. Triefend vor Wasser kam Marlin an die Oberfläche und packte Nadines Knöchel mit der einen Hand. Kreischend wurde sie mit den Füßen voran in das tintenschwarze Naß gezogen.

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