67

Richard wankte auf den Raum der Sliph zu. Nicht weit entfernt in einer Kammer, wo Cara und Berdine ihn untergebracht hatten, hatte er die Schreie gehört. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie lange er bewußtlos gewesen war, keine Vorstellung, wie lange es her war, daß sie ihn dort zurückgelassen hatten, doch die Schreie hatten ihn aus dem Dämmerzustand gerissen.

Jemand brauchte Hilfe. Und den letzten Schrei hatte er wiedererkannt – Kahlan.

Heftige, pochende Kopfschmerzen peinigten ihn. Alles tat ihm weh. Er hatte nicht geglaubt, stehen zu können, doch es gelang ihm. Er hatte nicht geglaubt, gehen zu können, aber auch das schaffte er. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.

Er war barfuß und ohne Hemd. Er hatte nur seine Hosen an. Ihm war durchaus bewußt, daß es in den unteren Gefilden der Burg kühl war, trotzdem bedeckte eine Schweißschicht seine Haut, und er bekam vor Hitze kaum Luft.

Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft zwang er sich weiterzugehen.

Neben der Tür zum Raum der Sliph stützte er sich mit einer Hand ab, richtete sich auf und trat ein.

Drefan hob den Kopf. Er hatte den Arm um Kahlans Hüfte geschlungen. In seiner anderen Hand hielt er ein Messer. Ein Stück seitlich lag Cara gefesselt auf dem Boden. Ihr Bauch war zerfetzt. Sie lebte noch, wand sich aber unter qualvollen Schmerzen.

Richard konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Was im Namen alles Guten geht hier vor, Drefan?«

»Richard«, meinte er voller Spott, »genau der Mann, auf den ich warte.«

»Gut, jetzt bin ich hier. Laß Kahlan los.«

»Oh, das werde ich, geliebter Bruder. Schon bald. Denn eigentlich will ich dich.«

»Wieso?«

Drefan zog erstaunt die Brauen hoch. »Damit ich wieder als Lord Rahl eingesetzt werden kann. Das ist die Stellung, die mir von Rechts wegen zusteht. Das haben die Stimmen mir gesagt. Mein Vater hat es mir gesagt. Ich werde Lord Rahl sein. Dazu bin ich geboren.«

Die Pest war in Richards Geist und Körper ein weit entferntes Dröhnen, das alles hier jedoch schien auch nichts weiter als ein Traum zu sein. »Wirf das Messer weg, Drefan, und gib auf. Es ist vorbei. Laß Kahlan los.«

Drefan lachte. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte grölend. Als sein Gelächter verstummte, kniff er die Augen zusammen und verkörperte eine furchteinflößende Entschlossenheit.

»Sie will mich. Sie bettelt darum. Du weißt, das ist die Wahrheit, mein geliebter Bruder. Du hast sie selbst erlebt. Sie ist eine Hure. Genau wie all die anderen. Genau wie Nadine. Genau wie meine Mutter. Sie muß sterben wie alle anderen auch.«

Richard sah Kahlan in die Augen. Was ging hier vor? Gütige Seelen, wie sollte er sie aus Drefans Armen befreien?

»Du täuschst dich, Drefan. Deine Mutter hat dich geliebt. Sie hat dich an einen Ort gebracht, wo du vor Darken Rahl sicher warst. Sie hat dich geliebt. Bitte, laß Kahlan los. Ich flehe dich an.«

»Sie gehört mir! Sie ist meine Frau! Ich mache mit ihr, was ich will!«

Drefan rammte Kahlan das Messer unten in den Rücken. Richard fuhr erschrocken zusammen, als er hörte, wie es knirschend auf Knochen traf. Kahlan ächzte unter der Wucht des Stoßes und riß entsetzt die Augen auf. Drefan ließ sie los. Sie fiel auf die Knie und sank zur Seite.

Richard versuchte mit aller Kraft, sich einen Reim auf das Geschehen hier zu machen. Er war unfähig zu entscheiden, ob dies Wirklichkeit war oder ein böser Traum. In letzter Zeit hatte er so viele Träume gehabt, so viele Alpträume. Das hier schien zu sein wie sie, und doch war es anders. Er wußte nicht einmal mehr, ob er noch lebte. Der Raum verschwamm vor seinen Augen.

Drefan zog das Schwert der Wahrheit blank. Das Klirren des Stahls, das Richard so gut kannte, hallte durch den Raum, ein Glockenschlag, der ihn aus dem Schlaf in einen Alptraum zu versetzen schien. Richard sah, wie der Zorn des Schwertes, seine Magie, sich Drefans Blick bemächtigte.

»Es geht mir gut, Richard«, stieß Kahlan, ihn von unten anstarrend, keuchend hervor. »Du bist unbewaffnet. Verschwinde von hier. Fliehe. Ich liebe dich. Bitte, tu es für mich. Lauf weg.«

Der Zorn in Drefans Augen war ein Nichts verglichen mit dem Zorn, der Richards Herz durchtoste.

»Laß das Schwert fallen, Drefan. Auf der Stelle. Oder ich werde dich töten.«

Drefan ließ das Schwert kreisen. »Wie denn? Mit deinen bloßen Händen?«

Richard erinnerte sich lebhaft an Zedds Worte, als er ihm damals das Schwert der Wahrheit übergeben hatte: das Schwert sei lediglich ein Werkzeug, die Waffe sei der Sucher selbst. Ein wahrer Sucher brauche kein Schwert.

Richard machte einen Schritt nach vorn. »Und mit dem Haß in meinem Herzen.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu töten, Richard. Auch wenn du unbewaffnet bist.«

»Ich selbst bin die Waffe.«

Richard rannte. Die Entfernung zwischen den beiden verringerte sich mit alarmierender Geschwindigkeit. Kahlan schrie, er solle fliehen. Er hörte sie kaum. Richard war zum Äußersten entschlossen.

Drefan riß das Schwert hoch über den Kopf, holte Luft und bereitete sich vor, Richard zu zerteilen.

Das war die Blöße. Richard wußte, ein Stoß war schneller als ein Schnitt.

Eine eiserne Entschlossenheit packte ihn.

Mit einem wütenden Aufschrei begann Drefan das Schwert zu senken.

Richard fiel auf sein linkes Knie, durchbrach die Blöße und benutzte den Vorwärtsschwung sowie eine Drehung seines Oberkörpers, um seinem Stoß zusätzliche Wucht zu verleihen. Die Finger starr nach vorn gestreckt, stieß er seinen Arm mit aller Kraft vorwärts.

Richard stieß blitzschnell zu, bevor das Schwert ihn berühren konnte, und bohrte seine Hand in Drefans weichen Leib. Einen Wimpernschlag darauf hatte er Drefans Wirbelsäule gepackt und riß sie nach vorne heraus, wobei er sie zersplitterte.

Drefan kippte nach hinten, schlug krachend gegen den Brunnen der Sliph und brach in einer schnell größer werdenden, dunkelroten Blutlache zusammen.

Richard beugte sich über Kahlan und nahm ihr Gesicht in die linke Hand. Es sollte nicht mit Drefans Blut in Berührung kommen. Sie stöhnte vor Schmerzen. Aus den Augenwinkeln sah Richard, wie Drefans Arm sich bewegte.

»Ich kann meine Beine nicht spüren, Richard. Ich spüre meine Beine nicht. Gütige Seelen, was hat er bloß mit mir gemacht?« Ihre Stimme bebte vor panischer Angst. »Ich kann sie nicht bewegen.«

Richard wurde bereits eins mit seinem Verlangen. Als Preis für seine Rückkehr aus dem Tempel der Winde hatte er vergessen müssen, wie er seine Kraft benutzen konnte, doch er hatte sie früher schon benutzt. Er hatte bereits Menschen geheilt. Er war ein Zauberer.

Er achtete weder auf das Schwindelgefühl in seinem Kopf noch auf die Übelkeit in seinem Magen. Davon durfte er sich nicht aufhalten lassen.

Von Nathan hatte Richard gelernt, daß die Kraft durch das Verlangen oder den Zorn auf den Plan gerufen wurde, vorausgesetzt, Verlangen und Zorn waren groß genug. Nie hatte er größeres Verlangen oder einen größeren Zorn verspürt als in diesem Augenblick.

»Richard, Richard, ich liebe dich. Du sollst wissen, falls wir, falls wir…«

»Still«, beruhigte er sie mit sanfter Stimme. Ihr Gesicht war zerschunden und blutverschmiert. Zu sehen, wie sie litt, wie sie sich ängstigte, tat ihm in der Seele weh. »Ich werde dich heilen. Lieg still, dann mache ich dich wieder gesund.«

»Ich hatte das Buch schon in den Händen, und dann habe ich es wieder verloren. Oh, Richard, es tut mir so leid. Ich hatte es, aber jetzt ist es verschwunden.«

Der Mut verließ ihn, als er begriff, was sie da sagte: Er würde sterben. Es war unausweichlich. Er war verloren.

»Bitte Richard, du mußt Cara heilen.«

»Nein. Ich glaube, ich habe nicht die Kraft, euch beide zu heilen.« Um einen Menschen zu heilen, mußte er die Schmerzen des Verwundeten auf sich nehmen. Drefan zu töten hatte ihn fast seine ganze Kraft gekostet. »Ich muß dich heilen.«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Bitte, Richard, tu, was ich sage, wenn du mich liebst. Heile Cara. Was er mit ihr angestellt hat, ist meine Schuld. Meine Schuld.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich habe das Buch verloren. Ich kann dich nicht retten. Heile Cara.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Dann werden wir bald auf ewig Zusammensein.«

Er verstand. Sie würden beide sterben. Sie würden in der Welt der Seelen Zusammensein. Sie wollte ohne ihn nicht weiterleben.

Richard gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Halte durch. Gib nicht auf. Bitte, Kahlan, ich liebe dich. Gib nicht auf.«

Richard drehte sich zu Cara um. Seine Übelkeit war mittlerweile so groß, daß ihr Anblick kaum noch eine Wirkung auf ihn hatte. Aber ihr Leiden setzte ihm so sehr zu, daß er sich krümmte.

Er legte seine Hände auf Caras blutverschmierten, aufgerissenen Bauch.

»Ich bin da, Cara. Haltet durch. Haltet mir zuliebe durch, damit ich Euch heilen kann.«

Sie warf murmelnd den Kopf von einer Seite auf die andere und schien seine Worte nicht zu hören.

Richard schloß die Augen und öffnete sein Herz, sein Verlangen, seine Seele. Er gab sich ganz dem Strom seines Mitgefühls hin. Er hatte nur den Wunsch, Cara wieder gesund zu machen. Sie hatte sich mit Leib und Seele für sie beide aufgeopfert. Er wußte nicht, ob er noch über genügend Kraft verfügte, aber er gab sich dem Versuch vollkommen hin.

In die strudelnden Tiefen ihrer Qual stieg er hinab. Er spürte alles, was sie spürte, teilte ihr Leid. Mit zusammengebissenen Zähnen und angehaltenem Atem nahm er ihre Schmerzen auf sich, weiter und weiter, schonungslos gegen sich selbst.

Er schüttelte sich vor Qualen, und sein Verstand schrie gepeinigt auf. Er nahm alles auf sich und verlangte nach mehr. Er wollte alles. Er forderte es.

Die Welt verwandelte sich in einen einzigen fließenden, gewundenen Strom aus Schmerzen. Von diesem Strom wurde er fortgerissen. Ihre sengende Glut verschlang alles Sein.

Zeit verlor jegliche Bedeutung. Was blieb, war Schmerz.

Als er spürte, daß er alles in sich aufgesogen hatte, ließ er sein Mitgefühl herausströmen, seine Kraft: seine Heilkraft, sein heilendes Wesen.

Er wußte nicht, wie er die Kraft lenken sollte, er ließ sie einfach in sie hineinströmen. Es war, als würde sein ganzes Selbst von ihrem Verlangen aufgesogen. Sie war verbrannte, ausgedörrte Erde, die den lebensspendenden Regen gierig in sich aufnahm.

Als er schließlich die Augen öffnete und den Kopf hob, lagen seine Arme auf der glatten weichen Haut ihres Bauches. Sie schien sich dessen noch nicht recht bewußt zu sein, dennoch war sie wieder genesen.

Richard drehte sich um. Kahlan lag auf der Seite, ihr Atem ging in kurzen, heftigen Stößen. Ihr Gesicht war aschfahl und von Schweiß und Blut verschmiert, die Augen halb geschlossen.

»Richard«, hauchte sie, als er sich über sie beugte, »mach mir die Hände los. Ich will in deinen Armen liegen, wenn ich…«

Wenn sie starb. Das hatte sie sagen wollen.

Hastig hob Richard ein ganz in der Nähe liegendes Messer vom Boden auf und durchtrennte ihre Stricke. Der Zorn war wieder da, jetzt jedoch nur noch als fernes Glühen. Er konnte den Raum kaum mehr erkennen. Sie kaum mehr hören. Sie kaum sehen.

Als sie die Hände endlich frei hatte, schlang sie einen Arm um seinen Hals und zog ihn zu sich. Richard hatte Mühe zu verhindern, daß er auf sie fiel.

»Richard, Richard, Richard«, flüsterte sie. »Ich liebe dich.«

Richard wollte sie gerade umarmen, als er die immer größer werdende Blutlache unter ihr entdeckte.

Sein Zorn flammte von neuem auf. Sein Verlangen flammte erneut auf.

Er nahm sie in die Arme und flehte die Seelen an, sie zu verschonen.

»Bitte gebt mir die Kraft, meine Liebste zu heilen«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. »Ich habe alles getan, was man von mir verlangt hat. Ich habe alles aufgegeben. Bitte, es darf nicht sein, daß ich auch noch meine Liebste verliere. Ich liege im Sterben. Laßt mir genügend Zeit. Helft mir.«

Mehr wollte er nicht, mehr verlangte er nicht, als er sie jetzt in den Armen hielt. Sie sollte überleben. Er wollte, daß es ihr wieder gutging und sie wieder gesund wurde.

Sie fest an sich drückend, überließ er sich ein weiteres Mal dem reißenden Strom. Er nahm die Schmerzen vorbehaltlos auf sich, hieß sie willkommen, lockte sie mit aller Kraft an.

Gleichzeitig ließ er seine Liebe fließen, seine Wärme, sein Mitgefühl.

Kahlan stöhnte.

Richard sah, daß seine Arme glühten, als teile eine Seele seinen Körper mit ihm. Vielleicht war er bereits zu einer Seele geworden, doch das alles kümmerte ihn nicht. Ihn kümmerte nur, ob er sie heilen würde – und nicht, was ihn das kosten mochte. Er war bereit, jeden Preis zu zahlen.


Kahlan stöhnte, als sie spürte, wie die Kraft in ihren Körper zurückströmte. Ihre Beine fingen an zu kribbeln. Zum ersten Mal, seit Drefan auf sie eingestochen hatte, spürte sie wieder etwas.

Richard schien sie mit einem Glühen zu umgeben, während er sie in seinen wärmenden, liebevollen Armen hielt.

Verglichen damit war die Wonne der Sliph eine Folter. Es überstieg alles, was sie in ihrem Leben je gefühlt hatte. Sie spürte, wie seine wärmende, heilende Magie durch jede Faser ihres Körpers strömte.

Ihr schien, als würde sie neu geboren. Leben und Lebendigkeit stiegen in ihr hoch. Tränen des Glücks lösten sich aus ihren Augen, während sie, vollkommen überwältigt von der Magie, in seinen Armen lag.

Als er sie endlich freigab, konnte sie sich ohne Schmerzen bewegen, auch die Beine wieder. Sie fühlte sich gesund. Sie war geheilt.

Richard wischte ihr das Blut von den Lippen und sah ihr in die Augen.

Kahlan kniete mit ihm auf dem Boden und küßte ihn, wobei sie ihre gemeinsamen, salzigen Tränen schmeckte.

Sie löste sich von ihm, nahm ihn bei den Armen, und es war, als sähe sie ihn in einem völlig neuen Licht. Soeben hatte sie etwas mit ihm geteilt, das jenseits aller Worte, jenseits jeder Möglichkeit des Verstehens lag.

Kahlan erhob sich und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Richard wollte danach greifen.

Dann fiel er vornüber auf sein Gesicht.

»Richard!« Sie ließ sich zu Boden fallen und wälzte ihn auf den Rücken. Er atmete kaum noch. »Richard, bitte. Verlaß mich nicht. Bitte verlaß mich nicht!«

Sie packte ihn bei den Schultern. Er glühte vor Fieber. Seine Augen waren geschlossen. Jeder flache Atemzug bereitete ihm große Mühe.

»Es tut mir so leid, Richard. Ich habe das Buch wieder verloren. Bitte, Richard. Ich liebe dich. Stirb nicht und laß mich nicht allein.«

»Hier«, war eine Stimme zu vernehmen, die durch den Raum hallte.

Kahlan hob den Kopf. Die Stimme hatte etwas Unwirkliches. Sie verstand nicht. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Kahlan wirbelte herum und sah das quecksilbrige Gesicht der Sliph, das auf sie herabblickte. Ein flüssiger Silberarm hielt ihr das schwarze Buch hin.

»Mein Herr und Meister benötigt dies«, sagte die Sliph. »Nimm es.«

Kahlan riß das Buch an sich. »Danke! Danke, Sliph!«

Sie sank nieder, um den Zauberersand zu holen, den Richard in den Ledertaschen bei sich trug, doch er hatte seinen Übergürtel nicht angelegt.

Sie lief hinüber zu Cara, die noch immer mit Stricken gefesselt war. Cara wälzte vor sich hinmurmelnd den Kopf von einer Seite zur anderen, als hätte sie nicht mitbekommen, daß Richard sie geheilt hatte. Noch immer war sie im Kerker ihres eigenen Grauens gefangen.

Zedd hatte Kahlan erklärt, die Gabe könne Krankheiten des Geistes nicht heilen.

»Cara! Cara, wo hattet Ihr Richard untergebracht? Wo sind seine Sachen?«

Die Mord-Sith zeigte keinerlei Reaktion. Kahlan schnappte sich das Messer vom Fußboden und durchtrennte die Stricke. Cara blieb einfach reglos liegen.

Kahlan nahm ihr Gesicht in die Hände und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Es ist alles wieder in Ordnung, Cara. Die Ratten sind fort. Sie sind verschwunden. Ihr seid in Sicherheit. Richard hat Euch geheilt. Alles wieder in Ordnung.«

»Ratten«, murmelte Cara. »Nehmt sie von mir runter, bitte, bitte…«

Kahlan nahm sie in die Arme. »Sie sind fort, Cara. Ich bin Eure Schwester des Strafers. Ich brauche Euch. Bitte, Cara, kommt wieder zu Euch.«

Die andere brachte nur ein unverständliches Gestammel hervor.

»Cara«, schluchzte Kahlan, »Richard stirbt, wenn Ihr mir nicht helft. Die Burg hat Tausende von Räumen. Ich muß wissen, wo Ihr ihn untergebracht hattet. Bitte, Cara, Richard hat Euch geholfen. Er ist jetzt auf Eure Hilfe angewiesen – sonst stirbt er. Wir haben keine Zeit. Richard braucht Euch.«

Caras Augen fanden ihr Ziel, so als erwachte sie aus dem Schlaf. »Richard?«

Kahlan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ja, Richard. So beeilt Euch doch. Ich brauche den Gürtel, den Richard sonst immer trägt. Ich brauche ihn, oder er stirbt.«

Cara nahm ihre Hände herunter und rieb sich die Handgelenke, die an den ehemals wunden Stellen jetzt unversehrt waren. Sie befühlte ihren Bauch. Sogar die alten Narben waren verschwunden.

»Ich bin geheilt«, wunderte sie sich leise. »Lord Rahl hat mich geheilt.«

»Ja! Cara, bitte. Richard liegt im Sterben. Das Buch habe ich, aber ich brauche die Dinge, die er in seinem Gürtel bei sich trägt.«

Unvermittelt setzte Cara sich auf und zog ihren roten Lederanzug über ihre Brust. Sie schloß zwei der Knöpfe, damit er hielt.

»Seinen Gürtel! Ja. Ihr bleibt hier bei Lord Rahl. Ich werde ihn holen.«

»Beeilt Euch!«

Cara erhob sich, noch ein wenig schwankend, fand dann ihr Gleichgewicht wieder und verließ eilig den Raum. Kahlan drückte das tiefschwarze Buch an ihren Körper. Sie beugte sich über Richard. Sein Atem ging sehr schwach. Sie wußte, jeder dieser Atemzüge konnte sein letzter sein. Er hatte ihnen, Kahlan und Cara, seine ganzen Kräfte überlassen.

»Gütige Seelen, helft ihm. Laßt ihm nur noch ein bißchen Zeit. Bitte. Er hat so viel durchgemacht. Bitte, schenkt ihm ein wenig Zeit, bis ich dieses widerwärtige Buch vernichten kann.«

Kahlan beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Lippen. »Halte durch, Richard. Halte für mich durch, bitte. Falls du mich hören kannst: Ich habe das Buch. Ich weiß jetzt, wie man es vernichten kann. Bitte, halte einfach durch.«

Auf einer sauberen Stelle etwas näher bei der Tür kniete Kahlan nieder und schlug das Buch auf der dritten Seite auf, um bereit zu sein, sobald Cara zurückkehrte.

Sie starrte in das Traumbild einer völlig öden Landschaft. Da war zu Dünen aufgewehter Sand, der sich bis in die Ferne des von dem Buch ausgehenden Trugbildes erstreckte. Kahlan versenkte ihren Blick in diese Ödnis und sah Runen im Sand – zu geometrischen Mustern angeordnete Linien.

Ihr Blick wurde von dem wirbelnden und kreisenden Linienmuster aufgesogen. Dort, in den Runen, war ein Licht. Es leuchtete flackernd in allen Farben daraus hervor und schien sie zu sich zu rufen.

»Mutter Konfessor!« gellte Cara und rüttelte Kahlan an den Schultern. »Habt Ihr mich nicht gehört! Ich habe den Gürtel von Lord Rahl!«

Kahlan schüttelte blinzelnd den Kopf, versuchte ihre Gedanken wieder zu ordnen. Sie riß den Gürtel an sich und löste den Knochenstift, mit der die Lasche der Tasche befestigt war, in der Richard den Zauberersand aufbewahrte. Drinnen fand sie den Lederbeutel mit weißem Sand.

Mit Cara im Rücken, die ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte, warf Kahlan eine Prise weißen Sand in das Buch.

Die Farbe schien zu brodeln und zu kreisen, sich zu überschlagen und in sich zu verschlingen. Kahlan riß den Blick los, suchte ein weiteres Mal in der Tasche und zog den anderen Lederbeutel hervor, in dem sich der schwarze Zauberersand befand. Vorsichtig zog sie das obere Ende mit zwei Fingern auseinander. Sie sah den tiefschwarzen Sand in seinem Innern.

Besorgt hielt Kahlan inne. Da war noch etwas, irgend etwas regte sich ganz hinten in ihrem Verstand.

Die Worte. Nathan hatte gesagt, man müsse die Worte sprechen, die drei Grußformeln, bevor man den schwarzen Sand benutzte. Drei Worte. Bloß, wie lauteten sie?

Sie fielen ihr nicht ein. In Gedanken rannte sie hinter ihnen her, aber immer wieder verschwanden sie hinter einer dunklen Ecke, und sobald sie um dieselbe Ecke bog, waren sie abermals bereits davon. Ihre Gedanken steckten in einem Sumpf aus Angst fest, in dem man nur mühselig stapfend vorwärtskam. Verzweifelt zermarterte sie sich das Hirn, aber die Worte wollten ihr nicht einfallen.

Richard hatte sie sich in die Handfläche geschrieben. Kahlan drehte sich um, wollte sie ihm aus der Hand lesen und erstarrte.

Drefan, der dort, wo er zusammengebrochen war, am Brunnen der Sliph lehnte, hatte das Schwert, indem er sich an einen letzten Lebensnerv klammerte, zum Schlag erhoben. Richard lag in Reichweite unmittelbar vor ihm auf dem Boden. Drefan würde ihn töten.

»Nein!« kreischte Kahlan.

Doch das Schwert senkte sich bereits herab. Ein mattes, irres Lachen wehte durch die Luft.

Kahlan reckte die geballte Faust nach vorn und rief den blauen Blitz herbei, um Richard zu beschützen. Nichts geschah. Man hatte ihr den Zugriff auf ihre Kraft unmöglich gemacht.

Cara hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, um sich auf Drefan zu werfen, doch sie war zu weit entfernt. Sie würde es nicht schaffen. Das Schwert hatte halb sein Ziel erreicht.

Ein silbriger Arm senkte sich von oben herab, packte Drefans Arm und hielt ihn fest. Kahlan hielt den Atem an.

Ein weiterer flüssiger Silberarm wand sich um Drefans Kopf. »Atme«, gurrte die Sliph mit einer Stimme, die die Befriedigung bestialischer Lust verhieß, mit einer Stimme, die reine Wonne versprach. »Ich möchte, daß du mich zufriedenstellst. Atme

Drefans Brust hob sich, als er die Sliph einatmete.

Er wurde ganz ruhig, hielt die Sliph in seinen Lungen fest. Dann ließ die Sliph ihn los, und er fiel zur Seite um. Er atmete aus und stieß die Sliph, die er eingeatmet hatte, wieder aus.

Sie lief ihm aus Mund und Nase, jedoch nicht silbern, sondern rot.

Kahlan spürte, wie etwas in ihrem Innern auseinanderging, das tiefgreifende Gefühl, daß sich etwas löste, und urplötzlich war sie wieder eins mit ihrer Kraft: Dieses köstliche Gefühl in ihrem Innern entlockte ihr ein euphorisches Stöhnen.

Drefan war tot. Bis daß der Tod euch scheidet. So hatten die Worte gelautet.

Ihr Eid war erfüllt. Die Winde hatten ihr die Kraft zurückgegeben.

Kahlan wurde aus ihrer Benommenheit gerissen, als sie Richard nach Luft schnappen hörte. Erneut von Panik ergriffen, eilte sie zu ihm hinüber und ergriff seine rechte Hand, auf die Richard die Nachricht gekritzelt hatte. Sie bog seine Finger auseinander.

Die Worte waren verschwunden. Drefans Blut hatte die Schrift verwischt, als Richard ihn zurückgehalten hatte.

Kahlan schrie vor Wut und Verzweiflung. Sie kroch zurück zu dem aufgeschlagenen Buch. Sie konnte sich einfach nicht an die Worte erinnern. Verzweifelt zermarterte sie sich den Verstand. Sosehr sie sich auch abmühte, die Worte wollten ihr nicht einfallen.

Was sollte sie nur tun?

Vielleicht sollte sie trotzdem einfach ein schwarzes Sandkorn hinzufügen.

Nein, sie war nicht so unklug, den Rat eines Zauberers wie Nathan zu mißachten.

Sie preßte sich die Handballen an die Schläfen, als wollte sie die Worte herauspressen. Cara kniete nieder und packte sie bei den Schultern.

»Was ist, Mutter Konfessor? Ihr müßt Euch beeilen. Lord Rahl atmet kaum noch. So beeilt Euch doch!«

Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich weiß die Worte nicht mehr. Ach, Cara, ich kann mich einfach nicht erinnern. Nathan hat sie mir gesagt, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern.«

Kahlan schleppte sich auf allen vieren wieder hinüber zu Richard. Sie streichelte ihm das Gesicht.

»Bitte, Richard. Wach doch auf. Ich muß sie wissen. Bitte, Richard, wie lauten sie? Die drei Worte?«

Ächzend vor Anstrengung versuchte er, Luft zu holen. Er würde nicht mehr aufwachen. Er würde nicht überleben.

Kahlan eilte zum Buch zurück. Sie schnappte sich den Lederbeutel mit dem schwarzen Sand. Sie würde es ohne die Worte wagen müssen. Vielleicht würde es auch so gelingen. Es mußte!

Sie konnte sich nicht überwinden, die Hände zu bewegen. So unklug war sie nicht. Es würde nur gelingen, wenn sie die Worte sprach. Sonst nicht, soviel war ihr klar. Sie war mit Zauberern und Magie aufgewachsen und war nicht so überheblich, Nathans Anweisungen in den Wind zu schlagen. Ohne die Worte würde es nicht klappen.

Sie ließ sich mit einem Aufschrei nach vorne fallen und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. »Ich kann mich nicht an die Worte erinnern. Ich kann es nicht!«

Cara legte einen Arm um sie, zwang sie, sich aufzurichten, und nahm sie behutsam in den Arm. »Beruhigt Euch doch. Tief durchatmen. Gut. Jetzt ausatmen. Und noch einmal. Jetzt stellt Euch diesen Nathan in Gedanken vor. Stellt ihn Euch vor, wie er die Worte zu Euch spricht und wie glücklich Ihr wart, daß Ihr Richard das Leben retten könnt.«

Kahlan versuchte es. Sie gab sich solche Mühe, daß sie hätte schreien mögen.

»Ich kann mich nicht an sie erinnern«, weinte sie. »Richard wird sterben, weil mir drei blöde Worte nicht einfallen. Ich kann mich einfach nicht an die drei Grußformeln erinnern.«

»Die drei Grußformeln?« fragte Cara erstaunt. »Meint Ihr vielleicht Reechani, Sentrosi, Vasi? Diese drei Grußformeln?«

Kahlan starrte sie fassungslos an. »Das sind sie. Die drei Grußformeln. Reechani, Sentrosi, Vasi.

Reechani! Sentrosi! Vasi! Ich erinnere mich! Danke, Cara, jetzt erinnere ich mich wieder!«

Mit Daumen und Zeigefinger fischte Kahlan ein einzelnes Korn des schwarzen Sandes heraus.

»Reechani, Sentrosi, Vasi«, wiederholte sie zur Sicherheit noch einmal.

Dann warf sie das schwarze Sandkorn ins Buch.

Die beiden hielten den Atem an.

Im Raum setzte ein Summen ein, das allmählich immer lauter wurde. Die Luft schien zu tanzen und zu vibrieren. Ein wirbelndes, sich überschlagendes, pulsierendes, an- und abschwellendes Licht in allen Farben leuchtete flackernd auf. Mit dem Summen wurde es immer heller, bis Kahlan schließlich die Augen abwenden mußte.

Lichtstrahlen schwenkten über die steinernen Wände hinweg. Cara hielt sich die Hand vors Gesicht. Kahlan folgte ihrem Beispiel. Das Licht war so grell, daß es nicht reichte, sich einfach abzuwenden.

Und dann setzte eine Dunkelheit ein wie die tiefe Schwärze des Steins der Nacht oder des Bucheinbandes und sog Licht und Farben zurück ins Buch. Sie entzog dem Raum alles Licht, bis er schließlich in Dunkelheit versank.

Aus der Tiefe dieser völligen Finsternis drang ein so entsetzliches Stöhnen, daß Kahlan froh war, nicht erkennen zu können, woher es stammte. Die Klagelaute der Seelen füllten den Raum, breiteten sich in blinder, irrer Raserei aus, sirrten durch die Luft – verloren, wie von Sinnen, wild.

Der Klang eines fernen Lachens, das Kahlan nur zu gut kannte, verhallte zu einem Klagelaut, der bis in die Ewigkeit zu reichen schien.

Als der Schein der Kerzen wieder aufleuchtete, war das Buch verschwunden, und nur ein Aschefleck verriet, wo es gelegen hatte.

Kahlan und Cara liefen hinüber zu Richard. Er schlug die Augen auf. Zwar sah er noch nicht gesund aus, wirkte aber munterer. Sein Atem ging kräftiger und gleichmäßig.

»Was ist passiert?« fragte er. »Ich bekomme wieder Luft. Mein Kopf dröhnt nicht mehr.«

»Die Mutter Konfessor hat Euch gerettet«, verkündete Cara. »Wie ich Euch schon oft erklärt habe, Frauen sind stärker als Männer.«

»Cara«, fragte Kahlan leise, »woher kanntet Ihr die drei Grußformeln?«

Cara zuckte die Achseln. »Der Legat Rishi kannte die Worte, genau wie die Nachricht von den Winden. Als Ihr von den drei ›Grußformeln‹ spracht, sind sie mir, genau wie die anderen Nachrichten von den Winden, einfach über seine Magie zugefallen.«

Erleichtert legte Kahlan ihre Stirn in stummer Dankbarkeit an Caras Schulter. Die Mord-Sith streichelte der Mutter Konfessor mit demselben stummen Mitgefühl den Rücken.

Richard blinzelte, kniff die Augen zusammen und wollte den Kopf wieder klar bekommen. Als er sich aufrichtete, beugte sich Kahlan zu ihm und wollte ihn in den Arm nehmen, aber Cara hielt sie zurück.

»Bitte, Mutter Konfessor, darf ich zuerst? Ich fürchte, wenn Ihr erst einmal anfangt, bekomme ich wahrscheinlich keine Gelegenheit mehr dazu.«

Kahlan mußte schmunzeln. »Da habt Ihr nicht ganz unrecht. Nur zu.«

Während Cara die Arme um Richard schlang und leise, persönliche, von Herzen kommende Worte in sein Ohr flüsterte, stand Kahlan auf und wandte sich an die Sliph.

»Ich kann dir nicht genug danken, Sliph. Du hast Richard gerettet. Du bist eine echte Freundin, und ich werde dich mein Leben lang in Ehren halten.«

Das silbrige Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. Sie blickte hinunter auf Drefans leblosen Körper.

»Er besaß keine Magie, aber er benutzte seine Begabung dazu, die Blutung zu stoppen, damit er lange genug weiterleben konnte, um den Herrn und Meister umzubringen. Es bedeutet den Tod, wenn man mich einatmet, ohne Magie zu besitzen. Ich bin froh, daß ich ihn auf eine Reise mitnehmen konnte, eine Reise in die Welt der Toten.«

Richard erhob sich auf wackeligen Beinen und schlang Kahlan einen Arm um die Hüften. »Ich möchte mich ebenfalls bei dir bedanken, Sliph. Ich habe keine Ahnung, was ich jemals für dich werde tun können, aber wenn es in meiner Macht steht, brauchst du es nur zu sagen.«

Die Sliph lächelte. »Ich danke Euch, mein Herr und Meister. Es würde mich sehr freuen, wenn du wieder mit mir reisen würdest. Es wird dir gefallen.«

Richards Augen hatten jetzt wieder ihren alten Glanz. »Ja, wir wollen reisen. Ich werde mich vorher etwas ausruhen müssen, bis ich mich ganz erholt habe und wieder bei Kräften bin, aber dann werden wir reisen, das verspreche ich.«

Kahlan ergriff Caras Hand. »Geht es Euch gut? Ich meine, ist wirklich alles in Ordnung … in jeder Hinsicht?«

Cara nickte, einen gehetzten Blick in den Augen. »Die Geister der Vergangenheit verfolgen mich noch immer, aber es geht mir gut. Danke, Schwester, daß Ihr mir geholfen habt. Es geschieht nicht oft, daß eine Mord-Sith auf die Hilfe eines anderen vertrauen kann, aber bei Richard als Lord Rahl und Euch als Mutter Konfessor scheint alles möglich.«

Cara blickte hinüber zu Richard. »Als Ihr die Mutter Konfessor geheilt habt, sah es aus, als würdet Ihr glühen, als hätte Euch dabei eine Seele zur Seite gestanden.«

»Ich denke, die Guten Seelen haben mir geholfen. Davon bin ich fest überzeugt.«

»Ich habe die Seele wiedererkannt. Es war Raina.«

Richard nickte. »Ich hatte auch das Gefühl, es sei Raina gewesen. Als ich in der Welt der Seelen war, erzählte Denna mir, Raina habe ihren Frieden gefunden und wisse, daß wir sie lieben.«

»Ich glaube, wir sollten gehen und Berdine erzählen, was passiert ist«, schlug Cara vor.

Richard legte ihr seinen anderen Arm um die Hüfte, und alle machten sich auf in Richtung Tür.

»Ja, das denke ich auch.«

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