31

Eine Patrouille d'Haranischer Soldaten entdeckte sie am Rande des ausgedehnten Palastgeländes und nahm zackig Haltung an. Gleich hinter den Soldaten, in den Straßen der Stadt, sah Kahlan, wie Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, überall innehielten, um sich vor der Mutter Konfessor und Lord Rahl zu verbeugen.

Obwohl das geschäftliche Treiben oberflächlich betrachtet wirkte wie an jedem anderen Tag, glaubte Kahlan, feine Unterschiede ausmachen zu können. Männer, die Fässer auf einen Karren luden, musterten argwöhnisch Passanten, die ganz in der Nähe vorübergingen, Ladenbesitzer taxierten ihre Kunden sorgfältig, Menschen, die durch die Straßen gingen, machten einen Bogen um jene, die stehengeblieben waren, um sich zu unterhalten. Die Gruppen der Menschen, die ein Schwätzchen hielten, schienen zahlreicher zu sein. Auffallend war das Fehlen von Gelächter.

Nach einem feierlichen Salut mit der Faust auf das Leder und das Kettenhemd über ihren Herzen begann die nicht weit entfernte Patrouille plötzlich, freundlich zu lächeln.

»Hurra, Lord Rahl!« rief ihnen einer der Soldaten zu. »Ihr habt uns geheilt! Unsere Gesundheit wiederhergestellt! Durch Euch geht es uns wieder gut. Lang lebe der große Zauberer, Lord Rahl.«

Richard erstarrte mitten im Schritt, sah nicht die Soldaten an, sondern hielt den Blick vor sich zu Boden gerichtet. Sein Umhang, in den eine Windbö gefahren war, umwehte ihn und hüllte ihn in goldenes Gefunkel.

Die anderen fielen ein. »Lang lebe Lord Rahl!«

Die Hände zu Fäusten geballt, setzte Richard sich, ohne in ihre Richtung zu blicken, wieder in Bewegung. Kahlan, den Arm um ihn geschlungen, ließ ihre Hand nach unten gleiten und drängte ihn, die Faust zu öffnen, damit sie ihre Finger in seine haken konnte. Sie drückte seine Hand, ein stummes Zeichen dafür, daß sie ihn verstand und bereit war, ihn zu unterstützen.

Hinter Drefan und Nadine konnte Kahlan aus den Augenwinkeln Cara sehen, die der Patrouille wütend Zeichen machte, damit sie still waren und weiter ihres Weges zogen.

In der Ferne vor ihnen, auf einer leichten Anhöhe, erhob sich der weite Palast der Konfessoren in all seiner Pracht der steinernen Säulen, der endlosen Mauern und eleganten Türme, die sich in ihrem unverfälschten Weiß vor dem dunkler werdenden Himmel abzeichneten. Nicht nur, daß die Sonne unterging, auch düstere Wolkenfetzen trieben vorbei, Vorboten eines Unwetters. Ein paar verirrte Schneeflocken wirbelten mit dem Wind vorüber – Kundschafter der Massen, die noch folgen würden. Es war noch längst nicht Frühling.

Kahlan hielt Richards Hand fest, als klammere sie sich ans Leben selbst. Vor ihrem inneren Auge sah sie Krankheit und Tod. Sie hatten sich um nahezu ein Dutzend kranker Kinder gekümmert, die von der Pest angesteckt worden waren. Richards bleiches Gesicht sah kaum besser aus als das der sechs Toten, die sie besucht hatte.

Innerlich tat ihr alles weh. Weil sie ihre Tränen, ihre Klagen, ihre Schreie unterdrückt hatte, verkrampften sich ihre Bauchmuskeln. Sie hatte sich eingeredet, sie dürfe nicht die Beherrschung verlieren und in Tränen ausbrechen, nicht vor den Müttern, die entsetzliche Angst hatten, daß ihre Kinder kränker sein könnten, als sie geglaubt hatten, oder die wußten, wie krank sie waren, es aber nicht wahrhaben wollten.

Viele dieser Mütter waren kaum älter als Kahlan. Es waren einfach Frauen, die vor einem niederschmetternden Elend standen und nur zu den Guten Seelen beten konnten, damit diese ihre Kinder verschonten. Kahlan konnte nicht behaupten, daß sie an ihrer Stelle nicht in denselben Zustand verfallen wäre.

In einigen Familien wie den Andersons gab es ältere Familienmitglieder, auf die die Eltern sich mit Rat und Tat verlassen konnten, aber manche Mütter waren jung und auf sich allein gestellt, hatten Männer, die selbst fast noch Kinder waren. Sie hatten niemanden, an den sie sich wenden konnten.

Kahlan legte ihre freie Hand auf einen schmerzhaften Krampf im Unterleib. Sie wußte, wie verzweifelt Richard war. Er hatte auf seinen Schultern mehr als genug zu tragen. Sie mußte stark sein für ihn.

Rechts und links standen majestätische Ahornbäume, deren nacktes, dichtes Astgeflecht sich über ihren Köpfen verflocht. Nicht mehr lange, und sie würden ausschlagen. Sie traten unter dem Tunnel aus Zweigen hervor und traten auf eine gewundene Promenade, die zum Palast hinaufführte.

Hinter ihnen führten Drefan und Nadine im Flüsterton eine Diskussion über Kräuter und Heilmittel, die man ausprobieren müsse. Nadine schlug etwas vor, und Drefan äußerte behutsam seine Meinung, ob dies sinnlos war oder vielleicht einen Versuch wert. Er hielt ihr einen Vortrag über den Verlauf der Krankheit und die Gründe für den Zusammenbruch der körperlichen Abwehrkräfte.

Kahlan gewann den vagen Eindruck, daß er die, die krank wurden, fast mit Verachtung betrachtete, so als sei – weil sie ihrer Aura und den Energieflüssen, von denen er ständig redete, so wenig Beachtung schenkten – nur zu erwarten, daß sie einer Pest erlagen, welche Menschen wie ihm, die sich besser um ihren Körper kümmerten, nichts anhaben konnte. Sie vermutete, daß jemand mit seinem Wissen über das Heilen von Menschen an denen verzweifeln mußte, die ihre Krankheit selbst verschuldeten, wie die Prostituierten und die Männer, die diese aufsuchten. Wenigstens war sie erleichtert, daß er nicht zu ihnen gehörte.

Sie war nicht sicher, ob Drefan mit allem, was er sagte, recht hatte, oder ob einfach Arroganz aus seinen Worten sprach. Sie war selbst schon an Menschen verzweifelt, die sich über Gefahren für ihre Gesundheit lustig machten. In ihrer Jugend kannte sie einen Diplomaten, der jedesmal krank wurde, wenn er schwere Soßen mit bestimmten Gewürzen zu sich nahm. Stets bekam er davon Atembeschwerden. Doch liebte er diese Soßen. Dann, eines Tages, bei einem offiziellen Abendessen, brach er nach dem Genuß einer solchen Soße tot am Tisch zusammen.

Kahlan hatte nie verstehen können, wieso der Mann diese Krankheit selbst vorangetrieben hatte, und es fiel ihr schwer, Mitleid für ihn zu empfinden. Tatsächlich hatte sie ihn stets mit Verachtung betrachtet, wenn er zu einem offiziellen Abendessen gekommen war. Sie fragte sich, ob Drefan über gewisse Menschen ebenso dachte, nur daß er sehr viel genauer wußte, was die Menschen erkranken ließ. Sie hatte gesehen, wie Drefan Caras Aura wiederhergestellt hatte, und sie wußte auch, daß Krankheiten manchmal über den Geist beeinflußt werden konnten.

Sie hatte mehrfach in einem Ort namens Langden haltgemacht, wo ein sehr abergläubischer und rückständiger Menschenschlag lebte. Der Heiler des Dorfes hatte entschieden, daß die Kopfschmerzen, die den Menschen von Langden so sehr zu schaffen machten, nur von bösen Geistern hervorgerufen worden sein konnten, die von ihnen Besitz ergriffen hatten. Er ordnete an, weißglühende Eisen an die Fußsohlen derer zu halten, die Kopfschmerzen hatten, um die bösen Geister auszutreiben. Das Mittel hatte eine erstaunliche Wirkung. Niemand in Langden wurde jemals wieder von Geistern besessen. Die Kopfschmerzen verschwanden.

Wenn nur die Pest ebenso einfach verschwände.

Wenn nur Nadine so einfach verschwände. Wegschicken konnten sie die Frau nicht, jetzt, wo die Menschen unter solcher Not litten.

Ob es ihr gefiel oder nicht, Nadine würde hierbleiben, bis alles vorüber war. Shota schien ihre gierigen Hände fester um Richard zu schließen.

Kahlan wußte nicht, was Richard zu Nadine gesagt hatte, doch konnte sie es sich denken. Nadine legte plötzlich eine übertriebene Höflichkeit an den Tag. Ihre Entschuldigung war dennoch nicht aufrichtig gemeint, soviel war Kahlan klar. Wahrscheinlich hatte Richard ihr gesagt, er werde sie bei lebendigem Leibe häuten, wenn sie nicht um Verzeihung bat. Aus Caras Blick, der häufig zu Nadine hinüberwanderte, schloß Kahlan, daß diese Frau Schlimmeres zu befürchten hatte als Richard.

Kahlan und Richard führten die anderen zwischen den hochaufragenden weißen Säulen zu beiden Seiten des Eingangs und durch die reich mit geometrischen Mustern verzierten Türen in den Palast. Die höhlenartige große Eingangshalle wurde durch Fenster aus blaßblauem Glas zwischen den mit goldenen Kapitellen gekrönten weißen Säulen sowie von Dutzenden von Lampen an den Wänden erhellt.

Eine in Leder gekleidete Gestalt kam ihnen von weitem über die schwarz-weißen Marmorquadrate entgegengeschlendert. Jemand anderes näherte sich von rechts, von den Gästezimmern her. Richard verlangsamte den Schritt, blieb stehen und drehte sich um.

»Ulic, würdest du bitte General Kerson suchen gehen? Möglicherweise hält er sich im d'Haranischen Hauptquartier auf. Weiß jemand, wo sich General Baldwin befindet?«

»Er befindet sich wahrscheinlich im Palast Keltons, auf der Königsstraße«, antwortete Kahlan. »Dort wohnt er, seit er uns im Kampf gegen den Lebensborn zu Hilfe kam.«

Richard nickte erschöpft. Kahlan glaubte nicht, daß sie ihn schon einmal in schlimmerem Zustand gesehen hatte. Seine leblosen Augen blickten starr aus einem aschfahlen Gesicht hervor. Wankend suchte er nach Egan, der keine zehn Fuß entfernt stand.

»Egan, da bist du. Geh bitte General Baldwin holen. Wo er steckt, weiß ich nicht, aber du kannst dich ja durchfragen.«

Egan blickte unschlüssig zu Kahlan hinüber. »Sollen wir sonst noch jemand herbringen, Lord Rahl?«

»Sonst noch jemand? Ja. Sag ihnen, sie sollen ihre Offiziere mitnehmen. Ich bin in meinem Arbeitszimmer. Dort bring sie hin.«

Ulic und Egan schlugen sich mit der Faust aufs Herz, dann wandten sie sich ihren Aufgaben zu. Im Hinausgehen gaben sie den beiden Mord-Sith per Hand ein Zeichen. Cara und Raina stellten sich daraufhin näher an Richard heran und schirmten ihn ab, als Tristan Bashkar, auf der Hut wie immer, vor ihm stehenblieb.

Berdine näherte sich im Schlendergang von der anderen Seite, ihre gespannte Aufmerksamkeit ganz auf das aufgeschlagene Tagebuch in ihren Händen konzentriert. Sie schien völlig versunken in das zu sein, was sie gerade las, und wurde ihre gesamte Umgebung nicht gewahr. Kahlan hielt sie mit der Hand zurück, bevor sie in Richard hineinlief. Sie schwankte ein wenig wie ein Ruderboot, das an Land getrieben und auf Grund gelaufen war.

Tristan verneigte sich. »Mutter Konfessor, Lord Rahl.«

»Wer seid Ihr?« fragte Richard.

»Tristan Bashkar aus Jara, Lord Rahl. Ich fürchte, wir wurden einander noch nicht offiziell vorgestellt.«

Richards graue Augen erwachten funkelnd zum Leben. »Nun, habt Ihr Euch entschieden zu kapitulieren, Gesandter Bashkar?«

Tristan hatte sich gerade in Erwartung einer offiziellen Vorstellung erneut verneigen wollen. Er hatte nicht erwartet, daß Richard dem mit seiner Frage zuvorkommen würde. Er räusperte sich und richtete sich auf. Sein Gesicht verstrahlte ein unbekümmertes Lächeln.

»Ich weiß Euer Entgegenkommen zu schätzen. Die Mutter Konfessor hatte die Güte, mir zwei Wochen Zeit zu lassen, um die Zeichen der Sterne zu beobachten.«

Richards Stimme wurde kräftiger. »Ihr riskiert, daß Euer Volk Schwerter anstelle von Sternen zu sehen bekommt.«

Tristan knöpfte seine Jacke auf. Aus den Augenwinkeln sah Kahlan, wie Cara ihren Strafer mit einer ruckartigen Bewegung in die Hand nahm. Tristan bemerkte es nicht. Sein Blick blieb auf Richard gerichtet, während er seine Jacke nach hinten schob und sie durch seine beiläufig in die Hüfte gestemmte Faust zurückhielt. Dadurch wurde das Messer an seinem Gürtel sichtbar. Raina ließ ihren Strafer in die Hand schnellen.

»Lord Rahl, wie ich der Mutter Konfessor erklärte, sieht unser Volk dem Zusammenschluß mit dem D'Haranischen Reich mit großer Freude entgegen.«

»Mit dem D'Haranischen Reich?«

»Tristan«, warf Kahlan ein, »wir sind im Augenblick ziemlich beschäftigt. Wir haben das bereits besprochen, und man hat Euch zwei Wochen Zeit gegeben. Würdet Ihr uns jetzt bitte entschuldigen?«

Tristan strich eine Locke seines Haars zurück und musterte sie aus seinen hellbraunen Augen. »Ich werde also gleich zum Thema kommen. Ich hörte Gerüchte, in Aydindril sei eine Epidemie ausgebrochen.«

Richards Raubvogelblick kehrte plötzlich mit aller Schärfe zurück. »Das ist nicht nur ein Gerücht. Es stimmt.«

»Wie groß ist die Gefahr?«

Richards Hand fand das Heft seines Schwertes. »Solltet Ihr Euch der Imperialen Ordnung anschließen, Gesandter, werdet Ihr Euch wünschen, es sei die Pest und nicht ich, die über Euch kommen wird.«

Selten hatte Kahlan gesehen, daß zwei Menschen so schnell eine vollkommene Abneigung gegeneinander entwickelten. Sie wußte, daß Richard erschöpft und, nachdem er gerade so viele ernstlich erkrankte Kinder gesehen hatte, nicht bei Laune war, sich die Einwände eines Adligen vom Schlage Tristans anzuhören, der sich nach der Gefahr für seine eigene Haut erkundigte. Tristan hatte zwar nicht Kahlans Enthauptung angeordnet, aber dabei war doch ein Ratsmitglied aus seinem Land beteiligt gewesen. Richard hatte dieses jaranische Ratsmitglied getötet.

Kahlan wußte nicht, wieso Tristan eine so plötzliche Abneigung gegen Richard entwickelte, sah man einmal von der Tatsache ab, daß er die Kapitulation Jaras verlangte. Vermutlich war dies Grund genug: an seiner Stelle empfände sie vielleicht ebenso.

Kahlan erwartete jeden Augenblick, daß die beiden Männer die Schwerter zögen. Drefan stellte sich zwischen sie.

»Ich bin Drefan Rahl, der Hohepriester der Raug'Moss, einer Gemeinschaft von Heilern. Ich habe einige Erfahrung mit der Pest. Ich schlage vor, daß Ihr auf Eurem Zimmer bleibt und Kontakt mit Fremden meidet. Vor allem mit Prostituierten. Darüber hinaus solltet Ihr für ausreichend Schlaf und gute, gesunde Ernährung sorgen.

Das wird Euch helfen, Euren Körper gegen die Krankheit zu kräftigen. Darüber hinaus werde ich mit dem Personal hier im Palast besprechen, was man zur Vorbeugung tun kann. Ihr seid willkommen, Euch meinen Rat anzuhören, wie jeder andere auch.«

Tristan hatte Drefan gewissenhaft zugehört. Er verbeugte sich und dankte ihm für seinen Rat. »Nun, ich weiß die Wahrheit zu schätzen, Lord Rahl. Ein geringerer Mann hätte vielleicht versucht, mich über ein so ernstes Problem im unklaren zu lassen. Nun verstehe ich, warum Ihr so beschäftigt seid. Ich werde mich jetzt verabschieden, damit Ihr Euch um Euer Volk kümmern könnt.«

Berdine hatte sich unbemerkt neben Richard geschlichen, der dem Gesandten wütend hinterher schaute. So eifrig, wie sie im Tagebuch gelesen, und vor sich hinmurmelnd die Aussprache der d'Haranischen Worte geprobt hatte, bezweifelte Kahlan, ob sie von dem Gesagten etwas mitbekommen hatte.

»Ich muß Euch sprechen, Lord Rahl«, murmelte Berdine.

Richard legte ihr die Hand auf die Schulter, zum Zeichen, daß sie warten solle. »Drefan, Nadine, hat jemand von Euch etwas gegen Kopfschmerzen? Gegen richtig starke Kopfschmerzen?«

»Ich habe ein paar Kräuter, die Euch helfen werden, Richard«, schlug Nadine vor.

»Da weiß ich etwas Besseres.« Drefan beugte sich näher zu Richard. »Man nennt es Schlaf. Vielleicht erinnerst du dich, dieses Mittel früher einmal benutzt zu haben?«

»Ich weiß, ich bin seit einiger Zeit wach, Drefan, aber –«

»Seit vielen Tagen und Nächten.« Drefan hob warnend einen Finger. »Wenn du versuchst, die Folgen fehlenden Schlafs mit irgendwelchen Mittelchen zu überdecken, tust du dir selbst keinen Gefallen. Die Kopfschmerzen werden wiederkommen, schlimmer als zuvor. Du wirst deine Kräfte aufzehren. Damit tust du weder dir einen Gefallen noch sonst jemandem.«

»Drefan hat recht«, stimmte Kahlan zu.

Ohne aufzuschauen, blätterte Berdine die Seite um, die sie gerade im Tagebuch las.

»Das ist durchaus wahr. Ich fühle mich wesentlich besser, seit ich etwas geschlafen habe.«

Endlich schien Berdine zu bemerken, daß noch andere anwesend waren. »Jetzt, wo ich wach bin, kann ich besser nachdenken.«

Richard wehrte sich mit erhobener Hand gegen ihre Hartnäckigkeit. »Ich weiß. Bald, das verspreche ich. Was wolltet Ihr mir mitteilen, Berdine?«

»Was?« Sie las schon wieder. »Oh. Ich habe herausgefunden, wo der Tempel der Winde steht.«

Richards Braue schoß in die Höhe. »Was?«

»Nachdem ich etwas geschlafen hatte, konnte ich klarer denken. Mir wurde bewußt, daß wir unsere Suche dadurch eingeschränkt hatten, indem wir nur nach einer begrenzten Anzahl von Schlüsselwörtern suchten. Also malte ich mir aus, was die alten Zauberer in derselben Lage getan hätten. Ich kam zu dem Schluß, daß –«

»Wo ist er?« fuhr Richard sie an.

Endlich hob Berdine den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Der Tempel der Winde steht auf dem Gipfel des Berges der Vier Winde.«

Jetzt erst bemerkte Berdine Raina. Die beiden Frauen begrüßten sich mit einem Lächeln. Ihre Blicke drückten warme Zuneigung füreinander aus.

Kahlan zuckte die Achseln, als Richard sie fragend ansah. »Das ist keine große Hilfe, Berdine, es sei denn, Ihr könnt uns sagen, wo dieser Berg liegt.«

Berdine runzelte kurz die Stirn, winkte dann entschuldigend ab. »Oh. Verzeihung. So lautet die Übersetzung« – sie runzelte erneut die Stirn – »glaube ich.«

Richard fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Wie nennt Kolo ihn?«

Berdine blätterte zurück, drehte das Buch herum und tippte mit dem Finger auf eine Stelle in der Handschrift.

Richard kniff die Augen zusammen. »Berglendursch ost Kymermosst«, las er aus dem Tagebuch vor. »Berg der Vier Winde.«

»Eigentlich«, sagte Berdine, »bedeutet Berglendursch mehr als einfach nur Berg. Berglen heißt ›Berg‹ und ›dursch‹ bedeutet manchmal Fels, manchmal kann es allerdings auch etwas anderes bedeuten, ›willensstark‹ zum Beispiel, in diesem Fall aber heißt es, glaube ich, eher so etwas wie Felsberg oder großer Berg aus Fels. Ihr wißt schon, felsiger Berg der Vier Winde … so in der Art.«

Kahlan verlagerte das Gewicht auf ihren müden Füßen. »Berg Kymermosst?«

Berdine kratzte sich an der Nase. »Ja. Das klingt, als könnte es sich um denselben Ort handeln.«

»Es muß derselbe Ort sein«, sagte Richard, der zum erstenmal seit Stunden Hoffnung zu schöpfen schien. »Weißt du, wo er sich befindet?«

»Ja. Ich war schon auf dem Berg Kymermosst«, sagte Kahlan. »Windig ist es dort oben zweifellos – und felsig. Oben auf dem Gipfel stehen ein paar Ruinen, aber nichts, was einem Tempel ähnlich wäre.«

»Vielleicht sind das die Ruinen des Tempels«, schlug Berdine vor. »Wir wissen nicht, wie groß er war. Ein Tempel kann sehr klein sein.«

»Nein, in diesem Fall glaube ich das nicht.«

»Warum nicht?« wollte Richard wissen. »Was gibt es dort oben? Wie weit ist es?«

»Er liegt nicht weit entfernt in Richtung Nordosten. Vielleicht einen Tagesritt, je nachdem. Höchstens zwei. Es handelt sich um einen ziemlich unwirtlichen Ort. So trügerisch der alte Pfad ist, der auf den Berg hinauf- und über ihn hinwegführt, der Weg über Berg Kymermosst erspart einem die Durchquerung sehr schwierigen Geländes und mehrere Tagesreisen.

Oben auf dem Gipfel befinden sich einige alte Ruinen. Nur ein paar Nebengebäude, dem Aussehen nach. Ich habe eine Menge prächtiger Gebäude gesehen, mir ist klar, daß das, was dort oben steht, von seiner Architektur her nicht der Hauptkomplex war. Die Ruinen ähneln einigen der Nebengebäude hier im Palast der Konfessoren. Es gibt eine Straße, die zwischen den Gebäuden hindurchführt, ein wenig so wie die große Promenade hier, die genau zwischen den Nebengebäuden verläuft.«

Richard hakte einen Daumen hinter seinen breiten Ledergürtel. »Und wo führt sie nun hin, diese großartige Straße?«

Kahlan sah ihm fest in die grauen Augen. »Direkt bis zum Rand eines Abhanges. Die Felswand fällt vielleicht drei-, viertausend Fuß steil ab.«

»Gibt es irgendeine Art in den Abhang geschlagene Treppe? Irgend etwas, das zum eigentlichen Tempel hinunterführt?«

»Du verstehst nicht, Richard. Die Überreste der Gebäude stehen hart am Rand des Abhangs. Man sieht deutlich, daß die Gebäude, die Mauern und die Straße selbst einmal weitergeführt haben, denn sie sind genau an der Kante abgeschnitten. Der Berg ging einst an dieser Stelle weiter. Jetzt ist er verschwunden. Es ist alles weggebrochen. Ein Erdrutsch oder ähnliches. Was hinter den Ruinen lag, der Hauptkomplex und der eigentliche Berg, ist verschwunden.«

»Das jedenfalls schreibt Kolo. Die Mannschaft kehrte zurück, und der Tempel der Winde war verschwunden.« Richard wirkte niedergeschlagen. »Sie müssen Magie oder ähnliches benutzt haben, um den Tempel der Winde zu verbergen, damit niemand mehr dorthin gelangen konnte.«

»Also«, seufzte Berdine, »ich werde weiter im Tagebuch danach suchen, ob Kolo etwas davon erwähnt, daß der Tempel der Winde bei einem Erdrutsch oder einer Lawine in die Tiefe gestürzt ist.«

Richard nickte. »Vielleicht steht im Tagebuch noch mehr darüber.«

»Lord Rahl, werdet Ihr, bevor Ihr zu Eurer Heirat abreist, Zeit finden, mir zu helfen?«

Frostiges Schweigen senkte sich über die große Eingangshalle.

»Berdine –« Richards Mund bewegte sich, aber es kamen keine Worte heraus.

»Wie ich höre, sind die Soldaten wieder gesund«, sagte Berdine, während ihr Blick erst kurz zu Kahlan, dann wieder zu Richard hinüberwanderte. »Ihr sagtet, Ihr und die Mutter Konfessor würdet, sobald die Soldaten wieder gesund sind, aufbrechen, um Euch trauen zu lassen. Die Soldaten sind wieder gesund.« Sie schmunzelte. »Ich weiß, ich bin Eure Liebste, aber Ihr habt es Euch doch nicht etwa anders überlegt, oder? Keine kalten Füße bekommen?«

Sie wartete gespannt und schien nicht zu bemerken, daß niemand über ihren Scherz lachte.

Richard wirkte wie gelähmt. Er brachte es nicht über die Lippen.

Kahlan wußte, er hatte Angst, es offen auszusprechen. Er fürchtete, ihr das Herz zu brechen.

»Berdine«, sagte Kahlan in das bedrückende Schweigen hinein, »Richard und ich werden vorerst nicht abreisen, um zu heiraten. Die Hochzeit ist aufgeschoben. Zunächst jedenfalls.«

Sie hatte die Worte leise gesprochen, und doch schienen sie von den marmornen Wänden widerzuhallen, als hätte sie laut gebrüllt.

Nadines gespannt aufmerksames Gesicht verriet mehr, als hätte sie gegrinst. Irgendwie war es schlimmer, daß sie es nicht tat, denn es zeigte nur um so offensichtlicher, daß sie ihr Mienenspiel zügelte, dabei hätte ihr niemand einen Vorwurf machen können.

»Aufgeschoben?« Berdine kniff erstaunt die Augen zusammen. »Warum?«

Richard starrte Berdine an. Er hatte Angst, Kahlan anzusehen. »Jagang hat eine Epidemie in Aydindril ausgelöst, Berdine. Darum ging es in der Prophezeiung unten in der Grube. Es ist unsere Pflicht, uns um die Menschen hier zu kümmern, nicht um uns selbst … Wie sähe das aus, wenn …?«

Er verstummte.

Sie ließ das Tagebuch sinken. »Das tut mir leid.«

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