Kahlan und Richard saßen voneinander getrennt, zwischen ihnen der Legat und Cara. Kahlan hörte, wie die Doppeltür sich öffnete. Es waren Nadine und Drefan. Ulic ließ sie herein, dann schloß er die Tür wieder.
Richard strich sich im Aufstehen das Haar nach hinten. Kahlan wollte ihre Beine nicht auf die Probe stellen, noch nicht. Alles war ihr zwischen den Fingern zerronnen. Ihre Pflicht hatte sie gezwungen, alles aufzugeben.
Nadine faßte die Anwesenden im Saal ins Auge: den Legaten, seine sechs Gattinnen, Cara, Kahlan und schließlich Richard, der sich ihr zögernd näherte.
Richard hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet. »Ihr beide wißt, daß die Pest durch Magie ausgelöst wurde. Ich habe Euch beiden erklärt, wie diese aus dem Tempel der Winde entwendet wurde. Der Tempel hat seine Bedingungen gestellt, für den Fall, daß ich die Erlaubnis erhalte, ihn zu betreten und die Pest zu beenden.
Der Tempel verlangt, daß sowohl Kahlan als auch ich heiraten. Er hat zwei Personen benannt, die wir den Bedingungen entsprechend heiraten müssen. Es tut mir leid, daß man Euch beide da … hineingezogen hat. Den Grund dafür kenne ich nicht. Der Tempel weigert sich, dies näher zu begründen, und behauptet lediglich, es sei unsere einzige Chance, die Pest aufzuhalten. Ich kann keinen von Euch beiden zwingen, sein Einverständnis zu geben. Ich kann Euch nur bitten.«
Richard räusperte sich und versuchte, seine Stimme zu festigen. Er ergriff Nadines Hand. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Nadine, willst du mich heiraten?«
Nadines Blick ging augenblicklich hinüber zu Kahlan. Die hatte ihre Konfessorenmiene aufgesetzt, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Pflichterfüllung, das hatte sie ihre Mutter ebenfalls gelehrt.
Nadine blickte zu den anderen hinüber, dann sah sie wieder hinunter auf Richards Kopf.
»Liebst du mich, Richard?«
Endlich hob Richard den Kopf und sah ihr in die Augen. »Nein. Tut mir leid, Nadine, aber ich liebe dich nicht.«
Die Antwort brachte sie nicht aus der Fassung. Kahlan war sicher, daß sie keine andere erwartet hatte.
»Ich werde dich heiraten, Richard. Ich werde dich glücklich machen. Du wirst schon sehen. Mit der Zeit wirst du mich schließlich doch noch lieben.«
»Nein, Nadine«, erwiderte Richard leise, »das werde ich nicht. Wir werden Mann und Frau sein, wenn du dich dazu bereit erklärst, und ich werde dir treu sein, aber mein Herz wird immer Kahlan gehören. Es tut mir sehr leid, dir das so deutlich sagen zu müssen, wo ich dich doch gerade bitte, mich zu heiraten, aber ich möchte dir nichts vorspielen.«
Nadine dachte einen Augenblick nach. »Nun, viele Ehen werden arrangiert und erweisen sich am Ende als gut.« Sie lächelte ihn an. Kahlan fand, es war ein verständnisvolles Lächeln. »Diese Ehe haben die Seelen arrangiert. Das muß etwas bedeuten. Ich werde dich heiraten, Richard.«
Richard sah sich nach Kahlan um. Jetzt war sie an der Reihe. In seinen toten grauen Augen blitzte es: Zorn.
Kahlan wußte, daß ihn dies innerlich ebenso zerriß wie sie.
Sie fand sich vor Drefan wieder, noch bevor sie richtig etwas davon mitbekam. Beim ersten Versuch versagte ihr die Stimme. Sie brachte einfach kein Wort heraus. Sie versuchte es noch einmal.
»Drefan, willst du … mich heiraten?«
Seine blauen Darken-Rahl-Augen taxierten sie ohne jede Regung. Aus irgendeinem Grund mußte sie an seine Hand zwischen Caras Beinen denken und hätte sich fast übergeben.
»Wie Nadine sagte, ich könnte es schlechter treffen als mit einer von den Seelen arrangierten Heirat. Vermutlich besteht wohl keine Chance, daß du mich jemals lieben wirst?«
Kahlans Kinn zitterte, als sie auf den Boden starrte. Die Stimme versagte ihr den Dienst. Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, wie auch immer. Vielleicht erleben wir trotzdem ein paar schöne Zeiten. Ich werde es tun. Ich werde dich heiraten, Kahlan.«
Glücklicherweise hatte sie Richard nie erzählt, was Drefan mit Cara gemacht hatte. Richard hätte sonst womöglich die Beherrschung verloren und sein Schwert gezogen, als Drefan sagte, er werde Kahlan heiraten.
Cara und der Legat traten vor. »Dann ist es also besiegelt«, sagten sie wie aus einem Mund. »Die Winde sind erfreut, daß sie die Einwilligung aller Beteiligten haben.«
»Wann?« krächzte Richard mit heiserer Stimme. »Wann werden wir … wann sollen wir …? Und wann kann ich in den Tempel der Winde? Die Menschen sterben. Ich muß den Winden helfen, dem ein Ende zu bereiten.«
»Noch heute abend«, sagten Cara und der Legat wie aus einem Mund. »Wir werden unverzüglich zum Berg Kymermosst aufbrechen. Ihr werdet heute abend gleich nach unserem Eintreffen dort getraut.«
Kahlan fragte nicht, wie sie zu einem Ort gelangen sollten, der nicht mehr existierte. Es war ihr gleichgültig. Ihr kam es nur noch darauf an, daß sie an diesem Abend getraut werden würden.
»Das mit Raina tut mir leid«, sprach Nadine Richard ihr Beileid aus. »Wie geht es Berdine?«
»Nicht gut. Sie befindet sich oben in der Burg.«
Richard wandte sich an Cara. »Können wir auf unserem Weg dort haltmachen? Ich sollte ihr erklären, was geschehen ist. Sie wird bis zu meiner Rückkehr bei der Sliph Wache halten müssen. Ich muß es ihr sagen.«
»Und ich würde ihr gerne etwas geben, damit sie sich besser fühlt«, fügte Nadine hinzu.
»Erlaubnis erteilt«, sagte Cara mit dieser eiskalten Stimme.
Berdine wirkte entsetzt, als Richard ihr alles erzählte. Sie schlang die Arme um ihn und weinte aus doppeltem Kummer. Die Sliph sah von ihrem Brunnen aus zu und runzelte neugierig die Stirn.
Nadine mischte etwas aus ihren Säckchen in ihrem großen Beutel zusammen, gab Berdine Anweisungen, wann sie es nehmen sollte, und versprach, es werde ihr helfen, ihren Kummer zu überstehen. Richard versuchte, Berdine die Sachen zu erklären, die sie möglicherweise noch wissen mußte.
Kahlan konnte es fast als Kribbeln auf der Haut spüren, wie die Zeit vorbeiflog, während sie immer tiefer und tiefer hinab in den finsteren Abgrund stürzte.
»Wir müssen aufbrechen«, sagte Cara und unterband damit alle Hinhaltetaktik. »Wir werden scharf reiten müssen, wenn wir vor Mondaufgang ankommen wollen.«
»Wie finden wir den Tempel der Winde?« wollte Richard wissen.
»Man findet den Tempel der Winde nicht«, erwiderte Cara. »Der Tempel der Winde findet dich, vorausgesetzt, die Anforderungen sind erfüllt.«
Nadine zeigte Richard ihren Beutel. »Kann ich das dann hierlassen? Er ist schwer, außerdem kommen wir doch ohnehin hierher zurück.«
»Natürlich«, antwortete Richard, dessen Stimme eine monotone Folge von Lauten bar jeden Lebens war.
Man zwang Kahlan, auf dem Weg zurück zu den Pferden hinter Richard und neben Drefan zu gehen. Nadine legte Richard die Hand auf den Rücken. Anständigerweise war sie bemüht, sich mit der Freude über ihren Triumph zurückzuhalten, trotzdem war die Berührung als unmißverständliche Erklärung gedacht: Er gehört jetzt mir.
Am Fuß der Straße hinauf zur Burg hörte Kahlan, während sie die Stadt verließen, wie die Soldaten an den Leichenkarren riefen, die Leute sollten ihre Toten auf die Straße schaffen. Bald würde das ein Ende haben, genau wie das Leiden und das Sterben durch die Pest. Das allein spendete ihr ein wenig Trost. Die Kinder und ihre Eltern würden leben.
Wenn dies nur für Raina rechtzeitig gekommen wäre. Berdine hatte es nicht offen ausgesprochen, aber Kahlan wußte, der Gedanke tobte in ihrem Kopf.
Richard hatte allen ihren Bewachern befohlen zurückzubleiben. Ulic und Egan hatten den Ausdruck in seinem Gesicht gesehen und nicht widersprochen. Nur Richard und Nadine, Kahlan und Drefan, Cara, der Legat und seine sechs Frauen brachen auf und ritten hinauf zum Berg Kymermosst.
Kahlan hatte keine Ahnung, wie das alles funktionieren sollte, wie man in den Tempel der Winde gelangen sollte, und Richard erging es ebenso. Sie war auch nicht im geringsten neugierig. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, daß Richard Nadine heiraten würde. Bestimmt dachte Richard an nichts anderes als an ihre Hochzeit mit Drefan.
Während des Ritts gab Drefan Geschichten zum besten und versuchte, alle zu unterhalten und aufzumuntern. Kahlan bekam von alledem nicht viel mit. Sie beobachtete Richards Rücken. Sie hatte nur einen einzigen Wunsch: Sie wollte hinschauen, wenn er sich nach ihr umdrehte, wie er es von Zeit zu Zeit tat.
Sie konnte es nicht ertragen, ihn nicht anzusehen, doch wenn ihre Blicke sich kreuzten, war ihr, als brenne sich ein heißes Messer in ihr Herz.
Die bergige Landschaft, in die sie hineinritten, das grünende Gras, die sich öffnenden Farne, die knospenden Bäume, all das bereitete ihr keine Freude. Es war ein warmer Tag, verglichen mit dem Frühlingswetter, das sie bislang gehabt hatten, auch wenn am Himmel bedrohlich dunkle Wolken aufzogen. Vermutlich würden sie noch vor dem Abend ein Unwetter erleben. Die Andolier zuckten jedesmal erschrocken zusammen, wenn sie in den Himmel blickten.
Kahlan zog ihren Umhang enger zusammen. Sie dachte an das blaue Kleid, das sie bei der Hochzeit mit Richard hatte tragen wollen.
Sie merkte, daß sie wütend auf ihn wurde. Er hatte sie zu dem Glauben verführt, sie könnte Liebe und Glück erfahren. Er hatte sie dazu verführt zu vergessen, daß sie nur die Pflicht kannte. Hatte sie dazu verführt, ihn zu lieben.
Als sie sich dieses Zorns bewußt wurde, kamen ihr erneut die Tränen, die ihr lautlos übers Gesicht rannen. Dies betraf nicht nur sie, es betraf ebenso ihn. Diesen Schmerz erlitten sie gemeinsam.
Sie dachte daran, wie sie ihn kennengelernt hatte. Es schien so lange her, daß sie vor Darken Rahls gedungenen Mördern geflohen war und Richard ihr geholfen hatte. Sie dachte an all die Abenteuer, die sie zusammen erlebt hatten, an all die Male, die sie im Schlaf über ihn gewacht, ihn dabei angesehen und sich vorgestellt hatte, sie wäre nur eine einfache Frau, die sich verlieben konnte, und kein Konfessor, der seine Gefühle geheimhalten mußte und gezwungen war, ein Leben ohne Liebe, aber voller Pflichtgefühl zu führen.
Indes hatte Richard einen Weg gefunden, eine Möglichkeit, wie sie, ein Konfessor, Liebe finden konnte. Und der hatte sich jetzt in einen Aschehaufen verwandelt.
Warum taten die Seelen ihnen das an? Die Antwort kam ihr, als sie sich an das Gespräch mit Shota und mit der Ahnenseele erinnerte. Es gab nicht nur gute, sondern auch böse Seelen. Diese bösen Seelen hatten hier ihre Hand im Spiel. Sie waren es, die dies wollten, die es verlangten.
Die Seelen, die diesen Preis forderten, waren mehr als böse.
Am späten Vormittag machten sie halt, um den Pferden eine Rast zu gönnen und um etwas zu essen. Nadine und Drefan unterhielten sich mit vollem Mund. Der Legat saß zurückgelehnt und ließ sich von seinen Frauen füttern. Es ging ihm nicht besonders gut mit seiner aufgeplatzten Lippe. Sie rieben ihre Beine an ihm und kicherten, wenn er ihnen aus den Fingern aß. Zwischen den Bissen, die sie ihm hinhielten, bedienten sie sich selbst. Cara aß schweigend. Kahlan nahm keine Notiz davon, was irgend jemand speiste.
Sie und Richard hatten keinen Appetit. Beide hockten sie wie Totholz auf den sonnenbeschienenen Felsen, schweigend, mürrisch, den starren Blick ins Leere gerichtet.
Als die anderen ihr Mahl beendet hatten, beobachtete Richard, wie alle wieder aufsaßen. Keiner der anderen hatte es bemerkt, doch Kahlan sah den schwelenden Zorn in seinen Augen. Die Seelen hatten Drefan dazu auserkoren, ihm weh zu tun. Schlimmeres Leid hätten sie ihm nicht zufügen können.
»Wie geht es dem Arm?« fragte Nadine Drefan, als alle wieder aufbrachen.
Drefan hielt ihn in die Höhe und streckte die Finger zum Beweis.
»So gut wie neu.«
Kahlan achtete nicht auf ihre Unterhaltung. Den ganzen Morgen über hatten sie miteinander geplaudert. In ihrer Welt des Schweigens fiel es ihr kaum auf.
»Was ist mit Eurem Arm passiert, Meister Drefan?« erkundigte sich eine der sechs Schwestern.
»Oh, irgendeinem Schurken hat es nicht gefallen, wie ich die Welt von Krankheit befreien wollte.«
Drefan drehte sich arrogant im Sattel um. »Hat mich mit seinem Messer erwischt. Hat versucht, mich umzubringen, der dreckige Lump.«
»Wieso ist es ihm nicht gelungen?«
Drefan tat den Zwischenfall mit einer überheblichen Handbewegung ab. »Ich habe ihn ein wenig Stahl sehen lassen, da ist er um sein Leben gerannt.«
»Ich habe seine Wunde vernäht«, erklärte Nadine den staunenden Schwestern. »Und sie war tief.«
Drefan warf Nadine einen Blick zu, der sie im Sattel schrumpfen zu lassen schien. »Ich habe es dir schon einmal erklärt, Nadine, es war nicht der Rede wert. Ich will kein Mitleid. Eine Menge Menschen sind in viel größerer Not als ich.«
Er ließ sich angesichts des einfältigen Ausdrucks auf ihrem Gesicht erweichen. »Jedenfalls hast du deine Arbeit gut gemacht. So gut wie jeder meiner Heiler. Das weiß ich zu schätzen.«
Nadine lächelte, während sie weiterritten.
Drefan zog die weite Kapuze seines flachsenen Gewandes hoch.
Gütige Seelen, dachte sie, das soll mein Ehemann werden. Für den Rest meines Lebens wird er mein Lebensgefährte sein.
Bis sie starb und wieder mit Richard vereint war.
Der süße Tod konnte sie nicht früh genug ereilen.
Clarissa rieb sich die feuchten Hände, linste durch das Schlüsselloch und hörte zu, wie Nathan im anderen Zimmer mit den Schwestern sprach.
»Ich bin sicher, Ihr versteht, Lord Rahl«, sagte Schwester Jodelle. »Dies dient auch Eurer Sicherheit.« Nathan lachte amüsiert. »Wie zuvorkommend von Eurem Kaiser, an mein Wohlbefinden zu denken.«
»Wenn Richard Rahl, wie Ihr behauptet, heute abend vernichtet wird, dann könnt Ihr ganz unbesorgt sein. Wir werden es anschließend herbringen. Das ist doch sicher früh genug.«
Nathan feuerte einen hitzigen Blick in ihre Richtung. »Ich habe es Euch bereits erklärt, Jagangs Plan ist gelungen. Richard Rahl wird heute nacht vernichtet werden. Ich kann nur hoffen, daß Ihr nach der heutigen Nacht noch lernt, mich nicht mehr auszufragen.«
Clarissa mußte sich verrenken, um durch das Schlüsselloch sehen zu können, wie Nathan sich von den beiden Schwestern abwandte und überlegte.
»Und mit allem anderen ist er einverstanden?«
»Mit allem«, versicherte ihm Schwester Willamina. »Er freut sich darauf, Euch als Generalbevollmächtigten in D'Hara zu haben, und ist mehr als einverstanden mit Eurem Angebot, ihm bei den Büchern mit Prophezeiungen zu helfen, die er über die Jahre zusammengetragen hat.«
Nathan knurrte: »Wo befinden sie sich überhaupt? Ich glaube kaum, daß ich dafür zu begeistern bin, durch die ganze Alte Welt zu reisen, nur um einen Blick in ein paar alte Bücher zu werfen. Ich habe schließlich Geschäfte in D'Hara. Als der neue Lord Rahl werde ich meine Macht festigen müssen.«
»Seine Exzellenz hat vorhergesehen, daß Euch das ungelegen käme, und daher vorgeschlagen, die interessanten Dinge von seinen Zauberern herausschreiben und Euch zur Prüfung vorlegen zu lassen.«
Clarissa wußte, wovon die Schwester sprach. Bevor sie angekommen waren, hatte Nathan ihr erklärt, man werde ihm womöglich überhaupt nicht gestatten, die Prophezeiungen aus Jagangs Besitz einzusehen, ganz zu schweigen davon, daß man ihm verriet, wo sie sich befanden. Jagang würde wollen, daß Nathan nur ausgesuchte Bände zu Gesicht bekäme, die zuvor bereits von anderen einer Auswahl unterzogen worden waren.
Schließlich richtete Nathan seine ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Schwestern.
»Alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit. Wenn wir erst einmal zusammengearbeitet haben, die Neue Welt auf Vordermann gebracht haben und soweit sind, daß wir dem Wort des anderen voll und ganz trauen, werde ich nur zu gerne Besuche von Jagangs Schoßhunden akzeptieren. Bis dahin jedoch hat unser Kaiser sicher Verständnis dafür, daß ich nicht gerade versessen darauf bin, jenen mit der Gabe meinen Aufenthaltsort preiszugeben. Deshalb werde ich auch unverzüglich aufbrechen.«
Schwester Jodelle seufzte. »Wie gesagt, er war erfreut, es Euch bringen zu lassen. Dennoch werdet Ihr verstehen, daß er Grund zur Sorge hätte, wenn er einen Zauberer mit Eurer Macht, dessen Denkweise ihm ein Rätsel ist, zu nahe an sich heranließe. Er ist zwar an dieser Übereinkunft überaus interessiert, aber auch ein Mann, der Vorsicht walten läßt.«
»Genau wie ich«, gab Nathan zurück. »Deswegen kann ich nicht zulassen, daß man mir das Buch bringt. Das Treffen heute hier mit Euch ist das letzte Risiko, das ich einzugehen beabsichtige. Trotzdem will ich dieses Buch. Bis ich es habe, fehlt mir jede Möglichkeit festzustellen, ob es für mich sicher ist, nach D'Hara zu gehen.«
»Seine Exzellenz hat dafür Verständnis und nichts gegen Eure Bitte einzuwenden. Sein Ziel wird bald verwirklicht sein, daher hat er keine weitere Verwendung für das Buch. Außerdem wäre eine Welt ohne Menschen, die für ihn arbeiten, von geringem Wert.
Mit dem Buch kann nur Schwester Amelia etwas anfangen, da sie es war, die in den Tempel der Winde eingetreten ist und es wiedergefunden hat. Er hat angeboten, Euch entweder das Buch oder Schwester Amelia zu überlassen. Wenn Ihr wollt, schickt er sie zu Euch.«
»Damit Jagang erfährt, wo ich mich aufhalte? Wohl kaum, Schwester. Ich nehme das Buch.«
»Auch dem wird seine Exzellenz entsprechen. Wir können es schicken oder jemanden bitten, sich mit Euch zu treffen, um es bei Euch abzuliefern. Er möchte nur nicht, daß Ihr persönlich kommt, um es abzuholen – aus Sicherheitserwägungen, wie ich bereits erläutert habe.«
Nathan rieb sich das Kinn und dachte nach. »Und wenn ich jemanden mit Euch zurückschicke? Einen Stellvertreter, der meine Interessen vertritt? Jemanden, der mir treu ergeben ist, damit ich nicht befürchten muß, daß Jagang in seinen Verstand eintaucht und herausfindet, wo ich bin? Jemanden, der die Gabe nicht besitzt? Er hätte keinen Grund, diese Person zu fürchten.«
»Der die Gabe nicht besitzt?« Schwester Jodelle dachte einen Augenblick nach. »Und wir könnten diese Person auf die Probe stellen, ohne daß sie von Euren Schilden umgeben ist, und uns davon überzeugen, daß sie die Gabe auch ganz sicher nicht besitzt?«
»Selbstverständlich. Die Beziehung zwischen mir und Jagang soll für uns beide einträglich sein. Ich würde sie nicht aufs Spiel setzen, indem ich versuche, ihn hinters Licht zu führen. Ich möchte Vertrauen aufbauen, nicht zerstören.« Nathan hielt räuspernd inne. »Aber Ihr versteht doch sicher … diese Person bedeutet mir sehr viel. Sollte ihr etwas zustoßen, würde ich das als äußersten Affront betrachten.«
Die beiden Schwestern lächelten.
»Die Frau. Natürlich«, meinte Schwester Willamina.
»Nun, Nathan« – Schwester Jodelle wippte schmunzelnd auf den Fersen – »Ihr habt Eure Freiheit in der Tat genossen.«
»Ich meine es ernst«, sagte Nathan in gleichmütigem Ton. »Stößt ihr nur das Geringste zu, gilt die gesamte Übereinkunft als nichtig. Ich schicke sie als Beweis für mein Vertrauen in Jagang und in unsere Abmachung. So mache ich den ersten Schritt in Richtung Vertrauen, damit Kaiser Jagang sich von meiner Aufrichtigkeit überzeugen kann.«
»Wir haben verstanden, Nathan«, sagte Schwester Jodelle, jetzt ernster. »Ihr wird nichts zustoßen.«
»Wenn sie mit dem Buch aufbricht, soll sie bis hinter Jagangs Linien begleitet werden, wo sie in Sicherheit ist, und anschließend muß man sie unbehelligt ziehen lassen. Sollte sie verfolgt werden, werde ich davon Kenntnis erlangen und dies als äußerst ungünstiges Zeichen werten – nämlich als Zeichen der Feindseligkeit mir gegenüber, als einen Anschlag auf mein Leben.«
Schwester Jodelle nickte. »Verstanden und durchaus angemessen. Sie begleitet uns, bekommt das Buch und kehrt wohlbehalten und ohne verfolgt zu werden zu Euch zurück, und alle sind glücklich und zufrieden.«
»Gut«, sagte Nathan entschieden, wie um den Handel zu besiegeln. »Nach dieser Nacht wird Jagang von Richard Rahl befreit sein. Sobald ich das Buch sicher in meinen Händen halte, werde ich, als meinen Teil der Abmachung, die Armee im Süden Jagangs Expeditionsstreitkräften ausliefern.«
Schwester Jodelle verbeugte sich. »Damit ist die Abmachung besiegelt, Lord Rahl. Seine Exzellenz heißt Euch als zweiten Mann im Reich willkommen.«
Nathan wandte sich zur Tür, hinter der Clarissa kniete. Sie sprang auf und eilte ans gegenüberliegende Fenster. Dort zog sie die Vorhänge mit einer Hand zurück, und als sie hörte, wie die Tür aufging, tat sie, als schaue sie hinaus.
»Clarissa«, rief Nathan.
Sie drehte sich um und sah ihn in der Tür stehen, die Klinke in der Hand. Dahinter konnte sie die beiden Schwestern erkennen, die das Geschehen verfolgten.
»Ja, Nathan? Hast du einen Wunsch?«
»Ja, Clarissa. Ich möchte, daß du eine kleine Reise für mich unternimmst – eine geschäftliche Angelegenheit. Du mußt meine beiden Freundinnen nebenan begleiten.«
Clarissa lenkte ihre weiten Röcke um den Schreibtisch herum und folgte ihm ins andere Zimmer.
Nathan stellte sie den beiden Schwestern vor. Den zwei Frauen stand ein durchtriebenes, selbstgefälliges Grinsen im Gesicht. Sie blickten kurz in ihren Ausschnitt, dann sahen sie sich an. Clarissa hatte das Gefühl, als Hure abgestempelt zu werden, wieder einmal.
»Clarissa, du wirst unverzüglich mit diesen beiden Damen aufbrechen. Am Ziel werden sie dir ein Buch aushändigen. Damit wirst du anschließend zurückkommen. Du erinnerst dich noch, wie ich dir gesagt habe, wohin wir morgen aufbrechen wollen?«
»Ja, Nathan.«
»Dort wirst du mich treffen, sobald du das Buch hast. Niemand, absolut niemand, darf wissen, wo du mich treffen wirst. Hast du das verstanden?«
»Ja, Nathan.«
»Ich werde gehen und mich um ein Pferd für sie kümmern«, sagte Schwester Willamina.
»Ein Pferd?« stieß Clarissa hervor. »Ich habe mein Lebtag noch auf keinem Pferd gesessen. Ich kann nicht reiten.«
Nathan bat angesichts der plötzlichen Schwierigkeit in ihrem Plan mit einer Handbewegung um Geduld. »Ich habe eine Kutsche. Die werde ich herbringen lassen, und Clarissa kann sie nehmen. Nun, sind jetzt alle zufrieden?«
Schwester Jodelle zuckte die Achseln. »Pferd, Kutsche, uns ist das gleich, vorausgesetzt, wir können sie vorher auf die Gabe prüfen.«
»Prüft sie, soviel Ihr wollt. Währenddessen werde ich die Kutsche rufen lassen, anschließend kann Clarissa ein paar Sachen zusammenpacken.«
»Einverstanden.«
»Gut. Das wäre dann abgemacht.«
Nathan wandte sich Clarissa zu, den beiden Schwestern den Rücken zukehrend. »Es wird nicht lange dauern, mein Liebes, dann sind wir wieder zusammen.« Er zog das Medaillon zurecht, das an der feinen Goldkette hing, richtete es für sie und sah ihr in die Augen. »Ich werde auf dich warten. Ich habe diesen Freunden von mir erklärt, daß ich mehr als unglücklich sein werde, sollte dir etwas zustoßen.«
Clarissa blickte in seine wunderbaren Augen. »Danke, Nathan. Ich werde das Buch herbringen, wie du es verlangst.«
Nathan gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich danke dir, mein Liebling. Das ist lieb von dir. Dann also gute Reise.«