33

Während der nächsten Stunde stellten die Männer Fragen, zumeist an Drefan gerichtet. Die beiden Generäle machten Richard Vorschläge, die das Kommando und die Logistik betrafen. Weitere Möglichkeiten wurden kurz besprochen, Pläne geschmiedet, Offizieren Pflichten übertragen. Die Armee sollte sich noch vor der Nacht in Marsch setzen. Es gab eine Menge Soldaten des Lebensborns aus dem Schoß der Kirche darunter, die sich ergeben hatten, und obwohl sie seitdem Richard die Treue geschworen hatten, hielt man es nach wie vor für klug, auch diese Männer aufzuteilen und mit jeder Einheit einige mitzuschicken, anstatt sie zusammenzulassen. Richard war mit dem Vorschlag einverstanden.

Als endlich alle gegangen waren, um sich an die Arbeit zu machen, ließ Richard sich auf seinen Stuhl sinken. Er hatte sich weit von seiner Existenz als Waldführer entfernt.

Kahlan war stolz auf ihn.

Sie öffnete den Mund, um ihm das zu sagen, doch Nadine kam ihr zuvor.

Richard murmelte ein tonloses »Danke«.

Zögernd legte Nadine ihm die Fingerspitzen hinten auf die Schulter. »Richard … für mich warst du immer … ich weiß nicht … einfach Richard. Ein Junge von zu Hause. Ein Waldführer.

Ich glaube, heute, und vor allem heute abend, mit all den wichtigen Männern, habe ich dich zum ersten Mal in einem anderen Licht gesehen. Du bist tatsächlich dieser Lord Rahl.«

Richard stützte seine Ellenbogen vor sich auf den Tisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Ich glaube, ich wäre lieber am Grund dieses Abhangs, verschüttet zusammen mit dem Tempel der Winde.«

»Red keinen Unsinn«, sagte sie leise.

Kahlan stellte sich neben ihn und nahm eine bedrohliche Haltung ein. Nadine schwebte davon.

»Richard«, sagte sie, »du mußt ein wenig schlafen. Jetzt. Du hast es versprochen. Wir brauchen dich stark. Wenn du nicht ein bißchen schläfst –«

»Ich weiß.« Er stützte sich auf den Tisch und stand auf, dann wandte er sich an Drefan und Nadine. »Hat einer von euch beiden ein Mittel, das beim Einschlafen hilft? Ich habe es versucht … in letzter Zeit liege ich einfach nur da. Meine Gedanken kommen einfach nicht zur Ruhe.«

»Eine Feng-San-Dissonanz«, verkündete Drefan sofort. »So, wie du die Grenzen der Belastbarkeit deines Körpers überschreitest, hast du dir das selbst zuzuschreiben. Unser Leistungsvermögen ist begrenzt, und wenn man –«

»Drefan«, schnitt ihm Richard mit freundlicher Stimme mitten im Satz das Wort ab, »ich weiß, was du meinst, aber ich tue, was ich tun muß. Das wirst du sicher verstehen. Jagang versucht, uns alle ins Grab zu bringen. Es nützt mir nichts, wenn ich munter bin wie ein Eichhörnchen im Frühling, wenn die Folge davon ist, daß wir am Ende alle tot sind.«

Drefan stöhnte. »Natürlich. Aber davon wirst du nicht kräftiger.«

»Ich werde also später versuchen, ein guter Junge zu sein. Was kann ich also tun, um heute nacht zu schlafen?«

»Meditieren«, erklärte Drefan. »Das wird deine Energieströme beruhigen und sie wieder in Einklang bringen.«

Richard rieb sich die Stirn. »Hunderttausende von Menschen laufen Gefahr zu sterben, Drefan, weil Jagang die ganze Welt unter seine Knute bringen will. Er hat uns bewiesen, daß seine Entschlossenheit keine Grenzen kennt.

Er fängt mit dem Morden bei den Kindern an.« Richards Knöchel wurden weiß, als er die Hände zu Fäusten ballte. »Nur, um mir eine Botschaft zu schicken! Hilflose Kinder!

Dieser Kerl hat kein Gewissen. Er will mir zeigen, wozu er bereit ist, um zu gewinnen. Um mich zur Aufgabe zu zwingen! Er glaubt, ich werde daran zerbrechen!«

Im Gegensatz zu seinen Knöcheln hatte sich Richards Gesicht dunkelrot verfärbt. »Da täuscht er sich. Niemals werde ich unser Volk einem solchen Tyrannen überlassen. Niemals! Ich werde tun, was immer ich muß, um diese Seuche aufzuhalten! Das schwöre ich!«

Das Zimmer hallte von der plötzlichen Stille wider. So wütend hatte Kahlan Richard noch nie gesehen. Wenn ihm die tödliche Raserei des Schwertes der Wahrheit in den Augen stand, lag das Ziel seines Zorns gewöhnlich auf der Hand. Der Zorn wurde durch eine greifbare Bedrohung ausgelöst und richtete sich gegen diese.

Hier handelte es sich um die hilflose Wut auf einen unsichtbaren Feind. Hier gab es keine Bedrohung, die er mit den Händen greifen konnte. Er hatte keine Möglichkeit, sie unmittelbar zu bekämpfen. Kahlan sah ihm an den Augen an, daß dieser Zorn nicht der Magie des Schwertes entsprang. Dies war ausschließlich Richards eigene Wut.

Schließlich entspannte sich seine Miene. Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Auch seine Stimme bekam er wieder unter Kontrolle.

»Wenn ich versuche zu meditieren, sehe ich in Gedanken doch nur wieder die kranken und toten Kinder vor mir. Ich ertrage es nicht, so etwas im Schlaf zu sehen. Ich brauche Schlaf und keine Träume.«

»Du willst schlafen, ohne zu träumen? Dir machen Träume zu schaffen?«

»Alpträume. Ich habe sie auch den ganzen Tag über, wenn ich wach bin, nur sind sie dann Wirklichkeit. Der Traumwandler hat keinen Zugang zu meinen Träumen, trotzdem hat er eine Möglichkeit gefunden, mir Alpträume zu bereiten. Bitte, Gütige Seelen, gönnt mir wenigstens im Schlaf ein wenig Frieden.«

»Ein sicheres Anzeichen für die Feng-San-Meridian-Dissonanz«, bestätigte Drefan sich noch einmal selbst. »Du bist offenbar ein schwieriger Patient, wenn auch die Ursache offensichtlich ist.«

Er schob den Knochenstift aus der ledernen Schlaufe und öffnete die Klappe einer der Taschen an seinem Gürtel. Er zog einige Lederbeutel heraus. Einen davon stopfte er wieder zurück. »Nein, das nimmt die Schmerzen, nützt aber nicht viel, um einzuschlafen.« Er schnupperte an einem anderen. »Nein, davon würdest du dich übergeben.« Er suchte in seinen anderen Sachen und schloß schließlich die Klappe über den Taschen. »Etwas so Einfaches habe ich leider nicht dabei. Ich habe nur sehr seltene Arzneien mitgenommen.«

Richard seufzte. »Trotzdem, danke, daß du nachgesehen hast.«

Drefan wandte sich an Nadine. Sie war ganz verhaltener Eifer, preßte in gebändigter Freude die Lippen aufeinander, während die anderen miteinander sprachen.

»Die Kräuter, die Ihr Yonicks Mutter gegeben habt, wären für Richard nicht stark genug«, sagte Drefan zu ihr. »Habt Ihr keinen Hopfen?«

»Sicher«, antwortete sie ruhig, aber sichtlich erfreut, daß sie endlich gefragt wurde. »Natürlich als Tinktur.«

»Ausgezeichnet«, sagte Drefan. Er gab Richard einen Klaps auf den Rücken. »Meditieren kannst du ein anderes Mal. Heute abend wirst du im Nu schlafen. Nadine wird dir ein Mittelchen zubereiten. Ich werde mich jetzt mit den Dienstboten besprechen gehen und ihnen meine Empfehlungen geben.«

»Vergiß nicht zu meditieren«, brummte Richard, als Drefan hinausging.

Berdine blieb noch und las im Tagebuch, während Nadine, Cara, Raina, Ulic, Egan und Kahlan Richard in sein Zimmer folgten, das ganz in der Nähe lag. Ulic und Egan bezogen draußen auf dem Gang Posten. Die übrigen betraten zusammen mit Richard das Zimmer.

Drinnen warf er sein goldenes Cape über einen Stuhl. Er zog den Waffengurt über den Kopf und legte das Schwert der Wahrheit darauf. Erschöpft streifte er den goldbesetzten Waffenrock über den Kopf und zog das Hemd aus, so daß er in einem schwarzen, ärmellosen Unterhemd dastand.

Nadine sah aus den Augenwinkeln zu und zählte dabei leise jeden Tropfen mit, den sie in ein Glas Wasser träufelte.

Richard ließ sich auf die Bettkante fallen. »Cara, würdet Ihr mir bitte die Stiefel ausziehen?«

Cara verdrehte die Augen. »Sehe ich aus wie ein Kammerdiener?«

Als Richard sie daraufhin anlächelte, ging sie in die Hocke und machte sich an die Arbeit.

Er stützte sich hinten auf seine Ellenbogen. »Sagt Berdine, ich möchte, daß sie nach weiteren Hinweisen auf diesen Berg der Vier Winde sucht. Sie soll sehen, was sie sonst noch darüber herausfinden kann.«

Cara schaute von seinen Füßen hoch. »Welch brillanter Einfall«, sagte sie mit geheuchelter Begeisterung. »Ich wette, darauf wäre sie allein nie gekommen, allwissender und weiser Meister.«

»Schon gut, schon gut. Ich werde offensichtlich nicht gebraucht. Wie steht es dort drüben mit meinem magischen Trank?«

»Soeben fertig geworden«, antwortete Nadine gut gelaunt.

Ächzend streifte Cara seinen anderen Stiefel ab. »Knöpft die Hosen auf, dann ziehe ich Euch die auch noch aus.«

Richard sah sie erbost an. »Das schaffe ich schon, danke.«

Cara lächelte in sich hinein, als er sich vom Bett herunterwälzte und zu Nadine ging. Sie reichte ihm das Glas Wasser mit der Hopfentinktur. Zusätzlich hatte sie noch etwas anderes ins Wasser gegeben.

»Trink nicht alles auf einmal. Ich habe fünfzig Tropfen hineingegeben. Wahrscheinlich ist das weit mehr, als du brauchst, aber ich wollte dir ein wenig mehr dalassen. Jetzt etwa ein Drittel, und wenn du dann nachts aufwachst, kannst du noch ein oder zwei Schlucke nehmen. Ich habe ein wenig Schädeldach und Baldrian beigegeben, damit du tief und traumlos schläfst.«

Richard stürzte die Hälfte hinunter. Er verzog das Gesicht. »Das Zeug schmeckt so widerlich, daß es mich entweder betäubt oder umbringt.«

Nadine lächelte ihn an. »Du wirst schlafen, Richard. Ganz bestimmt. Wenn du zu früh aufwachst, trinkst du einfach noch ein wenig.«

»Danke.« Er setzte sich auf die Bettkante und sah von einer Frau zur anderen. »Ich schaffe das mit meinen Hosen.«

Cara verdrehte die Augen und begab sich, Nadine vor sich herschiebend, zur Tür. Kahlan gab ihm einen Kuß auf die Wange.

»Geh ins Bett. Ich komme noch einmal, decke dich zu und gebe dir einen Gutenachtkuß, sobald ich mich um die Wachen gekümmert habe.«

Raina folgte Kahlan nach draußen und schloß die Tür. Nadine wartete und wippte auf den Fersen.

»Wie geht es dem Arm? Braucht Ihr einen Umschlag?«

»Meinem Arm geht es viel besser«, sagte Kahlan. »Ich glaube, er ist wieder gesund. Trotzdem, danke der Nachfrage.«

Kahlan verschränkte die Hände und sah die andere Frau an. Cara sah Nadine ebenfalls an. Und auch Raina.

Nadines Blick wanderte von einer Frau zur anderen. Sie sah zu Ulic und Egan hinüber, die sie ebenfalls ansahen. »Also schön. Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht«, erwiderten Kahlan, Cara und Raina wie aus einem Mund.

Sie beobachteten, wie Nadine von dannen schlenderte.

»Ich behaupte noch immer, Ihr hättet mich sie töten lassen sollen«, flüsterte Cara.

»Vielleicht werde ich das noch nachholen«, gab Kahlan zurück. Sie klopfte an die Tür. »Richard? Liegst du im Bett?«

»Ja.«

Cara wollte Kahlan folgen, als diese die Tür öffnete.

Kahlan drehte sich um. »Es wird nur eine Minute dauern. Ich glaube nicht, daß ich in einer Minute meine Tugend verlieren kann.«

Cara runzelte die Stirn. »Bei Lord Rahl ist alles möglich.« Raina lachte und gab Cara einen Klaps auf den Arm, damit sie Kahlan in Ruhe ließ.

»Ich würde mir keine Sorgen machen. Nach dem, was wir heute erlebt haben, steht weder ihm noch mir der Sinn danach«, gab Kahlan zurück. Dann schloß sie die Tür.

Eine einzelne Kerze brannte. Richard war bis zum Bauch zugedeckt. Kahlan setzte sich auf die Bettkante und nahm seine Hand. Sie hielt sie sich ans Herz.

»Bist du sehr enttäuscht?« wollte er wissen.

»Wir werden heiraten, Richard. Ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet. Wir sind zusammen, das ist alles, was wirklich zählt.«

Richard lächelte. Seine müden Augen funkelten. »Na ja, alles nicht.«

Kahlan konnte nicht anders, sie mußte ebenfalls lächeln. Sie gab ihm einen Kuß auf die Knöchel seiner Hand.

»Solange du nur weißt, daß ich verstehe«, sagte sie. »Ich möchte nicht, daß du mit dem Gedanken einschläfst, ich wäre untröstlich darüber, daß es wieder einen Aufschub mit der Hochzeit gegeben hat. Wir werden heiraten, sobald wir können.«

Er legte ihr die andere Hand in den Nacken und zog sie zu einem zärtlichen Kuß herunter. Sie legte ihm die Hand auf die nackte Brust, fühlte seine warme Haut, seinen Atem, seinen Herzschlag. Wäre sie wegen des Elends der Kinder, dessen Zeuge sie heute geworden waren, nicht so niedergeschlagen gewesen, hätte seine Berührung sehnsüchtige Gefühle in ihrer Brust entfacht.

»Ich liebe dich«, sagte sie leise.

»Ich liebe dich, jetzt und auf ewig«, gab er leise zurück.

Sie blies die Kerze aus. »Schlaf gut, mein Liebster.«

Cara musterte Kahlan argwöhnisch, als sie die Tür hinter sich schloß. »Das waren zwei Minuten.«

Kahlan überging Caras kleine Stichelei. »Raina, würdet Ihr Richards Zimmer bewachen, bis Ihr zu Bett geht, und anschließend eine Wache aufstellen lassen?«

»Ja, Mutter Konfessor.«

»Ulic, Egan. Wegen des Schlaftranks wird Richard vielleicht nicht aufwachen können, wenn ihm Gefahr droht. Ich möchte, daß einer von euch hierbleibt, wenn Raina zu Bett geht.«

Ulic verschränkte seine massigen Arme. »Mutter Konfessor, keiner von uns beiden hat die Absicht, von dieser Stelle zu weichen, solange Lord Rahl schläft.«

Egan deutete auf den Boden vor der Wand gegenüber. »Wenn es sein muß, kann einer von uns dort ein Nickerchen halten. Wir werden beide hierbleiben. Macht Euch wegen Lord Rahls Sicherheit keine Sorgen.«

»Vielen Dank, euch allen. Noch etwas: Nadine darf nicht in dieses Zimmer hineingelassen werden – unter gar keinen Umständen.«

Alle nickten zufrieden. Kahlan wandte sich an die rothaarige Mord-Sith.

»Geht zu Berdine, Cara. Ich werde mir einen Umhang besorgen. Ihr beide solltet Eure Umhänge ebenfalls mitnehmen. Die Nacht ist stürmisch.«

»Und wo gehen wir hin?«

»Ich treffe Euch beide draußen bei den Stallungen.«

»Bei den Stallungen? Was wollt Ihr denn da? Es ist Zeit zum Abendessen.«

Cara würde wegen einer so unbedeutenden Angelegenheit wie dem Abendessen niemals zögern, ihre Pflicht zu tun. Sie war einfach nur mißtrauisch.

»Dann holt Euch etwas aus der Küche, das wir mitnehmen können.«

Cara verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Wohin soll es denn gehen?«

»Wir reiten aus.«

»Wir reiten aus. Und wohin reiten wir, Mutter Konfessor?«

»Zur Burg der Zauberer.«

Cara und Raina zogen die Augenbrauen hoch.

Caras Überraschung verwandelte sich in ein mißbilligendes Stirnrunzeln. »Weiß Lord Rahl, daß Ihr die Absicht habt, zur Burg hinaufzureiten?«

»Natürlich nicht. Hätte ich ihm gesagt, weshalb ich dorthin will, hätte er darauf bestanden, mich zu begleiten. Er braucht Schlaf, also habe ich geschwiegen.«

»Und warum reiten wir dorthin?«

»Weil der Tempel der Winde verschwunden ist. Die Zauberer, die dafür verantwortlich waren, wurden vor Gericht gestellt. In der Burg gibt es Aufzeichnungen von allen Gerichtsverhandlungen, die je stattgefunden haben. Diese Aufzeichnungen möchte ich finden. Richard kann morgen einen Blick hineinwerfen, sobald er ausgeschlafen hat. Vielleicht hilft ihm das weiter.«

»Wie sinnvoll, nach Einbruch der Dunkelheit zur Burg der Zauberer hinaufzureiten. Ich werde Berdine holen und auch etwas zu essen. Wir treffen uns dann bei den Stallungen. Tun wir doch so, als würden wir zu einem Picknick reiten«, spottete Cara munter.

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