Schwester Verna drehte sich nach dem Durcheinander um und sah einen Späher von seinem schweißbedeckten Pferd herunterspringen, noch bevor es in der fast völligen Dunkelheit zum Stillstand kam. Der Späher keuchte und versuchte, gleichzeitig wieder zu Atem zu kommen und dem General Bericht zu erstatten. Die sichtlich gespannte Körperhaltung des Generals lockerte sich, als er den Bericht entgegennahm. Mit einer munteren Geste forderte er seine Offiziere auf, ihre Besorgnis ebenfalls aufzugeben.
Sie konnte den Bericht des Spähers nicht hören, wußte jedoch, was er besagte. Sie brauchte keine Prophetin zu sein, um zu wissen, was der Kundschafter gesehen hatte.
Diese Narren. Sie hätte ihm dasselbe erzählen können.
Der lächelnde General Reibisch kam auf sie zu, die buschigen Brauen gutgelaunt hochgezogen. Als er in den Lichtkreis des Lagerfeuers trat, entdeckten seine gräulich-grünen Augen sie.
»Prälatin! Hier seid Ihr. Es gibt gute Neuigkeiten!«
Verna, in Gedanken bei anderen, wichtigeren Dingen, lockerte das Tuch über ihren Schultern.
»Verratet es mir nicht, General: Meine Schwestern und ich müssen nicht die ganze Nacht nervöse Soldaten beruhigen und Banne aussprechen, die Euch verraten, wo in Panik geratene Männer sich versteckt haben, um das Ende der Welt abzuwarten.«
Er kratzte sich am rostfarbenen Bart. »Nun, ich weiß Eure Hilfe zu schätzen, Prälatin, aber nein, das müßt Ihr nicht. Ihr hattet wie gewöhnlich recht.«
Sie schnaubte, als wollte sie sagen: »Hab' ich es Euch nicht gleich gesagt.«
Der Späher hatte oben auf einem Hügel Ausschau gehalten und von dort aus das Aufgehen des Mondes früher sehen können als jeder unten im Tal.
»Mein Mann sagt, der Mond sei heute nacht nicht rot aufgegangen. Ich weiß, das hattet Ihr mir schon mitgeteilt, und auch, daß es nicht mehr als drei Nächte lang dauern würde, dennoch bin ich überaus erleichtert, daß alles wieder seinen gewohnten Gang geht, Prälatin.«
Seinen gewohnten Gang geht! Das wohl kaum.
»Freut mich, General, daß wir alle zur Abwechslung mal eine ganze Nacht lang werden durchschlafen können. Ich hoffe außerdem, daß Eure Männer etwas gelernt haben und in Zukunft, wenn ich ihnen erkläre, daß die Unterwelt nicht im Begriff steht, uns zu verschlingen, ein wenig mehr Vertrauen zu mir fassen.«
Er lächelte hilflos. »Ja, Prälatin. Ich glaube Euch natürlich, doch einige von diesen Männern sind abergläubischer, als für ihren Kampfesmut gut ist. Magie macht ihnen angst.«
Sie beugte sich ein wenig näher zu dem Mann vor und senkte die Stimme. »Das sollte sie auch.«
Er räusperte sich. »Ja, Prälatin. Nun, ich denke, wir alle sollten jetzt ein wenig schlafen.«
»Eure Boten sind noch nicht zurück, nicht wahr?«
»Nein.« Er fuhr sich mit dem Finger über den unteren Teil der weißen Narbe, die von seiner linken Schläfe bis zu seinem Kiefer reichte. »Ich gehe nicht davon aus, daß sie Aydindril schon erreicht haben.«
Verna seufzte. Sie hätte gerne erst Nachricht gehabt. Die Entscheidung wäre ihr dann leichter gefallen.
»Vermutlich nicht.«
»Was ist Eure Meinung, Prälatin? Wie lautet Euer Rat? Nach Norden?«
Sie starrte ins Leere, sah den Funken zu, die aus dem Feuer spiralförmig in die Dunkelheit aufstiegen, und spürte dessen Hitze auf dem Gesicht. Sie hatte wichtigere Entscheidungen zu fällen.
»Ich weiß nicht. Richards genaue Worte an mich lauteten: ›Reitet nach Norden. Eine Armee von einhunderttausend d'Haranischen Soldaten zieht auf der Suche nach Kahlan Richtung Süden. Bei ihnen seid Ihr sicherer aufgehoben und sie bei Euch ebenfalls. Erklärt General Reibisch, daß sie bei mir in Sicherheit ist.‹«
»Es hätte die Dinge vereinfacht, wenn er sich klarer ausgedrückt hätte.«
»Er hat zwar nicht ausdrücklich befohlen, daß wir nach Norden gehen sollen, zurück nach Aydindril, aber das war damit gemeint. Gewiß dachte er, das würden wir tun. Trotzdem, ich beherzige Euren Rat in Angelegenheiten wie diesen.«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin Soldat. Und ich denke wie ein Soldat.«
Richard war nach Tanimura gegangen, um Kahlan zu retten, und es war ihm gelungen, den Palast der Propheten mitsamt seinem Gewölbekeller voller Prophezeiungen zu zerstören, bevor Kaiser Jagang ihn erobern konnte. Richard hatte gesagt, er müsse sofort nach Aydindril zurückkehren und habe keine Zeit für Erklärungen, aber nur er und Kahlan besäßen die erforderliche Magie, die ihnen die umgehende Rückkehr erlaubte. Die anderen könne er nicht mitnehmen. Er hatte ihr erklärt, sie solle nach Norden ziehen, wo sie auf General Reibisch und seine d'Haranische Armee stoßen würde.
General Reibisch ging nur widerstrebend wieder nach Norden zurück. Er argumentierte, angesichts einer so großen Streitmacht, die bereits so weit im Süden stand, wäre es strategisch von Vorteil, einer Invasion der Neuen Welt die Spitze zu nehmen, bevor sie in die besiedelten Gebiete vordringen konnte.
»General, ich will Eure Beweggründe nicht in Frage stellen, dennoch fürchte ich, Ihr unterschätzt das Ausmaß der Bedrohung. Den Informationen zufolge, die ich zusammentragen konnte, sind die Streitkräfte der Imperialen Ordnung stark genug, sogar eine Armee von dieser Größe mit Leichtigkeit vernichtend zu schlagen. Ich zweifle nicht an den Fähigkeiten Eurer Männer, doch allein durch ihre Übermacht wird die Imperiale Ordnung Euch in einem Stück verschlingen.
Ich verstehe Eure Gründe, nur selbst die große Zahl von Männern, über die Ihr verfügt, wird nicht ausreichen. Außerdem fehlt sie uns dann, wenn wir eine große Armee aufstellen, die gegen die Imperiale Ordnung eine reelle Chance hat.«
Der General lächelte beruhigend. »Was Ihr sagt, Prälatin, ergibt Sinn. Ich habe stets auf vernünftige Einwände wie die Euren gehört. Die Sache ist nur die, Krieg hat nichts mit Vernunft zu tun. Manchmal muß man die Gelegenheit, die die Guten Seelen einem zum Geschenk machen, einfach beim Schopf ergreifen und sich ins Getümmel stürzen.«
»Hört sich an wie eine sichere Methode, ins Verderben zu laufen.«
»Nun, ich diene schon lange als Soldat und bin immer noch dabei. Wenn man beschließt, sich dem Feind zu stellen, bedeutet das noch lange nicht, daß man sein Kinn vorstrecken muß, damit er einem einen ordentlichen Schlag darauf versetzt.«
Verna betrachtete den Mann aus zusammengekniffenen Augen. »An was dachtet Ihr?«
»Mir scheint, wir sind bereits am richtigen Ort. Boten können sich erheblich schneller fortbewegen als eine Armee. Ich denke, wir sollten eine sichere Position einnehmen, die sich leichter verteidigen läßt, und uns nicht von der Stelle rühren.«
»Und wo?«
»Wenn wir östlich weiterziehen, in das Hochland im Süden von D'Hara, befinden wir uns möglicherweise in einer besseren Stellung, um zu reagieren. Ich kenne das Land dort. Sollte die Imperiale Ordnung versuchen, durch D'Hara in die Neue Welt vorzudringen, auf dem einfachen Weg durch das Tal des Kern, dann sind wir zur Stelle, um sie aufzuhalten. In dem unwegsameren Gelände dort kommen uns die Bedingungen entgegen. Nur weil man mehr Leute hat, bedeutet das nicht, daß man sie auch alle einsetzen kann. Ein Tal hat nur eine gewisse Breite.«
»Und wenn sie sich auf ihrem Zug nach Norden weiter westlich halten, die Berge umgehen und dann weiter durch die Wildnis ziehen?«
»Dann haben wir diese Armee hier, mit der wir uns rasch hinter sie setzen können, während unsere anderen Streitkräfte nach Süden ziehen und ihnen entgegentreten. Der Feind wäre gezwungen, seine Streitkräfte aufzuteilen und an zwei Fronten gegen uns zu kämpfen. Hinzu kommt noch, daß es ihre Möglichkeiten begrenzen würde, denn es würde schwierig für sie werden, sich frei zu bewegen.«
Verna dachte über seine Worte nach. Sie hatte in den alten Büchern über Schlachten gelesen und verstand, worauf seine Strategie abzielte. Offenbar war sie klüger, als sie anfangs gedacht hatte. Der Mann war kühn, dabei jedoch kein Narr.
»Sobald unsere Truppen an einem strategischen Punkt stehen«, fuhr er fort, »können wir Boten nach Aydindril und in den Palast des Volkes in D'Hara entsenden. Sowohl aus D'Hara als auch aus den Ländern der Midlands können wir Verstärkung bekommen, und Lord Rahl kann uns seine Anweisungen übermitteln. Marschiert die Imperiale Ordnung ein, nun, dann sind wir bereits vor Ort.«
»Richard gefällt es möglicherweise nicht, daß ihr Euch hier festsetzt, anstatt umzukehren und Aydindril zu beschützen.«
»Lord Rahl ist ein vernünftiger Mann –«
Verna unterbrach ihn mit einem schallenden Lachen. »Richard und vernünftig? Ihr strapaziert meine Bereitwilligkeit, Euch zu glauben, General.«
Er sah sie mißbilligend an. »Wie gesagt, Lord Rahl ist ein vernünftiger Mann. Er erklärte mir, er will, daß ich mich laut und deutlich zu Wort melde, wenn ich etwas zu sagen habe und der Ansicht bin, es sei wichtig. Ich denke, es ist wichtig. In Angelegenheiten des Krieges hört er auf meinen Rat. Die Boten sind bereits mit meinem Brief unterwegs. Wenn ihm mein Vorschlag nicht gefällt, kann er mir das mitteilen und mir befehlen, nach Norden zu ziehen, und ich werde es tun. Aber solange ich nicht sicher weiß, ob dies sein Wunsch ist, sollten wir, glaube ich, unsere Arbeit tun und die Neue Welt vor der Imperialen Ordnung schützen.
Ich habe Euch um Rat gefragt, Prälatin, weil Ihr über Magie verfügt. Von Magie verstehe ich nichts. Wenn Ihr Schwestern des Lichts etwas zu sagen habt, das für unseren Kampf wichtig ist, dann höre ich auf Euch. Wir stehen auf derselben Seite, müßt Ihr wissen.«
Verna ließ sich erweichen. »Verzeiht, General. Wahrscheinlich vergesse ich das manchmal.« Sie lächelte ihn an. »Die Ereignisse der letzten Monate haben mein Leben auf den Kopf gestellt.«
»Lord Rahl hat die gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Er hat allem eine Ordnung wiedergegeben.«
Sie lächelte in sich hinein. »Das hat er allerdings.« Sie blickte dem General wieder in seine graugrünen Augen. »Euer Plan erscheint mir sinnvoll – im ungünstigsten Fall hält er die Imperiale Ordnung auf –, trotzdem würde ich vorher gerne noch mit Warren sprechen. Manchmal beweist er überraschenden … Scharfblick. So sind Zauberer eben.«
Der General nickte. »Magie ist nicht meine Sache. Dafür ist Lord Rahl zuständig. Und natürlich Ihr.«
Beim Gedanken daran, daß Richard derjenige war, der bei diesen Menschen für die Magie zuständig war, mußte Verna ein Lachen unterdrücken. Was Magie anbetraf, schaffte es der Junge kaum, sich nicht selbst im Weg zu stehen.
Nein, ganz stimmte das nicht. Richard vollbrachte oft überraschende Dinge mit seiner Magie. Das Problem war, daß er sich gewöhnlich selbst damit überraschte. Immerhin war er ein Kriegszauberer, der einzige, der in den letzten dreitausend Jahren geboren worden war, und ihrer aller Hoffnungen in diesem Krieg gegen die Imperiale Ordnung hingen an seiner Führung.
Richards Herz und damit seine Entschlossenheit saßen am rechten Fleck. Er würde sein Bestes geben. Es war die Sache der anderen, ihn dabei zu unterstützen und ihn am Leben zu erhalten.
Der General trat von einem Bein aufs andere und kratzte sich unter dem Ärmel seines Kettenhemdes. »Prälatin, die Imperiale Ordnung behauptet, der Magie in dieser Welt ein Ende machen zu wollen. Dabei wissen wir alle, daß sie bei ihrem Versuch, uns zu vernichten, selbst Magie einsetzt.«
»Das stimmt.«
Er wußte, daß die meisten Schwestern der Finsternis auf einen Wink von Kaiser Jagang bereitstanden. Er hatte auch junge Zauberer, die ihm zu Befehl waren. Außerdem hatte er eine Anzahl von Schwestern des Lichts gefangengenommen und beherrschte sie mit Hilfe seiner Fähigkeiten als Traumwandler. Das war es, was ihr Gewissen quälte. Als Prälatin oblag es letzten Endes ihr, für die Sicherheit der Schwestern des Lichts zu sorgen. Einige ihrer Schwestern befanden sich nun in Jagangs Hand.
»Nun, Prälatin, in Anbetracht der Tatsache, daß die gegnerischen Truppen wahrscheinlich von Zauberern begleitet werden, frage ich mich, ob ich darauf zählen kann, daß Ihr und Eure Schwestern gegen sie antretet. Lord Rahl meinte: ›Ihr seid bei Ihnen sicherer aufgehoben, und sie bei Euch ebenfalls.‹ Für mich klingt das, als wollte er, daß Ihr Eure Magie benutzt, um uns gegen die Armee der Imperialen Ordnung zu unterstützen.«
Verna hätte gern geglaubt, daß sich der General täuschte. Zu gern hätte sie auch geglaubt, daß die Schwestern des Lichts, die den Auftrag hatten, das Werk des Schöpfers zu tun, darüber erhaben wären, jemandem ein Leid zuzufügen.
»Das gefällt mir gar nicht, General Reibisch, nur fürchte ich, ich bin trotzdem einverstanden. Wenn wir diesen Krieg verlieren, verlieren wir ihn alle gemeinsam, nicht nur unsere Soldaten auf dem Schlachtfeld. Alle freien Menschen werden zu Sklaven der Imperialen Ordnung werden. Wenn Jagang gewinnt, wird er die Schwestern des Lichts hinrichten lassen. Wir alle müssen entweder kämpfen oder sterben.
Die Imperiale Ordnung wird sich nur ungern so bequem in Eure Pläne fügen wollen. Möglicherweise versuchten sie, unbemerkt vorbeizuschleichen – weiter westlich, möglicherweise sogar weiter östlich von Euch. Die Schwestern könnten dabei helfen, die Bewegungen des Feindes aufzuspüren, sollte er in die Neue Welt vordringen.
Wenn jene, die Magie besitzen, die Bewegungen der Imperialen Ordnung vor Euch verbergen, werden unsere Schwestern das merken. Wir werden Eure Augen sein. Wenn es zu Kämpfen kommt, wird der Feind Magie einsetzen, um Euch zu besiegen. Wir werden unsere Kraft benutzen, um diesen Plan zu vereiteln.«
Der General sah einen Augenblick nachdenklich in die Flammen. Er schaute kurz zu den Männern hinüber, die sich zur Nacht schlafen legten.
»Danke, Prälatin. Ich weiß, diese Entscheidung fällt Euch nicht leicht. Seit Ihr bei uns seid, habe ich die Schwestern als sanftmütige Frauen kennengelernt.«
Verna mußte schallend lachen. »General, Ihr habt uns überhaupt noch nicht kennengelernt. Die Schwestern des Lichts sind vieles, sanftmütig hingegen sind sie ganz bestimmt nicht.« Sie machte eine knappe Bewegung mit dem Handgelenk. Der Dacra schnellte hervor. Ein Dacra ähnelte einem Messer, hatte jedoch einen spitzen Dorn anstelle einer Klinge.
Verna ließ den Dacra um die Finger kreisen. »Ich mußte schon einmal Männer töten.« Der Widerschein des Feuers blinkte und funkelte auf der Waffe, die sie mit geübter Leichtigkeit herumwirbelte und über die Fingerknöchel wandern ließ. »Eins kann ich Euch versichern, General, ich war dabei alles andere als sanftmütig.«
Er runzelte die Stirn. »Ein Messer in begabten Händen wie den Euren bedeutet Ärger, aber den Waffen des Krieges ist es wohl kaum ebenbürtig.«
Sie lächelte höflich. »Diese Waffe verfügt über tödliche Magie. Wenn Ihr eine dieser Waffen auf Euch zukommen seht, dann lauft davon. Sie braucht bloß Eure Haut zu ritzen – und sei es nur Euer kleiner Finger –, und Ihr seid tot, bevor Ihr mit den Augen blinzeln könnt.«
Er richtete sich auf, und seine Brust schwoll unter einem tiefen Seufzer an. »Danke für die Warnung. Und danke für Eure Hilfe, Prälatin. Ich bin froh, Euch auf unserer Seite zu wissen.«
»Ich bedauere, daß Jagang einige von unseren Schwestern des Lichts unter seiner Kontrolle hat. Sie können dasselbe tun wie ich, vielleicht sogar mehr.« Als sie sah, wie blaß sein Gesicht geworden war, gab sie ihm einen tröstlichen Klaps auf die Schulter. »Gute Nacht, General Reibisch. Schlaft gut – der rote Mond ist verschwunden.«
Verna sah zu, wie der General sich unter seine Offiziere mischte, mal hier, mal dort mit ihnen redete, nach seinen Männern sah und Befehle erteilte. Nachdem er in der Dunkelheit untergetaucht war, drehte sie sich um und ging zu ihrem Zelt.
Tief in Gedanken versunken, zündete sie mit ihrem Han die Kerzen im Innern des kleinen Feldzeltes an, das die Männer ihr zur Verfügung gestellt hatten. Der Mond war aufgegangen, und Annalina – die eigentliche Prälatin – wartete bestimmt schon.
Verna zerrte das kleine Reisebuch aus der Geheimtasche in ihrem Gürtel. Reisebücher besaßen eine Magie, aufgrund derer eine Nachricht, die in das eine geschrieben wurde, gleichzeitig in seinem Gegenstück erschien. Prälatin Annalina besaß das Gegenstück zu Vernas. Sie setzte sich auf ihre Decken und schlug das Buch in ihrem Schoß auf.
Eine Nachricht wartete. Verna zog eine Kerze näher heran und beugte sich in dem schwachen Licht vor, um die Schrift in dem Reisebuch besser erkennen zu können.
Wir haben Schwierigkeiten hier, Verna. Endlich haben wir Nathan oder jemanden, den wir für Nathan hielten, eingeholt. Wie sich herausstellte, war der Mann, den wir verfolgt haben, gar nicht unser Prophet. Er hat uns getäuscht. Er ist verschwunden, und wir wissen nicht, wohin.
Verna seufzte. Sie hatte sich schon gedacht, daß es zu gut geklungen hatte, um wahr zu sein, als Ann ihr berichtete, sie seien dem Propheten ganz dicht auf den Fersen.
Nathan hat uns eine Nachricht hinterlassen. Die Nachricht verheißt noch größeren Arger als die Vorstellung, daß er frei herumläuft. Er behauptet, er habe wichtige Dinge zu erledigen – eine ›unserer Schwestern‹ stehe im Begriff, eine sehr große Dummheit zu begehen, und er müsse sie, wenn möglich, daran hindern. Wir haben keine Ahnung, wohin er aufgebrochen ist. Er bestätigte mir außerdem, was Warren deinem Bericht zufolge sagte: Der rote Mond bedeutet, daß Jagang eine Prophezeiung mit verknüpften Gabelungen in Kraft gesetzt hat. Nathan forderte mich und Zedd auf, wir müßten zum Jocopo-Schatz gehen. Wir alle würden sterben, sollten wir statt dessen Zeit darauf vergeuden, ihn zu verfolgen.
Ich glaube ihm. Wir müssen miteinander sprechen, Verna. Antworte, wenn du da bist, Verna. Ich werde warten.
Verna zog den Stift aus dem Buchrücken. Sie hatten den Mondaufgang als Zeitpunkt ausgemacht, um über das Reisebuch miteinander zu korrespondieren. Sie schrieb in ihr Buch:
Da bin ich, Ann. Was ist passiert? Geht es Euch gut?
Einen Augenblick später erschienen im Buch die ersten Worte.
Das ist eine lange Geschichte, und dafür habe ich jetzt keine Zeit, aber Schwester Roslyn war ebenfalls hinter Nathan her. Sie wurde zusammen mit wenigstens achtzehn unschuldigen Menschen getötet. Die genaue Zahl, die in dem Lichtbann verbrannt wurde, kennen wir nicht.
Verna bekam große Augen, als sie hörte, daß Menschen auf diese Weise getötet worden waren. Sie wollte fragen, wie sie auf die Idee gekommen waren, ein so gefährliches Netz auszuwerfen, entschied sich jedoch dagegen und las weiter.
Zuallererst, Verna, müssen wir wissen, ob du eine Ahnung hast, was der ›Jocopo-Schatz‹ ist. Nathan hat es nicht näher erklärt.
Verna legte einen Finger an die Lippen, preßte die Augen fest zusammen und versuchte sich zu erinnern. Sie hatte den Namen schon einmal gehört. Auf ihrer Reise in die Neue Welt war sie über zwanzig Jahre unterwegs gewesen, und der Name war ihr bereits untergekommen.
Ann, ich glaube, gehört zu haben, daß die Jocopo ein Volk seien, das irgendwo in der Wildnis lebt. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie alle tot – sie wurden in einem Krieg ausgerottet. Sämtliche Spuren von ihnen wurden vernichtet.
In der Wildnis, sagst du. Bist du sicher, daß es die Wildnis war, Verna?
Ja.
Warte einen Augenblick, bis ich Zedd die Neuigkeiten berichtet habe.
Die Minuten zogen sich träge dahin, während Verna auf die leere Stelle am Ende der Schrift starrte. Endlich kamen wieder Worte zum Vorschein.
Zedd hat einen Wutanfall bekommen, flucht wüst und fuchtelt mit den Armen um sich. Er schwört Eide auf das, was er Nathan antun wird. Ich bin ziemlich sicher, daß seine meisten Absichten praktisch undurchführbar sind. Der Schöpfer demütigt mich dafür, daß ich mich darüber beschwert habe, Nathan sei unverbesserlich. Ich glaube, ich bekomme soeben eine Lektion darüber erteilt, was unverbesserlich wirklich bedeutet.
Die Wildnis ist ein weites Land, Verna. Hast du irgendeine Vorstellung, wo genau?
Nein. Tut mir leid. Ich erinnere mich, nur ein einziges Mal gehört zu haben, wie jemand die Jocopo erwähnte. Irgendwo im Süden von Kelton bewunderte ich in einem Raritätenladen eine alte Tonscherbe. Dem Besitzer zufolge stammte sie von einer untergegangenen Kultur aus der Wildnis. Er nannte sie die Jocopo. Das ist alles, was ich weiß. Damals war ich auf der Suche nach Richard, nicht nach verschwundenen Kulturen. Ich werde mich mit Warren beraten. Vielleicht weiß er etwas aus den Büchern.
Danke, Verna. Wenn du etwas herausfindest, benachrichtige mich sofort. Hast du eine Ahnung, welche Dummheit diese Schwester Nathans Ansicht nach begehen will?
Nein. Wir befinden uns alle hier bei der d'Haranischen Armee. General Reibisch will sich südlich halten, um sich der Imperialen Ordnung in den Weg zu stellen, sollte sie einmarschieren. Wir warten auf Nachricht von Richard. Es gibt allerdings Schwestern des Lichts, die von Jagang festgehalten werden. Wer weiß schon, wozu er sie zwingen wird?
Ann, hat Nathan irgend etwas von einer Prophezeiung mit verknüpfter Gabelung erwähnt? Warren kann vielleicht helfen, wenn Ihr mir den Wortlaut der Prophezeiung mitteilt.
Es folgte eine Pause, bevor Anns Schrift aufs neue erschien.
Nathan hat uns den genauen Wortlaut nicht mitgeteilt. Er schrieb, die Seelen hätten ihm den Zugang zu der Bedeutung verwehrt. Er behauptete aber, das Opfer des Dilemmas sei Richard.
Verna verschluckte sich vor Schreck an ihrer Spucke. Sie mußte kräftig husten, um sie wieder aus ihren Lungen herauszubekommen. Da ihr die Augen dabei tränten, hielt sie das Buch in die Höhe und las die letzte Nachricht noch einmal. Schließlich bekam sie ihre Lungen und die Kehle wieder frei.
Ann, Ihr habt Richard geschrieben. Meint Ihr wirklich Richard?
Ja.
Verna schloß die Augen und versuchte mit einem leisen Gebet ihre panikartige Unruhe zu unterdrücken.
Sonst noch etwas? schrieb Verna.
Im Augenblick nicht. Deine Information über die Jocopo wird uns weiterhelfen. Wir können unsere Suche jetzt einengen und wissen, wonach wir fragen müssen. Ich danke dir. Solltest du noch mehr herausfinden, lasse es mich wissen. Zedd klagt über lebensbedrohenden Hunger.
Ann, ist alles in Ordnung mit Euch und dem Obersten Zauberer?
Alles in bester Ordnung. Er trägt seinen Halsring nicht mehr.
Ihr habt ihm den Halsring abgenommen? Bevor Ihr Nathan gefunden habt? Warum habt Ihr das getan?
Habe ich nicht. Das war er selbst.
Verna riß die Augen auf, als sie dies las. Sie hatte Angst zu fragen, wie ihm etwas Derartiges gelungen war, daher unterließ sie es. Verna glaubte, Anns Nachricht entnehmen zu können, daß dies ein wunder Punkt war.
Und trotzdem begleitet er Euch?
Ich bin nicht ganz sicher, wer hier wen begleitet, Verna, aber fürs erste haben wir beide die unheilverkündende Natur von Nathans Nachricht verstanden. Der Prophet benimmt sich manchmal ganz vernünftig.
Ich weiß. Zweifellos versucht der alte Knabe jetzt, irgendeine Frau zu becircen, damit sie über ihn herfällt und in seinem Bett landet. Möge der Schöpfer Euch beschützen, Prälatin.
In Wirklichkeit war Ann die Prälatin. Sie hatte Verna jedoch zur Prälatin ernannt, nachdem sie und Nathan ihren Tod vorgetäuscht hatten und zu einer wichtigen Mission aufgebrochen waren. Zur Zeit hielt jeder noch Ann und Nathan für tot und Verna für die Prälatin.
Danke, Verna. Noch eins. Zedd macht sich Sorgen wegen Adie. Er möchte gerne, daß du sie mal zur Seite nimmst und ihr erklärst, daß er lebt und wohlauf ist, sich allerdings in den ›Händen einer Verrückten‹ befindet.
Soll ich den Schwestern mitteilen, daß Ihr wohlauf seid, Ann?
Es dauerte eine Weile, bis die nächste Nachricht aufs neue sichtbar wurde.
Nein, Verna. Im Augenblick nicht. Es ist für dich und für sie einfacher, wenn sie dich als Prälatin betrachten. Nach dem, was Nathan uns erzählt hat, und in Anbetracht dessen, was wir jetzt unternehmen müssen, wäre es nicht ratsam, ihnen das zu erzählen. Wer weiß, wie lange das noch stimmt.
Verna verstand. Die Wildnis war eine gefährliche Gegend. Verna hatte dort Menschen töten müssen. Dabei hatte sie nicht mal versucht, Informationen aus ihnen herauszubekommen. Sie war sogar bestrebt gewesen, den Kontakt zu Menschen dort zu vermeiden. Damals war Verna jung und beweglich gewesen. Ann war fast so alt wie Nathan. Aber sie war eine Magierin und hatte einen Zauberer bei sich. Zedd war zwar auch nicht gerade mehr der Jüngste, aber er war alles andere als hilflos. Die Tatsache, daß es ihm gelungen war, seinen Rada'Han abzunehmen, sprach Bände über seine Fähigkeiten.
Sagt so etwas nicht, Ann. Seid vorsichtig. Ihr und Zedd müßt Euch gegenseitig beschützen. Wir alle brauchen Euch.
Danke, mein Kind. Paß auf die Schwestern des Lichts auf, Prälatin. Wer weiß, vielleicht will ich eines Tages die Führung wieder übernehmen.
Verna mußte lächeln, so tröstlich fand sie das Gespräch mit Ann, die selbst in auswegloser Lage noch den Humor behielt. Davon konnte Verna nur träumen. Ihr Lächeln erlosch, als ihr einfiel, daß Ann erzählt hatte, Richard sei das in der todbringenden Prophezeiung genannte Opfer.
Sie dachte über Nathans Warnung nach, eine der Schwestern stehe im Begriff, eine Dummheit zu machen. Hätte Nathan sich doch nur ein wenig klarer ausgedrückt. Mit ›Dummheit‹ konnte beinahe alles mögliche gemeint sein. Verna war nicht geneigt, ohne weiteres zu glauben, was Nathan von sich gab, andererseits kannte Ann ihn weit besser als Verna.
Sie dachte an die Schwestern, die Jagang gefangenhielt. Einige waren Schwestern des Lichts, und ein paar wenige waren liebe Freundinnen von Verna, und das schon seit ihrer Novizinnenzeit. Diese fünf – Christabel, Amelia, Janet, Phoebe und Verna – waren zusammen im Palast aufgewachsen.
Von diesen hatte Verna Phoebe zu einer ihrer Verwalterinnen ernannt. Nur Phoebe befand sich zur Zeit bei ihr. Christabel, Vernas beste Freundin, hatte sich dem Hüter der Unterwelt zugewandt. Sie war eine Schwester der Finsternis geworden und von Jagang gefangengenommen worden. Die beiden letzten von Vernas Freundinnen, Amelia und Janet, waren ebenfalls von Jagang gefangengenommen worden. Janet war dem Licht treu geblieben, das wußte Verna, aber bei Amelia war sie nicht sicher. Wenn sie noch immer treu ergeben war…
Verna preßte ihre zitternden Finger an die Lippen und dachte an ihre beiden Freundinnen, zwei Schwestern des Lichts, die Sklaven des Traumwandlers waren.
Am Ende war es das, was sie zu ihrem Entschluß ermutigte.
Verna spähte in Warrens Zelt hinein. Unaufgefordert spielte ein Lächeln über ihre Lippen, als sie seine Gestalt auf seinen Decken in der Dunkelheit erblickte, wo er wahrscheinlich den Gedanken eines jungen Propheten nachhing. Sie mußte darüber lächeln, wie sehr sie ihn liebte und daß sie wußte, wie sehr er sie liebte.
Verna und Warren waren beide im Palast der Propheten aufgewachsen und kannten sich fast schon ihr Leben lang. Mit ihrer Gabe als Magierin war sie für die Ausbildung junger Zauberer bestimmt, während seine Gabe als Zauberer ihn eher für Prophezeiungen vorsah.
Zwischen ihnen hatte es erst ernstlich gefunkt, als Verna mit Richard in den Palast zurückgekehrt war. Dank Richard, der das Leben im Palast vollkommen verändert hatte, waren Verna und Warren einander nähergekommen, und ihre Freundschaft entwickelte sich. Als Verna dann während ihres Kampfes gegen die Schwestern der Finsternis zur Prälatin ernannt wurde, waren sie und Warren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Im Laufe dieser Auseinandersetzungen war ihr Verhältnis über bloße Freundschaft hinausgegangen. Nach all den Jahren hatten sie endlich ihre Liebe füreinander entdeckt.
Ihr fiel ein, was sie ihm mitzuteilen hatte, und ihr Lächeln verblaßte.
»Warren«, flüsterte sie, »bist du wach?«
»Ja«, kam die leise Antwort.
Bevor er Gelegenheit hatte, sich aufzurichten und sie in die Arme zu schließen, und sie womöglich ihren Mut verlor, trat sie in sein Zelt und platzte damit heraus.
»Warren, mein Entschluß steht fest. Ich werde keine Widerworte von dir dulden. Verstehst du? Die Sache ist zu wichtig.« Er schwieg, also fuhr sie fort. »Amelia und Janet sind meine Freundinnen. Abgesehen davon, daß sie Schwestern des Lichts in der Hand des Feindes sind, liebe ich sie. Sie würden dasselbe für mich tun, das weiß ich. Ich werde mich bemühen, sie und so viele wie möglich zu retten.«
»Ich weiß«, flüsterte er.
Er wußte es. Was bedeutete das? Schweigen breitete sich in der Dunkelheit aus. Verna runzelte die Stirn. Es war nicht Warrens Art, in einer solchen Angelegenheit nicht zu widersprechen. Auf seine Argumente war sie vorbereitet gewesen, nicht aber auf sein stummes Einverständnis.
Mit ihrem Han, der Kraft des Lebens und der Seele, über die die Gabe der Magie funktionierte, entzündete Verna eine Flamme in ihrer Hand und ließ sie auf eine Kerze überspringen. Er lag zusammengekauert auf seiner Decke, die Knie angezogen, während sein Kopf auf den Händen ruhte.
Sie kniete vor ihm hin. »Warren? Stimmt etwas nicht?«
»Verna«, antwortete er leise, »ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß es nicht so wunderbar ist, ein Prophet zu sein, wie ich mir das vorgestellt hatte.«
Warren war genauso alt wie Verna, sah aber jünger aus, weil er den Palast der Propheten nie verlassen hatte, dessen Bann den Alterungsprozeß verlangsamte, während sie gut zwanzig Jahre lang nach Richard gesucht hatte. Im Augenblick wirkte Warren nicht sehr jung.
Er hatte erst vor kurzem seine erste Vision als Prophet gehabt. Er hatte ihr erklärt, daß eine Prophezeiung als Vision eines Ereignisses erscheine, die von den Worten der Prophezeiung nur begleitet werde. Die Worte seien das, was niedergeschrieben wurde, es sei jedoch die Vision, die die eigentliche Prophezeiung darstellte. Deswegen brauchte ein Prophet auch so lange, um die wahre Bedeutung der Worte zu begreifen. Sie beschworen die Vision herauf, die von einem anderen Propheten weitergegeben wurde.
Kaum jemand wußte dies. Jeder versuchte, eine Prophezeiung anhand ihrer Worte zu verstehen. Nach allem, was Warren ihr erzählt hatte, wußte Verna inzwischen, daß diese Methode im günstigsten Fall völlig ungeeignet war, und im ungünstigsten gefährlich. Prophezeiungen waren nur für andere Propheten bestimmt.
Sie runzelte die Stirn. »Du hattest eine Vision? Eine weitere Prophezeiung?«
Warren überging die Frage und stellte selber eine.
»Haben wir Rada'Hans dabei?«
»Nur die Halsringe für die jungen Männer, die uns entkommen sind. Wir hatten keine Zeit, weitere mitzunehmen. Warum?«
Er legte den Kopf wieder auf seine Hände.
Verna drohte ihm mit dem Finger. »Warren, wenn das ein Trick ist, um mich dazu zu bringen, daß ich bei dir bleibe, dann wird er nicht funktionieren. Hast du gehört? Ich werde gehen, und zwar alleine. Das ist mein letztes Wort.«
»Verna«, entgegnete er leise. »Ich muß dich begleiten.«
»Nein. Es ist zu gefährlich. Ich liebe dich zu sehr. Ich werde nicht das Leben eines anderen aufs Spiel setzen. Wenn es sein muß, werde ich dir als Prälatin befehlen hierzubleiben. Ganz sicher, Warren.«
Sein Kopf kam wieder hoch. »Verna, ich liege im Sterben.«
Eine eiskalte Gänsehaut überzog kribbelnd ihre Arme und Beine.
»Was? Warren –«
»Ich habe diese Kopfschmerzen. Die Kopfschmerzen der Gabe.«
Verna blieben die Worte im Hals stecken, als ihr bewußt wurde, wie sehr sein Leben bedroht war.
Der einzige Grund, weshalb Schwestern des Lichts Knaben mit der Gabe bei sich aufnahmen, bestand darin, ihnen das Leben zu retten. Wenn sie nicht ausgebildet wurden, konnte die Gabe sie töten. Die Kopfschmerzen waren ein Anzeichen dafür, daß die verhängnisvolle Gabe sich fehlentwickelt hatte. Abgesehen davon, daß der Halsring den Schwestern die Kontrolle über die jungen Zauberer gab, schützte er das Leben des betreffenden Knaben, bis er gelernt hatte, seine Gabe zu beherrschen.
Wegen der sich überschlagenden Ereignisse hatte Verna Warren den Halsring lange vor der üblichen Zeit abgenommen.
»Aber du hast lange studiert, Warren. Du weißt, wie man die Gabe beherrscht. Du dürftest eigentlich keinen Rada'Han mehr brauchen.«
»Wäre ich ein gewöhnlicher Zauberer, stimmte das vielleicht, aber meine Gabe ist für Prophezeiungen ausersehen. Jahrhundertelang war Nathan der einzige Prophet im Palast. Wir wissen nicht, wie die Magie bei einem Propheten funktioniert. Ich hatte erst vor kurzem meine erste Prophezeiung. Das markierte eine neue Ebene meiner Fähigkeiten. Und jetzt habe ich die Kopfschmerzen.«
Plötzlich geriet Verna in Panik. Ihre Augen tränten. Sie schlang die Arme um ihn.
»Ich werde hierbleiben, Warren. Ich werde nicht fortgehen. Wir werden etwas unternehmen. Vielleicht können wir einem der Jungen den Halsring abnehmen, und ihr könnt ihn euch teilen. Das könnte funktionieren. Das werden wir als erstes ausprobieren.«
Er zog sie fest an sich. »Es wird nicht funktionieren, Verna.«
Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie erleichtert aufatmen ließ. Es war so einfach.
»Alles in Ordnung, Warren. Mir ist gerade eingefallen, was wir machen können. Hör zu.«
»Verna, ich weiß, was –«
Sie sagte ihm, er solle still sein. Sie nahm ihn bei den Schultern und sah ihm in die blauen Augen. Sie strich ihm das blonde, lockige Haar zurück. »Hör zu, Warren. Es ist einfach. Der Grund, weshalb die Schwestern gegründet wurden, war der, daß sie Knaben mit der Gabe helfen sollten. Man gab uns Rada'Hans, um sie zu beschützen, während wir ihnen beibringen, wie man die Gabe beherrscht.«
»Das weiß ich alles, Verna, doch –«
»Hör zu. Wir benutzen die Halsringe nur, weil wir keine Zauberer haben, die helfen können. In der Vergangenheit weigerten sich habgierige Zauberer, denen zu helfen, die mit der Gabe geboren wurden. Ein erfahrener Zauberer kann sich mit deinen Gedanken vereinen und den Schutz an dich weitergeben – dir zeigen, wie man die Gabe richtig benutzt. Für einen Zauberer ist das ein Kinderspiel, aber nicht für eine Magierin. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als einen Zauberer aufzusuchen.«
Verna zog das Reisebuch umständlich aus ihrem Gürtel und hielt es ihm vor die Augen. »Wir haben einen Zauberer – Zedd. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als mit Ann zu sprechen und sie und Zedd dazu zu bringen, sich mit uns zu treffen. Der Zauberer kann dir helfen, und dann geht es dir wieder gut.«
Warren starrte sie an. »Es wird nicht funktionieren, Verna.«
»Sag das nicht. Woher willst du das wissen, Warren.«
»Ich weiß es eben. Ich hatte noch eine weitere Prophezeiung.« Verna ließ sich auf die Fersen sinken. »Wirklich? Wie lautete sie?« Warren preßte sich die Fingerspitzen an die Schläfen. Sie sah, daß er Schmerzen hatte. Die von der Gabe hervorgerufenen Kopfschmerzen waren überaus quälend. Wenn man nichts dagegen unternahm, führten sie am Ende zum Tod.
»Jetzt hör du mir mal zur Abwechslung zu, Verna. Ich hatte eine Prophezeiung. Die Worte sind nicht wichtig. Aber ihre Bedeutung.« Er löste seine Hände von seinem Kopf und sah ihr in die Augen. In diesem Moment kam er ihr sehr alt vor. »Du mußt tun, was du geplant hast, und dich auf die Suche nach den Schwestern machen. In der Prophezeiung war nicht die Rede davon, ob du damit Erfolg haben wirst, doch muß ich dich begleiten. Wenn ich etwas anderes tue, werde ich sterben. Es handelt sich um eine Prophezeiung mit verknüpften Gabelungen – eine ›Entweder- oder‹-Prophezeiung.«
Sie räusperte sich. »Aber … es wird doch sicher…«
»Nein. Wenn ich bleibe oder versuche Zedd aufzusuchen, sterbe ich. Die Prophezeiung bestätigt nicht, ob ich überlebe, wenn ich mit dir gehe, immerhin besagt sie, daß meine einzige Chance darin besteht, dich zu begleiten. Wenn du mich zwingst hierzubleiben, werde ich sterben. Wenn du versuchst, mich zu Zedd zu bringen, werde ich sterben. Wenn du möchtest, daß ich eine Überlebenschance habe, dann mußt du mich mitnehmen. Entscheide dich, Prälatin.«
Verna mußte schlucken. Als Schwester des Lichts, als Magierin, sah sie am trüben Blick in seinen Augen, wie sehr ihm die Kopfschmerzen der Gabe zusetzten. Sie wußte auch, daß Warren sie über eine Prophezeiung nicht anlügen würde. Er würde vielleicht irgendeinen Trick versuchen, um sie zu begleiten, eine falsche Prophezeiung würde er nicht benutzen.
Er war ein Prophet. Prophezeiungen bedeuteten sein Leben. Und vielleicht seinen Tod.
Sie ergriff seine Hände. »Besorg ein paar Vorräte und zwei Pferde. Ich werde gehen und Adie noch etwas sagen, dann muß ich mit meinen Beraterinnen sprechen und ihnen erklären, was sie zu tun haben, solange wir fort sind.«
Verna küßte seine Hand. »Ich lasse nicht zu, daß du stirbst, Warren. Dafür liebe ich dich zu sehr. Wir werden dies gemeinsam durchstehen. Ich bin nicht müde. Laß uns nicht bis morgen früh warten. Wir können in einer Stunde aufbrechen.«
Warren zog sie an sich und schloß sie voller Dankbarkeit in seine Arme.