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»Was geht deiner Meinung nach hier vor?« fragte Ann.

Zedd reckte seinen Kopf in die Höhe und versuchte, etwas zu erkennen. Es war schwierig, vorbei an der Wand aus Beinen, die sie umgab, einen guten Blick zu erhaschen. Die Seelenjäger der Nangtong erteilten schnatternd Kommandos, die er nicht verstand. Einige der Speere aber, die aus dem Kreis auf sie zielten, legten sich ihm auf die Schulter und gaben ihm unmißverständlich zu verstehen, er rühre sich besser nicht von der Stelle.

Bewacht von einem Ring der Wilden, saßen er und Ann mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Erde, während andere ein Stück entfernt mit einer Gruppe Si Doak zusammenhockten und verhandelten.

»Sie sind zu weit weg, um Genaues zu verstehen, aber selbst wenn wir sie hören könnten, nützte das vermutlich auch nicht viel. Ich spreche nur ein paar Brocken Si Doak.«

Ann pflückte einen langen Grashalm und wickelte ihn sich um den Finger. Sie sah nicht zu Zedd hinüber. Schließlich wollte sie ihre Häscher nicht auf den Gedanken bringen, sie seien bei klarem Verstand und in der Lage, irgend etwas auszuhecken.

Nur um den Schein zu wahren, stieß Ann ein hohes, gackerndes Lachen aus. »Was weißt du über diese Si Doak?«

Zedd flatterte mit den Armen wie ein Vogel, der im Begriff steht, sich in die Lüfte zu erheben. »Ich weiß, daß es bei ihnen keine Menschenopfer gibt.«

Ein Wächter schlug Zedd den Speerschaft auf den Kopf, als wollte er ihm jede Absicht austreiben davonzufliegen. Statt loszufluchen, was er nur zu gerne getan hätte, heulte Zedd vor Lachen.

Ann sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Änderst du allmählich deine Einstellung, man sollte diese Nangtong ganz nach ihrem Gutdünken leben lassen?«

Zedd grinste. »Wenn ich sie so leben lassen wollte, wie sie es für richtig halten, wären wir längst in der Welt der Seelen. Nur weil man davon überzeugt ist, man sollte Wölfen ihren Frieden lassen, muß man ihnen noch lange nicht erlauben, einem nach Belieben die Herde wegzufressen.«

Sie pflichtete ihm brummend bei.

Ein gutes Stück entfernt, gleich neben einem leicht ansteigenden Hang, zog sich die Verhandlung hin. Ungefähr zehn der Nangtong und die gleiche Anzahl Si Doak saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen im Kreis. Die Nangtong zählten laut ab und begleiteten dies mit übertriebenen Armbewegungen. Sie deuteten in Zedds Richtung. Sie schwangen unverständliche, aber scheinbar tiefempfundene Reden.

Zedd beugte sich zu Ann und meinte leise: »Soweit ich weiß, sind die Si Doak ziemlich friedfertig. Mir ist nie zu Ohren gekommen, daß sie Krieg geführt hätten oder gewaltsam gegen ihre Nachbarn vorgegangen wären, nicht einmal gegen schwächere. Aber wenn es ums Feilschen geht, sind sie skrupellos. Die meisten Stämme in diesem Teil der Wildnis würden es vorziehen, mit einem Wolf zu verhandeln. Andere Stämme bringen ihrem Nachwuchs bei, wie man kämpft, die Si Doak jedoch das Feilschen.«

Ann schaute in die entgegengesetzte Richtung, so als interessiere sie das nicht. »Wie kommt es, daß sie darin so gut sind?«

Zedd sah kurz zu ihren Bewachern hoch. Sie verfolgten ausnahmslos die Verhandlungen und schenkten ihren hilflosen Gefangenen wenig Beachtung.

»Sie besitzen die seltene Fähigkeit, von einem Geschäft Abstand zu nehmen. Andere beschließen, daß sie etwas wollen und geben sich dann schon bald mit weniger zufrieden, nur um einig zu werden. Die Si Doak nicht. Sie gehen einfach fort. Wenn es nicht anders möglich ist, geben sie ihre Hoffnung ohne Bedauern auf und widmen sich etwas anderem.«

Einer der Si Doak, der mit einem Kaninchenfell auf dem Kopf, warf einen Stapel Decken in die Kreismitte. Er deutete auf eine kleine Ziegenherde und unterbreitete ein Angebot, das, soweit Zedd dies verstand, zwei der Tiere umfaßte.

Das Angebot schien die Nangtong zu erzürnen. Ihr Hauptunterhändler sprang auf und reckte wiederholt seinen Speer in die Luft, offenbar um seiner Empörung über den niedrigen Preis Ausdruck zu verleihen. Zedd fiel auf, daß er nicht etwa fortging. Ihre Ehre stand auf dem Spiel. Soviel hatten die Nangtong investiert.

Er stieß Ann an, legte den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Kojote. Ann verstand, was er beabsichtigte, und stimmte ein. Die beiden kläfften und blafften, so laut sie nur konnten.

Die Unterhändler verstummten und sahen zu den Gefangenen hinüber. Ihr Oberhaupt nahm wieder Platz.

Ein Schlag auf den Kopf ließ Zedd und Ann verstummen. Die Gespräche drüben bei den Verhandlungen über den Tausch wurden wiederaufgenommen. Ein Abgesandter der Nangtong wurde losgeschickt, um die Ziegen genauer zu begutachten.

Zedd kratzte sich an der Schulter. Der trockene Schlamm wurde unangenehm. Aber vermutlich weniger unangenehm, als sich das Herz herausschneiden oder den Kopf abschlagen zu lassen, oder was immer die Nangtong mit ihren Menschenopfern machten.

»Ich habe Hunger«, raunte er. »Sie haben uns den ganzen Tag noch nichts zu essen gegeben. Der Nachmittag ist fast zur Hälfte um, und wir haben nicht eine einzige Mahlzeit bekommen.«

Er bellte seine Häscher an, um ihnen sein Mißfallen kundzutun. Die Unterhandlungen gerieten kurz ins Stocken, als man erneut für einen Augenblick zu den Gefangenen hinübersah. Die Si Doak verschränkten sämtlich die Arme und betrachteten die Nangtong schweigend.

Rasch nahmen die Nangtong die Gespräche wieder auf. Ihr Tonfall änderte sich, wurde versöhnlich. Verhaltenes Gelächter mischte sich unter ihr zwangloses Geschnatter. Die Reaktion der Si Doak war knapp und schroff. Der mit dem Kaninchenfell auf dem Kopf deutete erst auf die Nachmittagssonne, dann in die Richtung seines Dorfes.

Der verantwortliche Mann der Nangtong zerrte eine Decke aus dem Stapel in der Mitte und untersuchte sie mit widerstrebender Bewunderung. Er gab die Decke an seine Kameraden weiter. Sie würdigten ihren Wert mit einem knappen Nicken, als hätten sie ihn gerade erst erkannt. Der Mann, den man losgeschickt hatte, um sich die Ziegen anzusehen, kehrte mit zweien von ihnen zurück. Er zeigte sie seinen Gefährten, und diese ergingen sich in Lauten der Begeisterung, als sei ihnen nun erst aufgefallen, daß die Ziegen beeindruckender waren, als anfangs gedacht, und ganz und gar nicht jene ausgemergelten Tiere, die vorzufinden sie erwartet hatten.

Offenbar waren die Nangtong zu dem Entschluß gekommen, daß sie auf keinen Fall mit den Gefangenen nach Hause zurückkehren wollten. Jeder brauchbare Gegenstand war besser als zwei Verrückte. Sie konnten den Seelen schließlich schlecht zwei Verrückte schicken. Jeder Tausch war für sie ein Gewinn, vor allem in Anbetracht des schwindenden Interesses der Si Doak.

Diese behielten ihre versteinerten Mienen bei. Die Nangtong hatten einen Fehler begangen. Sie hatten verraten, daß sie das, was sie hatten, unbedingt verkaufen mußten. Nichts schätzten die Si Doak mehr als einen Verkäufer, der unter Druck stand.

Plötzlich wurde man sich über den Preis einig – was, war für Zedd nicht ersichtlich. Die Ranghöchsten der Si Doak und der Nangtong erhoben sich, hakten die Arme an den Ellenbogen ineinander und drehten sich so verbunden dreimal umeinander. Als sie sich wieder lösten, ging auf beiden Seiten ein fröhliches Schnattern durch die Reihen. Der Handel war besiegelt.

Die Nangtong gingen daran, die Decken aufzusammeln. Die Ziegen wurden angebunden. Die Si Doak traten auf ihre Beute zu. Als sie näher kamen, schlugen die Wächter Zedd und Ann auf den Kopf, offenbar als Warnung, das Geschäft nicht noch zu vereiteln.

Zedd hatte nicht die geringste Absicht, das zu tun. Die Si Doak opferten keine Menschen. Soweit er wußte, waren sie ein sanftmütiges Völkchen, und die schlimmste Strafe, die sie über jemanden verhängten, der sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hatte, war Verbannung. Gelegentlich kam es vor, daß ein verbannter Si Doak verhungerte, weil man ihn vertrieben hatte. Ein unartiges Kind wurde dadurch eines Besseren belehrt, daß alle es einen Tag lang völlig ignorierten. Für einen Si Doak war das eine fürchterliche Strafe, die für lange Zeit danach allerbestes Betragen zur Folge hatte.

Natürlich waren Zedd und Ann keine Angehörigen der Gemeinschaft der Si Doak, daher war es durchaus möglich, eigentlich sogar wahrscheinlich, daß ihnen eine solche Behandlung nicht zuteil werden würde.

Zedd beugte sich zu Ann und flüsterte: »Ich glaube nicht, daß diese Leute uns etwas antun werden, also merk dir eins: Sollten sie beschließen, uns nicht zu nehmen, könnten die Nangtong uns möglicherweise doch noch die Kehle durchschneiden, nur um nicht die Demütigung hinnehmen zu müssen, mit zwei Verrückten zurückzukehren.«

»Erst soll ich im Schlamm spielen und jetzt das brave kleine Mädchen?«

Zedd mußte über ihren Sarkasmus lachen. »Nur bis unsere neuen Bewacher uns von den alten weggeschafft haben.«

Der Älteste der Si Doak, der mit dem Kaninchenfell auf dem Kopf, ging vor seinen neuen Errungenschaften in die Hocke. Er streckte die Hand aus und befühlte Zedds Armmuskeln. Daraufhin stieß er ein mißbilligendes Grunzen aus. Nun befühlte er Anns Arme und gab einen Laut von sich, als sei er mit dem Vorgefundenen zufrieden.

Ann zog erstaunt eine Braue hoch und sah Zedd an. »Offenbar sage ich ihnen mehr zu als ein knochiger alter Kerl.«

Zedd grinste. »Vermutlich halten sie dich als menschliches Arbeitstier für besser geeignet. Sie werden dich hart schuften lassen.«

Ihr selbstzufriedener Gesichtsausdruck erlosch. »Was soll das heißen?«

Er bedeutete ihr, sie solle schweigen. Ein weiterer Si Doak hockte sich neben den Ältesten. An seinem Kopf waren Ziegenhörner befestigt. Über seinem Wildlederhemd trug er gut und gerne einhundert Halsketten, von denen einige bis zu seinen Lenden herabhingen und die aus Zähnen, Perlen, Knöpfen, Federn, Tonscherben, Metallplättchen, Goldmünzen, kleinen Lederbeuteln und geschnitzten Amuletten bestanden. Er war der Schamane der Si Doak. Der Mann ergriff Zedds Hand und streckte vorsichtig dessen Arm. Dann ließ er ihn los. Zedd ließ ihn fallen. Der Schamane tat schnatternd sein Mißfallen kund. Zedd begriff genug, um sich zusammenzureimen, daß er seinen Arm hochhalten sollte. Doch gab er vor, daß er nichts verstand, woraufhin der Schamane den Arm erneut anhob und Zedd mit der Hand bedeutete, er solle ihn dort lassen.

Während die Nangtong noch immer ihre Speere auf ihre Gefangenen gerichtet hielten, holte der Schamane lange, zusammengerollte Grashalme aus einer der Taschen an seiner Hüfte. Einen Sprechgesang anstimmend, wickelte er Zedd das Gras ums Handgelenk. Als er fertig war, wickelte er das Gras um Zedds anderes Handgelenk, dann machte er dasselbe mit Ann.

»Irgendeine Ahnung, was das soll?« fragte sie.

»Das bindet unsere Magie. Die Nangtong brauchen nichts zu tun, um unsere Magie zu blockieren, aber die Si Doak müssen irgendeine Form ihrer eigenen Magie einsetzen, um unsere aufzuheben. Dieser Schamane ist ein Mann der Magie. Er hat die Gabe. Er ist so etwas wie der Zauberer der Si Doak.« Zedd sah kurz aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. »Vielleicht könnte man auch sagen, er ist wie die Schwestern des Lichts mit ihren Halsringen. Wie die Halsringe werden wir auch diese Armbänder nicht abnehmen können.«

Nachdem man ihnen das Gras um die Handgelenke gewickelt hatte, zogen die Nangtong ihre Waffen zurück, hoben ihren Teil der Decken auf, sammelten ihre beiden Ziegen ein und machten sich rasch aus dem Staub.

Der Älteste, der mit dem Kaninchenfell auf dem Kopf, beugte sich zu Zedd vor und sprach. Als Zedd die Stirn runzelte und die Achseln zuckte, griff der Mann zu einer Zeichensprache, die er sich anscheinend eben erst ausgedacht hatte. Er deutete Arbeiten an, die zu erledigen seien, und die Zeit, indem er die Jahreszeiten darstellte: Er grub in der Erde und tat, als pflanze er etwas, er mimte die Hitze des Sommers und den winterlichen Frost. Viel verstand Zedd nicht, aber es genügte.

Er wandte sich zu Ann. »Ich glaube, diese Knaben hier haben uns aus der Todesstrafe freigekauft. Wir müssen ihnen für einen Zeitraum von etwa zwei Jahren als Sklaven dienen, um ihnen ihre Kosten zu erstatten, plus einen kleinen Gewinn für ihre Bemühungen.«

»Man hat uns als Sklaven verkauft?«

»Sieht ganz so aus. Aber nur für ein paar Jahre. Eigentlich ziemlich großzügig von ihnen, wenn man bedenkt, was die Nangtong mit uns vorhatten.«

»Vielleicht können wir uns freikaufen?«

»Für die Si Doak ist dies eine an die Person gebundene Schuld, die nur durch den persönlichen Dienst als Sklave beglichen werden kann. In ihren Augen haben sie uns das Leben zurückgegeben, also müssen wir einen Teil dieses Lebens dazu verwenden, ihnen unsere Dankbarkeit zu zeigen. Und hinter ihnen sauberzumachen.«

»Saubermachen? Sollen wir etwa Fußböden schrubben, um unsere Schuld zu tilgen?«

»Vermutlich wollen sie, daß wir kochen, Lasten herumschleppen, säen, uns um die Tiere kümmern und so weiter.«

Wie um zu bestätigen, was Zedd ihr gerade erklärt hatte, gingen die Si Doak daran, die Riemen zu lösen, mit denen ihre Wasserschläuche an ihren Köpfen befestigt waren, und reichten diese Ann und Zedd.

»Was soll das?« fragte Ann ihn.

Zedd zog eine Braue hoch. »Sie wollen, daß wir ihr Wasser tragen.«

Drei weitere der Si Doak kamen mit den restlichen Decken, teilten sie auf und gaben sie ihren neuen Trägern.

»Willst du mir etwa erzählen«, knurrte Ann, »der Oberste Zauberer der Midlands und die Prälatin der Schwestern des Lichts seien für den Preis von ein paar Decken und zwei Ziegen in die Sklaverei verkauft worden?«

Von hinten angestoßen, taumelte Zedd hinter den aufbrechenden Si Doak her.

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte er über seine Schulter. »Zum ersten Mal, soweit ich weiß, haben die Si Doak draufgezahlt.«

Er stolperte und ließ die Hälfte seiner aus Wasserschläuchen bestehenden Ladung fallen. Als er das Gleichgewicht wiederfand, trat er auf einen drauf, der in einem dornigen Beerenstrauch hängengeblieben war. Während er sich bückte, um die Schläuche aufzuheben, kippte der Stapel Decken in die schlammige Pfütze, die ein geplatzter Wasserschlauch hinterlassen hatte. Er stemmte ein Knie auf die Erde, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, und sammelte die herumliegenden Schläuche ein. Dabei zerdrückte er mit dem Knie die Beeren unter der Decke.

»Hoppla.« Er winkte den Si Doak entschuldigend zu. »Tut mir leid.«

Die Si Doak sprangen aufgeregt umher und verlangten, er solle alles augenblicklich aufheben. Der Mann, dessen Wasserschlauch von einem Dornenbusch aufgerissen worden war, zeigte verärgert auf sein beschädigtes Eigentum und forderte wild schnatternd Schadenersatz.

»Ich habe gesagt, es tut mir leid«, protestierte Zedd, obwohl er ihn nicht verstand. Er bückte sich, um die nassen Decken aufzuheben. Eine hielt er in die Höhe, breitete sie zwischen seinen Armen auseinander und untersuchte sie.

»Du meine Güte. Sieh dir das an. Den Flecken kriegen wir nie wieder raus.«

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