54

Bald nach dem Aufwachen, kurz vor der Dämmerung, stand Richard vor seinem Schlafgemach und las den morgendlichen Bericht. Zum ersten Mal war die Zahl der Toten in einer Nacht über eintausend geklettert. Eintausend Tragödien in einer einzigen Nacht.

Ulic stand, die massigen Arme verschränkt, nicht weit entfernt und erkundigte sich nach der Zahl. Ein seltenes Ereignis, daß Ulic eine Frage stellte. Richard brachte kein Wort heraus. Er reichte seinem Leibwächter den Bericht. Dem Mann entfuhr ein tiefer Seufzer, als er die Zahl las.

Die Stadt war ein Trümmerhaufen. Der Handel war zusammengebrochen, die Lebensmittel wurden knapp. Feuerholz, sowohl zum Heizen als auch zum Kochen, war kaum mehr zu bekommen. Es war schwierig, irgendwelche Unterstützung zu erhalten, entweder, weil die Menschen Angst hatten, ihre Waren in die Stadt zu transportieren, weil sie ihre Häuser verlassen hatten und aus der Stadt geflohen waren oder weil sie tot waren.

Nur Heilmittel gab es in den Straßen noch im Überfluß.

Richard blieb auf seinem Weg ins Arbeitszimmer neben einem langen Wandbehang mit einer städtischen Marktszene stehen. Sein Schatten kam neben ihm zum Stehen. Die Vorstellung, weiter das Buch zu übersetzen, erzeugte bei ihm ein Gefühl von Übelkeit. Er würde ohnehin nichts Neues herausfinden. Er steckte in einem langweiligen Bericht über eine Untersuchung der Geschäfte fest, die Zauberer Ricker mit einem Volk, das man Andolier nannte, betrieben hatte. Der Bericht war langatmig und ergab wenig Sinn für ihn.

So früh am Tag fand Richard die Vorstellung, an dem Buch zu arbeiten, unerträglich. Außerdem war ihm schlecht vor Sorge um Raina. Ihr Zustand hatte sich im Lauf der vergangenen Woche ständig verschlechtert. Man konnte nichts für sie tun, jedenfalls nicht mehr als für die eintausend Menschen, die es während der vergangenen Nacht dahingerafft hatte.

Shota hatte Kahlan erzählt, der Tempel der Winde werde eine weitere Botschaft schicken, werde verraten, wie man in ihn hineingelangte. Die Seelen hatten ihr dasselbe gesagt. Wieso war sie nicht eingetroffen? Würden sie etwa alle tot sein, bevor die Winde Nachricht gaben?

Richard blickte aus dem Ostfenster und sah, wie die ersten Strahlen der Morgensonne zwischen den Bergen hervorbrachen. Wegen der zunehmenden Bewölkung, die, wie er bemerkt hatte, von Westen her aufzog, wußte er, daß sie den Vollmond in dieser Nacht nicht zu sehen bekommen würden.

Er begab sich zu Kahlans Gemach. Er brauchte etwas, das ihn aufmunterte. Ulic bezog an der Flurecke neben Egan Posten. Egan hatte in der vergangenen Nacht vor Kahlans Zimmer Wache geschoben.

Richard wurde von Nancy begrüßt, die gerade aus der Tür herauskam.

»Ist Kahlan auf?«

Nancy zog die Tür hinter sich zu. Sie blickte den Flur entlang und sah Ulic und Egan. Die beiden waren zu weit entfernt, um etwas mitzubekommen.

»Ja, Lord Rahl. Sie ist heute morgen nur ein wenig langsam. Sie fühlt sich nicht gut.«

Richard packte die Frau am Arm. Er fand, Kahlan wirkte seit ein paar Tagen so, als ginge es ihr nicht gut, doch sie hatte seine Besorgnis hartnäckig zerstreut. Richard spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

»Was ist mir ihr? Ist sie … krank? Sie hat doch nicht –?«

»Nein, nein«, wiederholte Nancy beharrlich, als sie plötzlich merkte, daß sie ihm einen Todesschrecken eingejagt hatte. »Nichts dergleichen.«

»Was ist es dann?« drängte Richard.

Die Frau tätschelte ihren Unterleib und beugte sich näher vor. Sie senkte die Stimme zu wenig mehr als einem Flüstern. »Es ist nur ihr Mondzyklus, das ist alles. Noch ein paar Tage, dann ist es vorbei. Ich würde es nicht erwähnen, aber angesichts der Pest wollte ich nicht, daß Ihr Euch zu Tode sorgt. Erzählt Ihr nur nicht, daß ich es Euch verraten habe, sonst reißt sie mir den Kopf ab.«

Richard seufzte und lächelte erleichtert. Dankbar drückte er Nancys Hand.

»Natürlich nicht. Danke, Nancy Ihr wißt gar nicht, wie mich das beruhigt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie…«

Nancy berührte ihn am Arm und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Ich weiß. Sonst hätte ich auch nichts gesagt.«

Nachdem Nancy den Gang hinunter verschwunden war, klopfte Richard an die Tür. Kahlan hatte sie gerade öffnen wollen und war überrascht, ihn vor sich zu sehen.

Sie blickte ihn lächelnd an. »Ich habe mich getäuscht.«

»Wieso?«

»Du siehst noch besser aus als in meiner Erinnerung.«

Richard schmunzelte. Schon hatte sie ihn aufgemuntert. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Lippen schürzte, gab er ihr rasch einen Kuß.

Er nahm ihre Hand. »Ich wollte gerade nach Raina sehen. Hast du Lust mitzukommen?«

Sie nickte, dabei wich ihr die Freude wie ein Spuk aus dem Gesicht.

Nicht weit von ihrem Zimmer kam ihnen Berdine entgegen. Ihre Augen waren gerötet und wirkten müde. Sie trug ihre rote Lederkleidung. Richard erkundigte sich nicht, warum.

»Lord Rahl, bitte … Raina fragt nach Euch.«

Richard legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir waren gerade auf dem Weg zu ihr. Gehen wir.«

Richard erkundigte sich nicht nach Berdines Befinden. Es war offenkundig, daß sie krank vor Sorge war.

»Manch einer hat sich schon von der Pest erholt, Berdine. Niemand ist stärker als Raina. Sie ist eine Mord-Sith. Sie wird zu denen gehören, die wieder auf die Beine kommen.«

Berdine nickte benommen.

Raina lag auf ihrem Bett. Sie trug ihre rote Lederkleidung.

Noch in der Tür beugte Richard sich zu Berdine und fragte leise: »Wieso ist sie angezogen?« Die naheliegende Frage, wieso sie ihre rote Lederkleidung anhatte, stellte er nicht.

Berdine klammerte sich an seinen Arm. »Sie bat mich, ihr das rote Leder der Mord-Sith« – Berdine unterdrückte ein leises Schluchzen – »für ihren letzten Kampf anzulegen.«

Richard ließ sich neben dem Bett auf die Knie sinken. Rainas halbgeöffnete Augen wandten sich ihm zu. Der Schweiß lief ihr über das Gesicht. Ihre Unterlippe zitterte.

Sie ergriff Richards Arm. »Lord Rahl … bitte, bringt Ihr mich nach draußen, damit ich Reggie sehen kann?«

»Reggie?«

»Die Streifenhörnchen … bitte bringt mich hinaus, damit ich ihn füttern kann. Das ist der, dem das Ende seines kleinen Schwänzchens fehlt.«

Das brach ihm fast das Herz. Er setzte ein Lächeln für sie auf. »Es wäre mir eine Ehre.«

Dann nahm er sie in die Arme. Sie hatte viel Gewicht verloren. Sie wog kaum noch etwas.

Raina schlang ihm einen geschwächten Arm um den Hals und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, während er sie durch die Flure trug.

Neben ihnen ging Berdine und hielt ihre andere Hand. Kahlan hielt sich auf Richards anderer Seite. Ulic und Egan marschierten hinterher.

Überall traten Soldaten, den Blick zu Boden gesenkt, aus dem Weg und salutierten mit einem Faustschlag aufs Herz, als Richard und die kleine Prozession vorüberzogen.

Der Salut galt Raina.

Draußen angekommen, setzte Richard sich im steinernen Innenhof in das Licht der aufgehenden Sonne und nahm Raina auf seinen Schoß. Kahlan ließ sich auf seiner anderen Seite nieder, Ulic und Egan, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, standen nicht weit entfernt im Hintergrund. Richard sah, wie die eine oder andere Träne über die Wangen ihrer verschleierten Gesichter kullerte.

»Da drüben«, sagte Richard zu Kahlan und deutete mit seinem Kinn auf die Stelle. »Gib mir die Schachtel.«

Kahlan drehte sich suchend um und sah, was er meinte. In einer Schachtel unter der Steinbank bewahrte er Körner auf. Sie nahm den klemmenden Deckel ab und hielt ihm die Schachtel hin.

Richard nahm eine Handvoll Körner heraus und warf ein paar vor ihnen auf die Erde. Die restlichen ließ er in Rainas knochendürre Hand rinnen.

Es dauerte nicht lange, und zwei Streifenhörnchen kamen mit federnden Schwänzen über den Rasen gesprungen. Richard hatte sie oft genug gefüttert, daher wußten sie, das Erscheinen von Menschen verhieß einen Leckerbissen. Zwischen von lautem Schnattern begleiteten Versuchen, sich gegenseitig fortzujagen, stopften sie sich, so gut es irgend ging, die Backen mit Körnern voll.

Raina sah ihnen aus nur halb geöffneten Augen dabei zu.

Ihr Strafer baumelte an einer Kette am Gelenk der Hand, die Berdine hielt.

Die beiden Streifenhörnchen flitzten mit vollen Backen in ihren Bau, um ihre Beute zu verstauen.

Raina ließ den Arm nach außen gleiten und legte die Hand aufs Pflaster. Sie öffnete die Finger. Bei jedem ihrer flachen Atemzüge rasselten ihre Bronchien.

Berdine streichelte zärtlich Rainas Stirn.

Unter einem Busch kam ein weiteres Streifenhörnchen hervor. Es lief ein Stück auf sie zu, erstarrte plötzlich, prüfte, ob Gefahr drohte, dann huschte es den Rest des Weges herbei. Am Ende seines Schwanzes fehlte ihm ein Stück.

»Reggie«, hauchte Raina.

Sie lächelte, als Reggie in ihre geöffnete Hand kletterte. Dort hockte er und stemmte sich mit seinen kleinen Pfoten gegen ihre Finger, während er sich mit der Zunge Körner ins Maul stopfte. Dann hielt er inne und richtete sich in ihrer Hand auf, um die in die Backen gestopften Körner zu sortieren. Zufrieden ließ er sich wieder zusammensacken und stemmte seine kleinen Füße abermals gegen Rainas Finger.

Der Mord-Sith entfuhr ein leises Lachen.

Berdine küßte sie auf die Stirn. »Ich liebe dich, Raina«, sagte sie leise.

»Ich liebe dich, Berdine.«

Richard spürte, wie Rainas Muskeln erschlafften, als sie in seinen Armen starb, während Reggie dahockte und ihr Körner aus der Hand fraß.

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