»Der Ritt war anstrengend, Lord Rahl«, befand Berdine. »Ich denke, Ihr müßt Euch ausruhen. Wir sollten umkehren. Damit Ihr Euch ausruhen könnt, meine ich.«
Die massive Umwallung, die im weichen Licht der untergehenden Sonne lag, breitete sich vor den dreien wie eine breite Straße aus. Er wollte die Burg der Zauberer vor dem Dunkelwerden wieder verlassen haben. Nicht, daß das Tageslicht ihn vor gefährlicher Magie bewahrt hätte, aber irgendwie war ihm nach Einbruch der Dunkelheit in der Burg noch unheimlicher.
Raina beugte sich vor, um etwas zu sagen. »Das war deine Idee, Berdine.«
»Meine Idee? Ich habe dergleichen niemals vorgeschlagen!«
»Seid still, alle beide«, knurrte Richard.
Er dachte über das Gefühl der Magie nach, die seine Haut jucken ließ. Sie hatten ungefähr die halbe Strecke bis zur Privatenklave des Obersten Zauberers über die lange Umwallung zurückgelegt, als die deutlich spürbare, leichte Berührung der Magie auf seiner Haut zu kribbeln begann. Die beiden Mord-Sith hatten augenblicklich angehalten.
Kahlan hatte ihm von diesem Ort, der Privatenklave des Obersten Zauberers, erzählt. Sie sei früher hier auf die Mauer gestiegen, weil man von hier einen wundervollen Blick auf Aydindril hatte. Und tatsächlich, den hatte man, aber es gab hier auch die Magie mächtiger Schilde. Diese hielten jeden Eindringling von diesem kleinen Winkel der Burg der Zauberer fern.
Kahlan hatte ihm berichtet, während ihres ganzen Lebens habe kein einziger Zauberer die Kraft besessen, diese Schilde zu passieren. Viele hatten es versucht, waren aber gescheitert. Die Zauberer, die in der Burg wohnten und arbeiteten, als Kahlan heranwuchs, besaßen einfach nicht die nötige Magie, um diesen Teil zu betreten. Zedd war der Oberste Zauberer, und seit jener Zeit vor Kahlans und Richards Geburt, als er die Midlands verlassen hatte, hatte kein Mensch die Enklave des Obersten Zauberers mehr betreten.
Kahlan hatte gemeint, diese Schilde sonderten um so mehr Energie ab, je näher man ihnen komme, bis einem die Haare zu Berge stünden und man kaum noch atmen könne. Sie hatte hinzugefügt, wenn man selbst nicht genug Magie besäße, mochte es bereits tödlich wirken, den Schilden überhaupt nur zu nahe zu kommen. Richard hatte nicht die Absicht, ihre Warnungen in den Wind zu schlagen, dennoch mußte er unbedingt dort hinein.
Kahlan hatte weiterhin erklärt, man müsse seine Hand auf das kalte Metall neben der Tür legen, wozu kein ihr bekannter Zauberer je imstande gewesen sei. Richard war im Palast der Propheten auf ähnliche Schilde gestoßen, die man durch Berühren einer Metallplatte passieren konnte; soweit er wußte, war keines davon in der Lage gewesen, jemanden zu töten. Er hatte diese Schilde und auch andere in der Burg der Zauberer passieren können, für die eine Magie erforderlich war, die nur er besaß, also schloß er daraus, er sollte ebenfalls in der Lage sein, diesen zu passieren. Er mußte dort hinein.
Berdine rieb sich, durch das Kribbeln der Magie beunruhigt, die Arme. »Seid Ihr auch ganz bestimmt nicht müde? Ihr seid den ganzen langen Weg geritten.«
»So hart war der Ritt auch wieder nicht«, erwiderte Richard. »Ich bin nicht müde.«
Er war zu besorgt, um Rast zu machen. Denn er hatte geglaubt, Kahlan sei längst zurück. Ja, er war sicher gewesen, sie bei seiner Rückkehr von Berg Kymermosst zu Hause anzutreffen. Sie hätte längst zurück sein sollen.
Doch das war sie nicht.
Er würde nur bis zum Morgen warten.
»Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten es nicht wagen«, maulte Berdine. »Wie geht es Eurem Fuß? Ihr solltet gar nicht auf den Beinen sein.«
Endlich sah Richard sie an. Sie drängte sich an seine linke Seite. Raina drängte sich an seine rechte. Beide hatten ihren Strafer in der Hand.
»Meinem Fuß geht es sehr gut, danke.« Er bewegte seinen Körper hin und her, um sie zu zwingen, ein wenig von ihm abzurücken, damit er ein wenig Platz zum Atmen bekam. »Ich brauche nur eine von Euch. Es bedeutet keinen Gesichtsverlust, wenn Ihr hierbleiben wollt. Raina kann mich begleiten, wenn Ihr nicht wollt.«
Berdine blickte ihn finster an. »Ich habe nicht gesagt, ich komme nicht mit. Ich sagte, Ihr solltet das nicht tun.«
»Ich muß. Es war nirgendwo anders. Also kann es nur hier sein. Wie ich hörte, wurden wichtige Dinge, Dinge, die nicht für jeden bestimmt waren, in der Enklave des Obersten Zauberers aufbewahrt.«
Berdine rollte mit den Schultern, um die Verspannung in ihren Muskeln zu lockern. »Wenn Ihr unbedingt hineinwollt, begleite ich Euch. Ich lasse Euch nicht alleine dort hineingehen.«
»Raina?« fragte er. »Ich brauche Euch nicht beide. Wollt Ihr hier warten?«
Als Antwort warf ihm Raina einen düsteren Mord-Sith-Blick zu.
»Also schön. Und jetzt hört zu. Ich weiß, alle Schilde hier sind gefährlich, aber mehr auch nicht. Möglicherweise unterscheiden sie sich von denen, durch die ich Euch bereits geführt habe.
Ich muß die Metallplatte dort drüben an der Wand berühren. Ihr wartet hier, während ich nachsehe, ob ich die richtige Magie besitze, um die Tür zu öffnen. Wenn sie aufgeht, kommt Ihr beide nach.«
»Das ist doch kein Trick, oder?« fragte Raina. »Ihr habt uns schon einmal reingelegt, damit wir draußen bleiben, weil Ihr verhindern wolltet, daß wir irgendwo hingehen, wo es Gefahren gibt. Mord-Sith fürchten sich vor nichts.«
Der Wind fuhr unter sein goldenes Cape. »Nein, das ist kein Trick, Raina. Die Angelegenheit ist wichtig, aber ich möchte nicht, daß ihr beide Euer Leben unnötig aufs Spiel setzt. Wenn ich die Tür öffnen kann, dann verspreche ich, nehme ich Euch beide mit. Zufrieden?«
Die beiden Frauen nickten. Richard drückte jeder von ihnen anerkennend die Schulter. Gedankenversunken zog er die Metallreifen an seinem Handgelenk zurecht, während er zu dem hochaufragenden Bollwerk hinüberstarrte, das sie am Ende der Mauer erwartete.
Ein kalter Wind schlug ihm entgegen, als er sich auf den Weg machte. Er spürte den Druck des Schildes wie das Gewicht von Wasser, wenn man auf den Grund eines Teiches taucht. Während er weiterging, stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf. Der Druck machte es schwierig, aber nicht unmöglich, Luft zu holen, genau wie Kahlan es beschrieben hatte.
Sechs gewaltige Säulen aus buntgemasertem Gestein standen zu beiden Seiten der mit Gold verkleideten Tür und stützten ein vorspringendes Gebälk aus dunklem Stein. Der Hauptbalken war mit Schmuckplatten aus Messing verziert. Im Näherkommen erkannte Richard einige derselben Symbole wieder, die er auf seinen Armbändern, am Gürtel und auf den Nieten seiner Stiefel trug. Das Fries enthielt runde Scheiben aus Metall mit anderen, eher kreisförmigen Symbolen. Die gradlinigeren Zeichen, die er am Körper trug, waren ebenfalls in den Stein des Gesimses gemeißelt.
Es beruhigte ihn, Symbole zu sehen, die er kannte, auch wenn ihm ihre Bedeutung nicht vertraut war. Er trug diese Dinge, weil er dazu gezwungen war, aus Pflichtbewußtsein und weil er ein Recht darauf hatte – er wußte, daß er dazu geboren war. Nur nicht, warum. Selbst wenn er es sich anders gewünscht hätte, so war es nun einmal. Er war ein Kriegszauberer.
Abgelenkt durch den unangenehmen Druck und das Kribbeln der Schilde, hatte er die Tür erreicht, bevor er sich dessen richtig bewußt wurde. Sie war wenigstens zwölf Fuß hoch und gute vier Fuß breit, mit Gold beschlagen und mit den gleichen symbolischen Motiven verziert.
In der Mitte befand sich ein Relief mit einem der auffälligeren Zeichen, die er am Körper trug: zwei grobe Dreiecke, umgeben und durchzogen von einer doppelten Wellenlinie. Richard legte seine linke Hand auf das Heft des Schwertes, während er das Symbol mit seiner anderen Hand betastete und seinen ovalen, gewellten Außenrand nachzeichnete.
Als er es berührte, es nachzeichnete, seinen Konturen folgte, begriff er. Die Seelen, die vor ihm das Schwert der Wahrheit benutzt hatten, gaben ihr Wissen an ihn weiter, wenn er die Klinge benutzte, allerdings übermittelten sie dieses Wissen nicht immer in Worten. In der Hitze des Gefechtes war dafür oft keine Zeit.
Manchmal erreichte es ihn in Gestalt von Symbolen: diesen Symbolen.
Dies eine hier auf der Tür, wie auch die auf seinen Armbändern, stand für eine Art Tanz, den man im Kampf gegen eine große Überzahl benutzte. Es vermittelte einem die Bewegungen des Tanzes, Bewegungen ohne Form.
Des Tanzes mit dem Tod.
Das ergab Sinn. Schließlich trug er die Kleider eines Kriegszauberers. Aus Kolos Tagebuch hatte Richard erfahren, der Oberste Zauberer zu Kolos Zeiten mit dem Namen Baraccus sei ebenfalls ein Kriegszauberer gewesen, genau wie er selbst. Für einen solchen ergaben diese Symbole einen Sinn. So wie ein Schneider eine Schere auf seine Fensterscheiben malte, auf dem Schild eines Gasthauses ein Krug zu sehen war, ein Schmied ein Hufeisen annagelte oder ein Waffenmacher Messer auslegte, waren diese Symbole die Zeichen seines Handwerks: das Bringen des Todes.
Richard merkte, daß die Angst von ihm abgefallen war. Er stand in der Burg der Zauberer, wo zuvor seine Nerven stets bis aufs äußerste gespannt gewesen waren, und schlimmer noch, er stand jetzt vor dem am besten gesicherten und abgesperrten Ort in der Burg, und doch fühlte er sich innerlich ruhig.
Er berührte das Sonnenaufgangssymbol auf der Tür. Dieses Zeichen stellte eine Warnung dar.
Bewahre dir einen alles erfassenden Blick, lasse niemals zu, daß er sich auf ein einzelnes Ding beschränkt. Das war die Bedeutung des Sonnenaufgangs: Schau überall gleichzeitig hin, betrachte nichts ausschließlich für sich allein, und lasse nicht zu, daß der Feind deinen Blick lenkt, sonst siehst du nur, was er will. Wenn dann deine Verwirrung einsetzt, wird er dich angreifen und seine Chance suchen, und du wirst unterliegen.
Statt dessen muß dein Blick offen sein für alles, was ist, darf nie zur Ruhe kommen, nicht einmal beim Schnitt. Erkenne die Schachzüge deines Feindes instinktiv, warte nicht ab, bis du sie mit den Augen siehst. Mit dem Tod zu tanzen hieß, das Schwert des Feindes und seine Schnelligkeit zu kennen, ohne abzuwarten, bis man sie sah. Mit dem Tod zu tanzen hieß, eins mit dem Feind zu sein, ohne den Blick auf ihn zu heften, um ihn töten zu können. Mit dem Tod zu tanzen bedeutete, daß man die Inkarnation des Todes war, der kam, die Lebenden niederzumähen.
Berdines Stimme wehte über die Mauer zu ihm herüber. »Lord Rahl?«
Richard sah über seine Schulter. »Was ist? Stimmt etwas nicht?«
Berdine verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. »Geht es Euch gut? Ihr habt so lange dort gestanden und die Tür angestarrt. Ist alles in Ordnung?«
Richard wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Ja, es geht mir ausgezeichnet. Ich habe nur … ich habe mir nur alles angesehen, was auf der Tür steht, sonst nichts.«
Er drehte sich um und schlug seine Hand, ohne nachzudenken, auf die Metallplatte in der polierten grauen Marmorwand. Kahlan hatte ihm erzählt, wenn man dieses Metall berührte, war es angeblich so, als berühre man das kalte tote Herz des Hüters selbst.
Die Metallplatte wurde warm. Die goldene Tür schwenkte geräuschlos nach innen auf.
Von dahinter drang schwaches Licht heraus. Richard machte einen vorsichtigen Schritt in die Türöffnung. Wie beim Docht einer Lampe, den man langsam hochdreht, wurde das schwache Licht heller. Er tat einen weiteren Schritt, und das Licht leuchtete noch stärker.
Er ließ den Blick über die Innenseite wandern und winkte die beiden wartenden Mord-Sith heran. Welche Magie die Menschen zuvor auch daran gehindert haben mochte, sich zu nähern, jetzt war sie offenbar aufgehoben worden. Berdine und Raina konnten ihm problemlos folgen.
»Das war gar nicht so schlimm«, meinte Raina. »Ich habe nichts gespürt.«
»So weit, so gut«, gab Richard zurück.
Drinnen, oben auf Postamenten aus grünem Marmor, gab es rechts und links von ihm an der Wand angebrachte Glaskugeln, ungefähr eine Handbreit im Durchmesser. Ähnliche Glaskugeln hatte Richard bereits in den unteren Gefilden der Burg gesehen. Wie jene spendeten sie Licht.
Das Innere der Enklave des Obersten Zauberers war ein gewaltiger höhlenähnlicher Raum, der mit Steinmetzarbeiten verziert war. Vier Säulen aus poliertem Marmor, wenigstens zehn Fuß im Durchmesser, bildeten ein Quadrat, das Rundbögen stützte, die gleich hinter dem äußeren Rand einer zentralen, oben mit einem Ring aus Fenstern versehenen Kuppel standen. Zwischen jedem Säulenpaar gelangte man von dem gewaltigen Geviert in der Mitte aus in einen Gebäudeflügel. Ihm fiel auf, daß die Steinmetzarbeiten meist das Palmblattmuster wiederholten, das die goldenen Kapitelle der schwarzen Marmorsäulen schmückte. Die Marmorsäulen waren so glatt geschliffen, daß sie Bilder zurückwarfen, als seien sie aus Glas.
Fein gearbeitete Leuchter aus geschmiedetem Metall enthielten Kerzen. In fließendem Schwung geschmiedetes Eisen bildete Geländer am Rand des weitläufigen, tiefer liegenden Bodens in der Mitte.
Das war nicht das finstere Loch, das Richard erwartet hatte. Dies war ein Ort von großer Pracht, der es mit jedem aufnehmen konnte, den er je gesehen hatte. Dieser Raum war wundervoll und erfüllte ihn mit Ehrfurcht.
Der Flügel, in dem die drei standen, die Eingangshalle, schien der bei weitem kleinste der vier zu sein. Sechs Fuß hohe weiße Marmorpostamente zogen sich in langen Doppelreihen entlang eines langen roten Teppichs auf golddurchsetztem dunkelbraunem Marmor.
Die Arme um eines der Postamente gelegt, hätte Richard seine eigenen Fingerspitzen nicht berühren können. Das gerippte Faßgewölbe der Decke dreißig Fuß über ihren Köpfen ließ die mächtigen Postamente winzig erscheinen.
Auf einigen befanden sich Gegenstände, die Richard wiedererkannte: verzierte Messer, in Broschen oder am Ende von vergoldeten Ketten eingesetzte Edelsteine, ein silberner Kelch, mit Filigran verzierte Schalen und fein gearbeitete Kästchen. Vieles davon lag auf rechteckigen Deckchen mit Gold- oder Silberstickereien am Rand, andere auf Ständern, die aus einem Holz geschnitzt waren, aus dem man die Astlöcher entfernt hatte.
Auf anderen befanden sich verzogene, entstellte Gegenstände, deren Sinn er nicht begriff. Er hätte geschworen, daß sie ihre Form veränderten, sobald er sie betrachtete. Er entschied, es wäre das beste, die magischen Gegenstände nicht direkt anzusehen, und warnte die beiden anderen.
Der Flügel gegenüber, jenseits des zentralen Gevierts unter der gewaltigen Kuppel, endete an einem Rundbogenfenster, das wenigstens dreißig Fuß hoch sein mußte. Vor dem Fenster stand ein riesiger Tisch, auf dem ein Durcheinander aus Gegenständen lag: Glasgefäße, Schalen und spiralförmige Glasröhren, ein massiver, aber schlichter Kandelaber aus Eisen, der mit einer uralten Wachsschicht überzogen war, Stapel von Schriftrollen, mehrere menschliche Schädel und ein Wust aus kleineren Dingen, die Richard aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte. Der Fußboden rings um den Tisch war mit einem ebensolchen Durcheinander übersät, dazu kamen die Gegenstände, die man übereinander gestapelt oder an den Tisch gelehnt hatte.
Der Flügel rechts lag im Dunkeln. Richard war es unangenehm, auch nur in diese Richtung zu blicken. Er beherzigte die Warnung und wandte sich nach links. Dort entdeckte er Bücher. Tausende von Büchern.
»Na also«, sagte Richard und deutete nach links. »Deswegen sind wir hergekommen. Denkt daran, was ich Euch gesagt habe. Faßt nichts an.« Er blickte kurz zu den beiden hinüber, die sich staunend mit großen Augen umsahen. »Ich meine es ernst. Ich weiß nicht, wie ich Euch retten soll, wenn Ihr hier Schwierigkeiten bekommt, weil Ihr etwas angefaßt habt.«
Die beiden Augenpaare erwiderten seinen Blick.
»Wir sind nicht so dumm, Magie herauszufordern«, sagte Raina. »Wir sehen uns nur um, das ist alles. Wir fassen bestimmt nichts an.«
»Gut. Aber ich schlage vor, daß Ihr nicht einmal etwas anseht, außer den Dingen, bei denen es unbedingt notwendig ist. Soweit ich weiß, könnte alleine das Anschauen eines Gegenstandes hier seine Magie hervorrufen.«
»Meint Ihr wirklich?« fragte Raina erstaunt.
»Was ich meine, ist: Ich möchte das nicht erst herausfinden, wenn es zu spät ist. Kommt jetzt. Bringen wir es hinter uns, damit wir wieder von hier verschwinden können.«
Seltsamerweise, und obwohl er die Worte eben erst ausgesprochen hatte und sie durchaus sinnvoll schienen, war ihm gar nicht nach Gehen zumute. So potentiell gefährlich dieser Ort seines Wissens auch war, er ertappte sich dabei, daß ihm die Enklave des Obersten Zauberers gefiel.
Berdine feixte. »Lord Rahl fürchtet sich genauso vor Magie wie wir.«
»Da täuscht Ihr Euch, Berdine. Ich kenne mich ein wenig damit aus.« Er blickte am roten Teppich entlang. »Ich fürchte mich davor mehr als Ihr.«
Zehn breite Stufen am Ende führten hinunter in das zentrale Geviert. Eine weite Fläche aus cremefarbenem Marmor bedeckte den Boden. Eine Begrenzung aus dunklerem Marmor lief in der Nähe des Randes um die Bodenfläche herum. Als Richard die unterste Stufe erreichte und sein Fuß den Boden berührte, summte dieser und begann zu leuchten. Rasch zog er sich auf den roten Teppich zurück. Das Leuchten erlosch.
»Was jetzt?« fragte Raina.
Er löste ihre Finger von seinem Arm. »Hat eine von Euch ihren Fuß auf diesen Boden gesetzt?« Die beiden schüttelten den Kopf. »Dann versucht es.«
Während Richard auf der Stufe wartete, unterzog Berdine den Fußboden einem behutsamen Test. Sie nahm ihren Fuß zurück.
»Es geht nicht. Irgend etwas hält mich zurück, bevor ich den Boden berühren kann.«
Richard trat erneut auf die Marmorfläche. Wie zuvor leuchtete und summte sie.
»Dann muß es sich um einen Schild handeln. Hier, nehmt meine Hand und versucht es noch einmal.«
Richards Hand haltend, gelang es Berdine, mit ihm zusammen die Marmorfläche zu betreten. Raina ergriff seine andere Hand und tat es ihnen nach.
»Also gut«, meinte er. »Da es sich um eine Art Schild handelt, laßt meine Hand nicht los, solange wir auf diesem Teil stehen. Wir wissen nicht, was andernfalls geschieht. Nach allem, was ich weiß, könntet Ihr geröstet werden wie Speck in der Pfanne, wenn Ihr loslaßt.«
Sie faßten fester zu. Als sie die Stufen betraten, die zum Flügel mit den Büchern hinaufführten, verstummte der Fußboden. Ohne Richard, der sie auf dem Weg nach draußen bei den Händen nahm, säßen sie in diesem Palast in der Falle und wären nicht in der Lage, durch das zentrale Geviert zurückzukehren.
Der Flügel mit den Büchern war nicht die Art Bibliothek, die er erwartet hatte. Es gab reihenweise Regale, sie befanden sich jedoch in einem vernachlässigten Zustand. Völlig beliebig lagen die Bücher übereinander gestapelt. Gesteinsbrocken dienten als Stützen für die wenigen, die in dem Chaos aufrecht standen.
Da und dort waren sie zu Bergen aufgeschichtet, als habe sie jemand aus den Regalen gezogen und sie einfach auf einen Haufen geworfen. Die meisten waren zugeklappt, eine beträchtliche Anzahl jedoch lag offen da, manche mit dem Gesicht nach oben, manche mit dem Gesicht nach unten. Aber das war nicht die größte Überraschung.
Überall, so schien es, hatte man Bücher auf dem Fußboden zu Stapeln aufgetürmt. Einige der Stapel waren klein, vielleicht drei oder vier Fuß hoch, sehr viel mehr jedoch bildeten hohe Büchersäulen. Einige der unregelmäßigen Stapel ragten zwölf oder vierzehn Fuß in die Höhe. Sie sahen aus, als brauchte man nur Luft zu holen, um sie zum Einsturz zu bringen. Die Büchersäulen standen überall und bildeten eine Art Irrgarten. Richard konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wieso man die Bücher so unordentlich aufgetürmt hatte, und das Ganze erschien ihm so rätselhaft, daß ihm der Schweiß ausbrach.
Richard faßte die beiden Frauen am Arm. »Mein Großvater hat mir erzählt, es gebe Bücher in der Burg der Zauberer, die äußerst gefährlich sind. Kahlan hat mir erzählt, die bedrohlichsten Dinge würden hier drinnen aufbewahrt, wo niemand an sie herankommt, nicht einmal die ihr bekannten Zauberer.«
Berdine sah ihn an. »Soll das heißen, Ihr glaubt, die Bücher selbst könnten gefährlich sein? Nicht bloß das Wissen in ihnen, sondern tatsächlich das Papier selbst?«
Richard mußte an die Beschreibung jenes Buches denken, das Schwester Amelia benutzt hatte, um die Pest auszulösen. »Ich bin mir nicht sicher, aber wir täten gut daran, sie so zu behandeln. Seht Euch um, aber faßt nichts an.«
Berdine legte die Stirn in Falten und machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich sehe alleine Tausende von Büchern hier herumstehen, Lord Rahl. In den Zwischengängen gibt es bestimmt noch mehr. Wir werden Wochen brauchen, bis wir das Gesuchte gefunden haben – wenn es sich überhaupt hier befindet.«
Richard atmete tief durch. Berdine hatte recht. So viele Bücher hatte er nicht erwartet. Er hatte angenommen, daß die meisten in den Bibliotheken standen und es hier nur einige wenige gäbe.
»Wenn Ihr vor dem Dunkelwerden wieder draußen sein wollt, bleibt uns nicht viel Zeit«, sagte Raina. »Aber ebensogut können wir morgen wiederkommen und ganz früh anfangen.«
Allmählich wurde Richard ein wenig bange angesichts der vor ihnen liegenden Aufgabe. »Dann müssen wir eben bis nach Einbruch der Dunkelheit bleiben. Wenn es sein muß, die ganze Nacht.«
Raina rollte ihren Strafer zwischen den Fingern. »Ganz wie Ihr meint, Lord Rahl.«
Richard verlor den Mut, als er dastand und auf den Wald aus Büchern starrte. Was er benötigte, war Wissen, eine Suche nach einer Nadel im Heuhaufen konnte er nicht gebrauchen. Wenn er nur Magie einsetzen könnte, um diese eine Nadel zu finden.
Untätig rückte er die Bänder an seinem Handgelenk zurecht. Unter seinen Fingern spürte er das Sonnenaufgangssymbol auf einem von ihnen.
Schaue, ohne deinen Blick auf etwas Bestimmtes zu richten.
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Wartet hier. Ich bin gleich wieder da.«
Richard ging zu den Säulen zurück. Er trat an eine heran, auf der eine gesprungene Schale aus Glas auf einem großen Rechteck aus schwarzem Stoff stand.
»Wozu soll das gut sein?« fragte Raina, als er zurückkam und ihnen den Stoff zeigte.
»Es gibt zuviel zu sehen. Ich werde es als Augenbinde benutzen, damit ich nicht all die Dinge sehe, die ich nicht sehen will.«
Berdine zog ein ungläubiges Gesicht. »Wenn Ihr die Augen verbunden habt, wie wollt Ihr dann den Gegenstand finden, den wir suchen?«
»Mit Magie. Ich will versuchen, mich von der Magie leiten zu lassen. Manchmal funktioniert es so – über das Verlangen. All diese Bücher zusammen sind viel zu verwirrend. Wenn ich die Augen verbunden habe, werde ich sie nicht sehen und imstande sein, das eine zu spüren, das ich suche. Hoffe ich wenigstens.«
Rainas Blick wanderte staunend über die Unmenge von Büchern hinweg. »Na ja, Ihr seid Lord Rahl. Ihr besitzt Magie. Wenn eine Chance besteht, uns zu ersparen, die ganze Nacht hier zu verbringen, würde ich sagen, probiert es.«
Richard legte das schwarze Tuch über seine Augen und verknotete die Enden hinter seinem Kopf. »Führt mich einfach nur, und achtet darauf, daß ich nirgendwo anstoße. Und Vergeßt nicht, daß Ihr ebenfalls nichts berühren dürft.«
»Was uns anbetrifft, könnt Ihr ganz unbesorgt sein, Lord Rahl«, erwiderte Raina. »Wir haben nicht die Absicht, hier irgend etwas anzufassen.«
Nachdem er sich die Augen verbunden hatte, drehte Richard seinen Kopf nach rechts und links, um sich zu vergewissern, daß er nichts mehr sehen konnte. Mit einem Finger rieb er über das Sonnenaufgangssymbol auf seinem Armband.
Seine Welt war stockdunkel. Er versuchte den Ort seines inneren Friedens, der inneren Ruhe zu finden, wo seine Gabe beheimatet war.
Wenn die Pest durch Magie aus dem Tempel der Winde gekommen war, dann hatten sie vielleicht eine Chance, sie aufzuhalten. Wenn er nichts unternahm, würden unzählige Tausende Menschen sterben.
Er brauchte dieses Buch.
Er mußte an den Jungen denken, den er hatte sterben sehen. An das kleine Mädchen Lily, das ihm von der Schwester der Finsternis erzählt hatte, die ihm das Buch gezeigt hatte. So hatte die Pest angefangen. Das wußte er.
Dieses nette Kind hatte die Male gehabt. Richard hatte sich nicht danach erkundigt, aber er wußte, daß sie inzwischen nicht mehr lebte. Er ertrug es nicht nachzufragen.
Er brauchte dieses Buch.
Er setzte einen Fuß vor. »Berührt mich vorsichtig mit den Fingern, wenn ich Gefahr laufe, gegen etwas zu stoßen. Versucht kein Wort zu sagen, doch wenn Ihr müßt, habt keine Angst, laut und deutlich zu sprechen.«
Er spürte, wie ihre Finger ihn leicht am Arm berührten, sobald er einen Schritt machte. So lenkten sie ihn und verhinderten, daß er, während er sich immer tiefer in den Irrgarten vorarbeitete, vor die hochaufragenden Büchertürme lief.
Richard wußte nicht, auf welches Gefühl er warten sollte. Er wußte nicht, ob es Magie war, eine Ahnung oder seine Phantasie, die ihn leitete. Die Art, wie er vor und zurück durch die Gänge ging und sich zwischen den Stapeln hindurchschlängelte, ließ ihn befürchten, daß ihm seine Phantasie einen Streich spielte. Er gab sich Mühe, die Dinge zu ignorieren, die seine Gedanken abschweifen ließen.
So versuchte er sich auf das Buch zu konzentrieren und auf sein Bedürfnis, es zu finden.
Er glaubte, sich besser konzentrieren zu können, wenn er an die kranken Kinder dachte. Sie brauchten ihn. Sie waren hilflos.
Richard merkte, wie er mit einem Ruck stehenblieb. Er fragte sich, warum. Er wandte sich nach links, als er dachte, er werde rechts abbiegen müssen. Das mußte die Gabe sein. Dann war das Gefühl verschwunden. Er sammelte abermals seine Konzentration.
Die beiden Mord-Sith griffen beherzt nach seinem Arm, damit er stehenblieb. Er verstand. Noch ein Schritt, und er wäre mit einem Stapel zusammengestoßen.
Er fragte sich noch, in welche Richtung man ihn drehen werde, als er sich dabei ertappte, wie er in die Hocke ging und die Hand ausstreckte.
»Vorsicht«, warnte Berdine leise. »Der Stapel ist hoch und kippelig. Seid vorsichtig, sonst stoßt Ihr ihn um.«
Richard nickte. Er wollte sich nicht dadurch ablenken, daß er mit Worten antwortete. Er richtete alle Aufmerksamkeit darauf, das Ziel seines Verlangens zu erspüren. Es war ganz nahe. Seine Finger streiften ganz leicht über die Bücher, fuhren am Stapel nach unten, berührten manchmal den Rücken und dann wieder die Seiten, wenn sie andersherum lagen.
Auf einem Buchrücken machten seine Finger halt.
»Dieses hier.« Er tippte auf den Ledereinband. »Dies hier. Was steht dort?«
Berdine stützte sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab und beugte sich vor. »Es ist auf Hoch-D'Haran. Irgendwas über den Tempel der Winde – ›Tagenricht ost fuer Mosst Verlaschendreck nich Greschlechten.‹«
»Tempel der Winde – Untersuchung und Verfahren«, übersetzte Richard im Flüsterton. »Das ist es.«