Kahlan starrte aus dem Fenster hinaus in die hereinbrechende Nacht, in das Schneegestöber. Richard saß hinter ihr an seinem Schreibtisch, den goldenen Umhang über eine Lehne seines Stuhls gelegt. Er arbeitete zusammen mit Berdine an dem Tagebuch und wartete darauf, daß die Offiziere eintrafen. Meist redete Berdine. Gelegentlich antwortete er mit einem Brummen, wenn sie ihm sagte, was ein Wort ihrer Ansicht nach bedeutete und warum. So müde, wie er war, glaubte Kahlan nicht, daß er Berdine eine große Hilfe war.
Sie sah über die Schulter. Drefan und Nadine standen eng beieinander am Kamin. Richard hatte sie gebeten mitzukommen, um etwaige Fragen der Generäle zu beantworten. Nadine beschränkte ihre Aufmerksamkeit auf Drefan und vermied es, Richard oder gar Kahlan anzusehen. Wahrscheinlich weil sie wußte, daß Kahlan das siegessichere Funkeln in ihren Augen bemerken würde.
Nein. Das war kein Sieg für Nadine – sondern für Shota. Dies war nur ein Aufschub. Nur bis … bis wann? Bis sie eine Pestepidemie eindämmen konnten? Bis die meisten Menschen in Aydindril gestorben waren? Bis sie selbst die Pest bekamen und starben, wie es in der Prophezeiung vorhergesagt wurde?
Kahlan ging zu Richard und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie brauchte dringend seine Berührung. Dankbar spürte sie, wie er seine Hand über ihre legte.
»Nur ein Aufschub«, sagte sie leise, ganz nah an sein Ohr gebeugt. »Das ändert nichts, Richard. Versprochen.«
Er tätschelte ihre Hand und sah lächelnd zu ihr hoch. »Ich weiß.«
Cara öffnete die Tür und steckte den Kopf herein. »Sie kommen, Lord Rahl.«
»Danke, Cara. Laßt die Tür offen und bittet sie herein.«
Raina zündete im Kamin einen langen Fidibus an. Sie legte Berdine eine Hand auf die Schulter, um ihr Gleichgewicht zu halten, als sie sich an ihr vorbeibeugte, um eine weitere Lampe am anderen Ende des Tisches anzuzünden. Ihr langer, dunkler Zopf glitt von ihrer Schulter und streifte Berdines Gesicht. Berdine strich sich über die Wange und lächelte Raina kurz an.
Es geschah überaus selten, daß man sah, wie die beiden sich berührten oder ihre Zuneigung vor anderen offen zeigten. Doch Kahlan wußte, daß Raina nach diesem Tag Trost brauchte. So abstumpfend ihre Ausbildung auch gewesen war, so taub sie gegen selbst unerträgliche Schmerzen war, ihre menschlichen Gefühle standen im Begriff, wiedererweckt zu werden. Kahlan sah Rainas dunklen Augen an, wie sehr es ihr zusetzte, Zeuge des Leidens und des Todes von Kindern geworden zu sein.
Sie hörte, wie Cara draußen in der Eingangshalle die Männer bat einzutreten. Der muskulöse, ergrauende General Kerson, wie ehedem eine beeindruckende Erscheinung in seiner polierten Lederuniform, kam durch die Tür marschiert. Unter dem Harnisch, der seine Arme bedeckte, zeichneten sich seine Muskeln ab.
Ihm folgte der Befehlshaber der keltonischen Streitkräfte, der robuste General Baldwin. Er war ein älterer Mann mit einem weißgesprenkelten dunklen Schnauzer, dessen Enden bis zum unteren Rand seines Kinn reichten. Wie stets wirkte er vornehm in seinem grünen, mit Seide gefütterten Wollumhang, der mit zwei Knöpfen an einer Schulter befestigt war. Ein Wappen, das von einer diagonalen schwarzen Linie durchteilt wurde, die einen gelben und einen blauen Schild voneinander trennte, schmückte die Vorderseite seines hellbraunen Wappenrocks.
Die beiden Generäle verneigten sich, bevor die Reihen der sie begleitenden Offiziere vollständig das Zimmer betreten hatten. General Baldwins Schädel schimmerte durch sein dünner werdendes graues Haar hindurch.
»Meine Königin«, sagte General Baldwin. »Lord Rahl.«
Kahlan neigte vor dem Mann den Kopf, während Richard den Stuhl nach hinten schob und sich erhob. Berdine schob rasch ihren Stuhl zur Seite, um ihm nicht im Weg zu sein. Sie sah nicht mal auf. Sie war eine Mord-Sith und außerdem beschäftigt.
»Lord Rahl«, sagte der General mit einem Faustschlag auf sein Herz zum Gruß, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. »Mutter Konfessor.«
Die Offiziere hinter ihnen verbeugten sich. Richard ertrug es geduldig, bis sie damit fertig waren. Kahlan kam es vor, als könne er es gar nicht erwarten, endlich anzufangen.
Er tat dies schlicht. »Meine Herren, zu meinem Bedauern muß ich Euch davon in Kenntnis setzen, daß in Aydindril eine Seuche ausgebrochen ist.«
»Eine Seuche?« fragte General Kerson. »Was für eine Seuche?«
»Eine Krankheit. Eine Seuche, an der die Menschen erkranken und sterben. Diese Art von Seuche.«
»Der Schwarze Tod«, warf Drefan mit düsterer Stimme hinter Richard und Kahlan ein.
Die Männer schienen allesamt tief durchzuatmen. Sie warteten schweigend.
»Da sie erst vor kurzem ausgebrochen ist«, fuhr Richard fort, »werden wir einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. Zur Zeit sind uns weniger als zwei Dutzend Fälle bekannt. Natürlich läßt sich unmöglich sagen, wie viele sich angesteckt haben und noch erkranken werden. Von denen, von deren Erkrankung wir wissen, ist bereits fast die Hälfte tot. Bis zum Morgen wird ihre Zahl noch steigen.«
General Kerson räusperte sich. »Vorsichtsmaßnahmen, Lord Rahl? Welche Vorsichtsmaßnahmen könnte man ergreifen? Habt Ihr ein weiteres Heilmittel für die Männer? Für die Menschen aus der Stadt?«
Richard strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, während sein Blick zum Schreibtisch vor ihm wanderte.
»Nein, General, ich habe kein Heilmittel«, gestand er leise. Trotzdem hatte jeder seine Worte vernommen, so still war es im Zimmer.
»Aber was …?«
Richard richtete sich auf. »Wir müssen folgendes tun: Wir müssen die Männer trennen. Sie aufteilen. Mein Bruder hat die Pest schon einmal gesehen und über die großen Seuchen der Vergangenheit gelesen. Wir glauben, daß sie möglicherweise von Mensch zu Mensch übertragen wird, also wie in einer Familie, in der einer an einer Halsentzündung erkrankt und sich die anderen bei ihm anstecken.«
»Ich habe gehört, die Pest entstehe durch schlechte Luft«, warf einer der Offiziere aus dem Hintergrund ein.
»Wie ich hörte, ist auch das möglich«, antwortete Richard. »Auch eine Reihe von anderen Umständen soll sie auslösen können: schlechtes Wasser, schlechtes Fleisch, überhitztes Blut.«
»Magie?« wollte jemand wissen.
Richard verlagerte sein Gewicht. »Diese Möglichkeit besteht ebenfalls. Manche sagen, es handelt sich um ein Urteil der Seelen über unsere Welt, eine Strafe für das, was sie hier sehen. Ich persönlich glaube das nicht. Ich war heute nachmittag draußen und habe unschuldige Kinder leiden und sterben sehen. Ich kann nicht glauben, daß die Seelen uns etwas Derartiges antun würden, ganz gleich, wie aufgebracht sie sind.«
General Baldwin rieb sich das Kinn. »Wie breitet sie sich Eurer Ansicht nach dann aus, Lord Rahl?«
»Ich bin kein Fachmann, aber ich neige zur selben Erklärung wie mein Bruder. Die Pest verhält sich wie andere Krankheiten und wird durch die Luft oder über engen Kontakt übertragen. Das ergibt für mich am meisten Sinn, wenn diese Krankheit auch weitaus ernster ist. Diese Seuche, erklärte man mir, verläuft fast immer tödlich.
Wenn sie tatsächlich von einem Menschen auf den anderen übertragen wird, dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Seuche von unseren Streitkräften fernzuhalten. Ich möchte, daß die Männer in kleinere Einheiten aufgeteilt werden.«
General Kerson breitete verzweifelt die Hände aus. »Wieso könnt Ihr nicht einfach Magie benutzen, um die Stadt von dieser Seuche zu befreien?«
Kahlan legte Richard die Hand auf den Rücken, um ihn daran zu erinnern, nicht die Beherrschung zu verlieren. Er schien jedoch keinen Zorn zu hegen.
»Tut mir leid, aber im Augenblick wüßte ich kein Heilmittel gegen diese Seuche. Ich wüßte nicht, daß je ein Zauberer eine Seuche durch den Einsatz von Magie geheilt hätte.
Ihr müßt verstehen, General, wenn jemand Magie beherrscht, heißt das nicht, daß er dem Hüter höchstpersönlich Einhalt gebieten kann, wenn die Zeit seiner Berührung gekommen ist. Wären Zauberer dazu imstande, ich versichere Euch, dann wären die Friedhöfe mangels Kunden längst verschwunden. Zauberern fehlt jene Macht, über die der Schöpfer verfügt.
Unsere Welt ist eine Welt der Ausgewogenheit. So wie wir alle, besonders die Soldaten, dem Hüter dabei helfen können, den Tod herbeizuführen, so können wir auch am Werk unseres Schöpfers teilhaben und Leben bewahren. Vielleicht wissen wir besser als die meisten, daß es die Pflicht der Soldaten ist, den Frieden und das Leben zu schützen. Im Gegenzug müssen wir manchmal Leben nehmen, um einen Feind aufzuhalten, der sonst einen noch größeren Schaden anrichten würde. Allein das jedoch bleibt von uns in der Erinnerung, nicht das Leben, das wir zu bewahren suchten.
Auch ein Zauberer muß in einem ausgewogenen Verhältnis, in Harmonie mit der Welt stehen, in der er lebt. Schöpfer und Hüter, sie beide haben in unserer Welt eine feste Rolle, die sie spielen müssen. Es steht nicht in der Macht eines einfachen Zauberers, ihnen vorzuschreiben, was sein soll. Er kann sich dafür einsetzen, daß die Geschehnisse sich zu einem Ergebnis verbinden – zu einer Hochzeit, zum Beispiel, aber er kann dem Schöpfer nicht vorschreiben, als Folge dieser Ehe Leben zu erzeugen.
Ein Zauberer darf nie vergessen, daß er innerhalb unserer Welt arbeitet und sein Bestes geben muß, um den Menschen zu helfen – so wie ein Bauer einem Nachbarn hilft, der seine Ernte einbringen oder ein Feuer löschen muß.
Ein Zauberer kann Dinge tun, die jemand ohne Magie nicht bewirken kann, etwa so, wie Ihr kräftig genug seid, eine Streitaxt zu schwingen, ein alter Mann dagegen nicht. Ihr habt zwar starke Muskeln, dafür besitzt der Alte Weisheit, die er aus seiner Erfahrung gewonnen hat. Gut möglich, daß er Euch im Kampf durch seine Weisheit und nicht mit seiner Muskelkraft besiegt.
Ein Zauberer kann so groß sein, wie er will, er wäre niemals fähig, neues Leben in diese Welt zu setzen. Eine junge Frau, die weder Magie noch Erfahrung oder Weisheit hat, kann das, er dagegen nicht. Vielleicht hat sie am Ende mehr mit Magie zu tun als er.
Was ich Euch Männern zu erklären versuche, ist folgendes: Nur weil ich mit der Gabe geboren wurde, kann ich diese Seuche mit der Gabe nicht zum Stillstand bringen. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, daß Magie all unsere Probleme löst. Für einen Zauberer ist genauso wichtig, die Grenzen seiner Kräfte zu kennen, wie für einen Armeeoffizier die seiner Männer.
Viele von Euch haben gesehen, was mein Schwert gegen den Feind ausrichten kann. Doch so furchterregend es als Waffe auch ist, diesem unsichtbaren Feind kann es nichts anhaben. Andere Magie könnte sich als ebenso machtlos erweisen.«
»›Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut‹«, zitierte General Kerson leise aus der Preisung.
Die Männer bekundeten ihre Zustimmung und kommentierten Richards logische Erklärungen mit einem Nicken. Kahlan war stolz auf ihn, weil er wenigstens sie überzeugt hatte. Sie fragte sich, ob er sich selbst ebenfalls überzeugt hatte.
»Das war nicht so sehr Weisheit«, brummte Richard, »sondern gesunder Menschenverstand.«
»Bitte seid versichert, Ihr alle«, fuhr er fort, »dies bedeutet nicht, daß ich nicht die Absicht hätte, einen Weg zu finden, um diese Seuche zu beenden. Ich werde jedes Mittel prüfen, das sie vielleicht aufhalten könnte.« Er legte Berdine die Hand auf die Schulter. Sie sah hoch. »Berdine durchsucht mit mir die Bücher alter Zauberer, um herauszufinden, ob sie uns irgendwelche klugen Erkenntnisse hinterlassen haben.
Wenn es einen Weg gibt, wie Magie der Pest Einhalt gebieten kann, dann werde ich ihn entdecken. Im Augenblick jedoch müssen wir jene Mittel anwenden, die uns zur Verfügung stehen, um den Menschen zu helfen. Wir müssen die Männer aufteilen.«
»Aufteilen – und was dann?« fragte General Kerson.
»Aufteilen und aus Aydindril abziehen.«
General Kerson richtete sich auf. Die Glieder seines Kettenhemdes reflektierten das Licht der Lampe, so daß er wie das Traumbild einer Seele zu funkeln schien. »Und Aydindril schutzlos zurücklassen?«
»Nein«, beharrte Richard. »Nicht schutzlos. Mein Vorschlag geht dahin, die Truppen aufzuteilen, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß die Pest unter ihnen wütet, und sie rings um Aydindril in Stellung zu bringen. Wir können an sämtlichen Pässen, an allen Straßen und Zugangstälern, die nach Aydindril hineinführen, Abteilungen unserer Streitkräfte postieren. So kann keine Streitmacht gegen uns vorrücken.«
»Und wenn es doch eine tut?« wollte General Baldwin wissen. »Dann könnten sich diese kleineren, isolierten Einheiten als unzureichend erweisen, einen Angriff abzuwehren.«
»Wir werden Posten und Späher einsetzen. Wir werden ihre Zahl vergrößern müssen, damit es nicht zu unliebsamen Überraschungen kommt. Ich glaube nicht, daß Streitkräfte der Imperialen Ordnung schon so weit im Norden stehen, aber sollte es zu einem Angriff kommen, werden wir gewarnt sein und können unsere Truppen rasch zusammenziehen. Deshalb dürfen sie nicht zu weit auseinanderstehen, damit sie die Stadt, falls nötig, verteidigen können. Trotzdem muß ausreichender Abstand gewahrt bleiben, damit die Seuche nicht in der Armee um sich greift.
Jeder Vorschlag von Euch ist willkommen. Deshalb habe ich Euch hergebeten. Wenn Ihr zu einem Punkt Vorschläge habt, dann fühlt Euch frei und ergreift das Wort.«
Drefan trat vor. »Wir müssen in größter Eile handeln. Je eher die Männer fort sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß keiner mit der Krankheit in Berührung kommt.«
Die Offiziere nickten und dachten angestrengt nach.
»Die Offiziere, die uns heute begleitet haben, sollten hierbleiben«, sagte Drefan. »Möglicherweise sind sie mit jemandem in Berührung gekommen, den die Pest befallen hat. Stellt eine Liste aller Personen zusammen, mit denen sie eng zusammenarbeiten, und laßt sie ebenfalls hier in Aydindril isolieren.«
»Wir werden uns sofort darum kümmern«, sagte General Kerson. »Noch heute abend.«
Richard nickte. »Jede Abteilung unserer Streitkräfte muß natürlich mit den anderen in Verbindung bleiben, allerdings dürfen die Nachrichten nur mündlich übermittelt werden. Keine Briefe! Das Papier könnte die Seuche übertragen. Die Männer, die Befehle und Nachrichten weitergeben, sollten beim Sprechen auf Distanz bleiben. Mindestens wie wir hier, in diesem Zimmer, mit mir auf der einen und Euch auf der anderen Seite.«
»Ist das nicht eine äußerst ungewöhnliche Vorsichtsmaßnahme?« fragte einer der Offiziere.
»Ich habe gehört«, erklärte Drefan, »daß Menschen, die die Pest haben, aber noch nicht an ihr erkrankt sind und daher nichts von ihrem Elend wissen, am charakteristischen Gestank der Pest in ihrem Atem erkannt werden können.« Die Männer nickten interessiert. »Aber diesen tödlichen Geruch zu riechen bedeutet, daß man sich mit der Pest ansteckt. Ihr wärt ebenfalls befallen und müßtet sterben.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer.
»Deswegen wollen wir, daß die Boten einander nicht zu nahe kommen«, sagte Richard. »Sollte einer bereits die Pest haben, dann wollen wir nicht, daß er sie auf eine andere Abteilung unserer Truppen überträgt. Es ist sinnlos, all diese Anstrengungen zu unternehmen, wenn wir dabei nicht in jedem einzelnen Punkt gewissenhaft vorgehen.
Es handelt sich um eine tödliche Krankheit. Wenn wir rasch und so umsichtig wie möglich handeln, gelingt es uns vielleicht, eine große Zahl von Menschen vor dem Tod zu bewahren. Wenn wir diese Vorsichtsmaßnahmen nicht ernst nehmen, kann es sein, daß innerhalb weniger Wochen alle Menschen in der Stadt und jeder einzelne unserer Männer tot sind.«
Besorgte Mienen zogen auf die Gesichter.
»Wir geben Euch den denkbar schlechtesten Ausblick«, sagte Drefan und lenkte damit ihre aufmerksamen Blicke wieder auf sich. »Wir wollen nicht so tun, als sei die Gefahr kleiner, als sie tatsächlich ist. Einige Umstände lassen jedoch hoffen. Das Wichtigste ist das Wetter. Die Seuchen, die ich miterlebt und über die ich gelesen habe, breiteten sich am schlimmsten bei sommerlicher Hitze aus.
Ich glaube nicht, daß die Epidemie bei der kalten Witterung in dieser Jahreszeit um sich greifen kann. Zumindest das verspricht Hoffnung.«
Die Männer seufzten ein wenig erleichtert. Nicht so Kahlan.
»Und noch etwas«, sagte Richard, einem nach dem anderen in die Augen blickend. »Wir sind D'Haraner. Wir sind Ehrenmänner. Unsere Soldaten werden dementsprechend auftreten. Ich will nicht, daß einer von uns die Bedrohung beschönigt und den Menschen erzählt, es bestehe keine Gefahr. Aber ich will auch nicht, daß jemand die Menschen absichtlich in Panik versetzt. Alle werden auch so schon verängstigt genug sein.
Außerdem seid Ihr Soldaten. Dies ist nicht weniger eine Schlacht als die Abwehr des Angriffs irgendeines anderen Feindes auf unser Volk. Dies ist Teil Eurer Aufgabe.
Einige der Männer werden in der Stadt zurückbleiben und helfen müssen. Möglicherweise brauchen wir bewaffnete Männer, um einen Aufruhr zu unterdrücken. Sollte es wie während des roten Mondes zu Tumulten kommen, möchte ich, daß diese augenblicklich beigelegt werden. Geht dabei vor, wie es die Lage erfordert, doch nicht härter. Vergeßt nicht, die Menschen in dieser Stadt sind Teil unseres Volkes – wir sind ihre Beschützer, nicht ihre Bewacher.
Weiterhin werden wir Männer brauchen, die beim Ausheben von Gräbern helfen. Ich glaube nicht, daß wir all die Toten verbrennen können, wenn die Seuche erst unter der Bevölkerung wütet.«
»Wie viele Opfer können Eurer Meinung nach den Tod finden, Lord Rahl?« wollte einer der Offiziere wissen.
»Tausende«, antwortete Drefan. »Zehntausende.« Er musterte sie alle eindringlich aus seinen blauen Augen. »Wenn es richtig schlimm wird, auch mehr. Ich habe gelesen, daß eine Pestepidemie innerhalb von drei Monaten fast jeden dritten Bewohner einer Stadt von nahezu einer halben Million Menschen das Leben kostete.«
Ein Offizier hinten pfiff leise.
»Noch etwas«, sagte Richard. »Einige Menschen werden in Panik ausbrechen. Sie werden aus Aydindril fliehen wollen, um sich vor der Gefahr in Sicherheit zu bringen. Die meisten dagegen werden bleiben wollen, nicht nur, weil sie kein anderes Zuhause kennen, sondern weil ihr ganzes Leben hier verwurzelt ist.
Wir dürfen nicht zulassen, daß Menschen aus Aydindril fliehen und die Seuche in andere Orte in den Midlands oder gar nach D'Hara verschleppen. Sie muß auf diese Stadt beschränkt werden. Wenn die Menschen in die umliegenden Berge fliehen oder sich von ihren Nachbarn fernhalten wollen, die sich angesteckt haben, dann müssen wir Verständnis für ihre Ängste aufbringen.
Sie sollen die Erlaubnis erhalten, hinaus aufs Land zu fliehen, wenn sie wollen, aber sie müssen in der Gegend bleiben. Unsere Soldaten sollen die Stadt und das umliegende Land mit einem Ring umgeben und sämtliche Wege von und nach Aydindril kontrollieren. Alle müssen innerhalb dieses Ringes bleiben.
Jeder, der flieht, könnte sich, ohne es zu wissen, mit der Seuche angesteckt haben und dadurch die Menschen an anderen Orten in Lebensgefahr bringen. Um dies zu verhindern, soll als letzter Ausweg auch Gewalt angewendet werden. Bitte bedenkt, daß diese Menschen nicht in böser Absicht handeln, sondern lediglich Angst um ihr Leben und das ihrer Familien haben.
Wer aus der Stadt flieht, um die Seuche abzuwarten, wird bald keine Lebensmittel mehr haben und dem Hunger erliegen. Erinnert die Menschen daran, Vorräte mitzunehmen, da sie auf dem Land wahrscheinlich nichts zu essen finden werden. Sie werden nicht weniger tot sein, wenn sie Hungers sterben und nicht an der Pest. Erinnert sie daran. Plünderungen von Bauernhöfen werden nicht geduldet. Einen gesetzlosen Zustand werden wir nicht zulassen.
Ich denke, das ist ungefähr alles, was ich zu sagen habe. Noch Fragen?«
»Werdet Ihr heute abend aufbrechen, meine Königin, oder am Morgen?« fragte General Baldwin. »Und wo werdet Ihr unterkommen?«
»Richard und ich werden Aydindril nicht verlassen«, antwortete Kahlan.
»Was? Aber Ihr müßt fort«, drängte General Baldwin beharrlich. »Bitte, Ihr müßt beide fort von hier. Wir brauchen Euch als unsere Führer.«
»Wir haben erst erfahren, womit wir es zu tun hatten, als es schon zu spät war«, erwiderte Kahlan. »Möglicherweise sind wir bereits mit der Seuche in Berührung gekommen.«
»Wir halten das nicht für wahrscheinlich«, versuchte Richard ihre Ängste zu beschwichtigen. »Ich muß jedoch hierbleiben und herausfinden, ob es eine Magie gibt, die diese Seuche unterbinden kann. Ich werde zur Burg der Zauberer hinaufsteigen. Oben in den Bergen nützen wir keinem, und mir entgeht womöglich eine Gelegenheit, eine Lösung zu finden. Wir werden hierbleiben.
Drefan ist Hohepriester der Heiler der Raug'Moss aus D'Hara. Die Mutter Konfessor und ich könnten sich nicht in besseren Händen befinden. Er und Nadine werden ebenfalls hierbleiben und erforschen, wie man den Menschen ihre Lage erleichtern kann.«
Während die Männer weitere Fragen stellten und das Problem mit den Vorräten besprachen, trat Kahlan ans Fenster und betrachtete den Schnee und den Wind, die mit dem Frühlingswetter aufkamen. Richard redete zu seinen Männern wie ein Heerführer am Vorabend einer Schlacht, um sie für den bevorstehenden Kampf zu wappnen. Wie in jeder Schlacht würde der Tod reiche Beute davontragen.
Drefans Überzeugung zum Trotz, daß die Seuche in diesem kalten Wetter nicht in voller Stärke wüten werde, war Kahlan gewiß, dies treffe in diesem Fall nicht zu.
Dies war keine gewöhnliche Seuche. Diese Seuche war durch Magie ausgelöst worden, von einem Mann, der sie alle tot sehen wollte.
Ja'La dh Jin hatte Jagang es unten in der Grube genannt – Spiel des Lebens. Jagang war außer sich darüber, daß Richard den Ball gegen einen leichteren ausgewechselt hatte, damit alle Kinder Freude an dem Spiel haben konnten und nicht bloß die stärksten, die brutalsten. Bei diesen Kindern hatte Jagang mit dem Morden begonnen. Das war kein Zufall, das war eine Botschaft.
Das Spiel des Lebens.
Dies würde Jagangs Welt werden, wenn er gewann, eine Welt, in der die Barbarei herrschte.