In der Ferne bellte ein Hund, als Richard sie die kopfsteingepflasterte Gasse hinaufführte. Vor einem kleinen Hinterhof hinter dem Haus der Andersons ließ er seine Begleitung haltmachen. Im Hof herrschte immer noch das gleiche Durcheinander aus abgesägten Holzresten, Holzsplittern und -spänen sowie entastetem, roh zugeschnittenem Holz und den zwei Sägeböcken.
Richard hörte weder Stimmen noch den Lärm, der bei der Bearbeitung von Holz entsteht. Er drückte das Tor auf und bahnte sich einen Weg durch das Chaos. In der Werkstatt blieb alles still. Auf sein Klopfen hin regte sich nichts. Richard stieß eine der Doppeltüren auf und rief hinein. Keine Antwort.
»Clive!« rief Richard noch einmal. »Darby! Erling! Ist jemand zu Hause?«
An den Haken der staubigen Wände hingen alte Stühle und Schablonen, und in allen Ecken saßen Spinnweben. Oben roch man anstelle von Fleischpasteten und kochenden Pastinaken den betäubenden Gestank des Todes.
Clive Anderson saß auf einem der Stühle, die er selbst getischlert hatte. Er war tot. In den Armen hielt er den erstarrten Leichnam seiner Frau.
Richard stand wie gelähmt vor diesem Anblick. Er hörte, wie Kahlan hinter ihm ein Schluchzen entfuhr.
Drefan ging hinauf in die Schlafzimmer. Dort sah er sich kurz um und kam kopfschüttelnd zurück.
Richard starrte auf den toten Ehemann und seine Frau. Er versuchte, sich Clives Elend vorzustellen, wie er dort gesessen hatte, pestkrank, und seine Frau, all seine Träume und Hoffnungen, tot in den Armen hielt.
Drefan schob Richard eine Hand unter den Arm und zog ihn fort.
»Wir können hier nichts mehr tun, Richard. Am besten gehen wir und lassen einen Totenkarren kommen.«
Kahlan preßte ihr Gesicht an seine Schulter und weinte. Er sah die bestürzten Gesichter von Berdine und Raina. Er bemerkte, wie ihre Hände sich fanden und ineinander verschlangen – eine verstohlene, traurige Geste. Nadine wandte den Blick von den übrigen ab. Plötzlich tat sie Richard leid. Drefan legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu trösten. Eine quälende Stille hatte sich über den Raum gesenkt.
Richard hielt Kahlan eng an sich gedrückt, während sie die Treppe hinunterstiegen. Die anderen folgten. Als sie die Werkstatt erreichten, schöpfte er endlich wieder Luft. In dem Gestank oben war ihm fast schlecht geworden.
In diesem Augenblick kam Erling, der Großvater, zur Tür herein. Er erschrak, als er sechs Personen in seiner Werkstatt stehen sah.
»Entschuldigt, Erling«, sagte Richard. »Wir hatten nicht die Absicht, in Euer Heim einzudringen. Wir sind gekommen, um nach Euch zu sehen. Um…«
Erling nickte matt. »Mein Sohn ist tot. Hattie auch. Ich mußte … das Haus verlassen. Ich konnte sie nicht alleine tragen.«
»Wir schicken sofort einen Karren her. In der nächsten Straße stehen ein paar Soldaten. Ich werde ihnen sofort sagen, sie sollen Euch helfen.«
Erling nickte abermals. »Das wäre freundlich von Euch.«
»Und … die anderen? Sind sie –«
Erling hob die blutunterlaufenen Augen. »Meine Frau, meine Tochter, mein Sohn, seine Frau, Darby und die kleine Lily – alle tot.« Sein Mund arbeitete, während ihm die Tränen in die Augen traten. »Beth hat sich wieder erholt. Sie ist wieder gesund geworden. Ich konnte mich nicht um sie kümmern. So habe ich sie zunächst einmal zu Hatties Schwester gebracht. Bis jetzt sind in ihrem Haus alle gesund.«
Richard legte behutsam eine Hand auf Erlings Arm. »Es tut mir so leid. Gütige Seelen, es tut mir so leid.«
Erling nickte. »Danke.« Er räusperte sich. »So lange, wie ich lebe, da würde man denken, daß es mich erwischt und nicht die Jungen. Die Seelen waren in dieser Angelegenheit nicht gerecht, alles andere als gerecht.«
»Ich weiß«, sagte Richard. »Jetzt sind sie an einem Ort, wo Frieden herrscht. Früher oder später werden wir alle dorthin gehen. Dann werdet Ihr wieder bei ihnen sein.«
Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß Erling nichts brauchte, blieben sie draußen auf der Gasse kurz stehen, um ihre Gedanken zu ordnen.
»Raina«, sagte Richard, »bitte lauft hinüber in die nächste Straße, wo wir die Soldaten gesehen haben. Holt sie sofort her. Sagt ihnen, sie sollen die Leichen für Erling fortschaffen.«
»In Ordnung«, sagte sie, dann eilte sie davon. Ihr dunkler Zopf wehte ihr beim Laufen hinterher.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte Richard leise. »Was kann man für jemanden tun, der soeben seine ganze Familie verloren hat? Alle, die er geliebt hat? Ich bin mir wie ein Narr vorgekommen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.«
Drefan drückte Richards Schulter. »Du hast das Richtige gesagt, Richard. Ganz bestimmt.«
»Deine Worte waren ein Trost für ihn, Richard«, stimmte auch Nadine zu. »Mehr konntest du nicht tun.«
»Mehr konnte ich nicht tun«, wiederholte Richard, den starren Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
Kahlan drückte seine Hand. Berdines Hand berührte seine. Er ergriff sie. Die drei standen da, verbunden durch ihren gemeinsamen Kummer.
Richard ging auf und ab und wartete, daß Raina zurückkam. Die Sonne war fast untergegangen. Es würde dunkel sein, bevor sie wieder im Palast waren. Das mindeste, was sie tun konnten, war zu warten, bis Erling jemanden hatte, der ihm half, seinen toten Sohn und seine Schwiegertochter aus dem Haus zu schaffen.
Kahlan und Berdine standen nebeneinander, an die Mauer neben dem Hinterhof der Andersons gelehnt. Drefan hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schlenderte scheinbar gedankenverloren ein Stück die Gasse zurück. Nadine ging auf die andere Seite der Straße, alleine, und lehnte sich an die Schindelwand.
Richard lief auf und ab und dachte an den Tempel der Winde und die Magie, die Jagangs Imperiale Ordnung daraus gestohlen hatte. Richard wußte einfach keinen Weg, wie er diesem Sterben ein Ende setzen konnte. Sobald er daran dachte, wie Tristan Bashkar Kahlan angesehen hatte, geriet sein Blut in Wallung.
Richard hielt inne. Er hob den Kopf. Hinter ihm stand Nadine. Er hatte ein äußerst eigenartiges Gefühl.
Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.
Richard hörte das Sirren in der Luft und wirbelte herum.
Die Welt verlangsamte sich. Geräusche dehnten sich. Er schien zu schweben, wenn er sich bewegte. Die Luft schien zäh wie Schlamm. In seinen Augen wirkten alle wie Statuen.
Die Zeit gehörte ihm.
Sein Arm streckte sich, während er nach vorne schwebte. Er gebot über die Zähflüssigkeit der Luft. In der unheimlichen Stille hörte er die Federn schwirren. Er hörte das Sirren der Pfeilspitze.
Die Zeit gehörte ihm.
Nadines erschrockenes Blinzeln dauerte eine Ewigkeit.
Er schloß seine Faust.
Mit einem schmetternden Geräusch stürzte die Welt wieder auf ihn ein.
Richard hielt den Bolzen einer Armbrust in der Hand.
Die Spitze war keine drei Zoll von Nadines aufgerissenen Augen entfernt.
Den Bruchteil einer Sekunde später, und sie hätte Nadine getötet. Dieser Sekundenbruchteil war ihm wie eine Stunde erschienen.
»Richard«, keuchte Nadine atemlos, »wie hast du den Pfeil gefangen? Du bist dir hoffentlich im klaren, daß du mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hast. Nicht, daß ich mich beschweren möchte«, fügte sie noch rasch hinzu.
Drefan war im Nu bei ihnen. Sein Kiefer hing schlaff herunter. »Wie hast du das gemacht?« fragte er tonlos.
»Ich bin ein Zauberer, schon vergessen?« sagte Richard, drehte sich um und spähte in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Er glaubte eine Bewegung zu erkennen.
Kahlan trat zu Nadine, die wie Espenlaub zitterte. »Alles in Ordnung?«
Nadine nickte und stieß einen verspäteten Schreckensschrei aus, als Kahlan sie tröstend in die Arme zog.
Richards Augen hefteten sich auf die Bewegung, während er den Pfeil in der Hand zerbrach. Er rannte los. Berdine lief ihm hinterher.
Richard drehte sich im Laufen um. »Sucht ein paar Soldaten zusammen! Das ganze Viertel soll abgesperrt werden! Ich will, daß er gefaßt wird!«
Berdine bog in eine Straße ein und suchte nach Soldaten. Richard rannte schnell wie der Wind bei einem Unwetter. Eine Woge von Wut brodelte in ihm auf. Jemand hatte versucht, Nadine umzubringen.
In diesem Augenblick war Nadine nicht die Frau, die Shota geschickt hatte, damit sie ihn heiratete, sie war einfach die alte Freundin aus der Heimat. Der Zorn der Magie packte ihn mit seiner ganzen Wucht.
Gebäude flogen vorbei. Hunde kläfften, als er vorüberrannte. Menschen in der Gasse schrien erschrocken auf und brachten sich mit einem Sprung in Sicherheit. Eine Frau duckte sich kreischend an ein kleines, windschiefes Lagerhaus.
An der Stelle, wo er die Bewegung bemerkt hatte, setzte Richard über einen niedrigen Bretterzaun hinweg. Mitten im Sprung zog er sein Schwert. Die Luft hallte wider vom unverwechselbaren Klirren des Stahls.
Bei der Landung rollte er ab und kam mit dem Schwert in beiden Händen wieder auf die Beine. Er sah sich Auge in Auge einer Ziege gegenüber. Sonst war niemand zu sehen. Auf der Erde, zwischen Bretterzaun und niedrigem Ziegenstall, lag eine Armbrust.
Er sah sich nach allen Seiten um. Wäscheleinen hingen voller Laken und Hemden. Auf einem Balkon jenseits der flatternden Wäsche stand, ein blaues Tuch ums Haar gewickelt, eine Frau.
Richard ließ das Schwert in die Scheide zurückgleiten und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Habt Ihr hier einen Mann gesehen?« brüllte er zu der Frau hinauf.
Sie deutete nach rechts. »Ich habe gesehen, wie jemand dort entlang gerannt ist«, rief sie ihm von weitem zu.
Richard lief in die Richtung los, die die Frau ihm angedeutet hatte. Die Gasse wurde enger. Hinter dem Tunnel aus Gebäuden öffnete sich die Gasse auf eine Straße. Er schaute in beide Richtungen.
Er packte eine junge Frau am Arm. »Hier ist eben ein Mann durchgelaufen. In welche Richtung ist er gerannt?«
Verängstigt versuchte sie, sich loszureißen und gleichzeitig mit ihrer anderen Hand den Hut auf ihrem Kopf festzuhalten. »Hier sind überall Menschen. Was denn für ein Mann?«
Richard ließ ihren Arm los. Von ihm aus gesehen links die Straße hoch sah er, wie ein Mann damit beschäftigt war, einen umgestürzten Handkarren mit frischem Gemüse wieder aufzurichten. Der Mann blickte auf, als Richard keuchend aus vollem Lauf vor ihm stehenblieb.
»Wie sah er aus? Der Mann, der hier durchgerannt ist – wie sah er aus?«
Der Mann schob seinen breitkrempigen Hut zurecht. »Keine Ahnung.« Er streckte den Arm aus. »Ich war gerade auf der Suche nach einem guten Standplatz. Ich hörte, wie mein Karren umfiel. Dann bemerkte ich einen dunklen Schatten, der dort hinauf lief.«
Richard rannte weiter. Der alte Stadtkern verzweigte sich zu einem Gewirr aus Gassen, Straßen und verschlungenen Durchgängen. Er konnte sich nur am goldenen Glanz über dem westlichen Himmel orientieren. Das bedeutete allerdings nicht, daß der Mann, den er verfolgte, ein bestimmtes Ziel hatte. Wahrscheinlich lief er einfach drauflos und suchte sein Heil in der Flucht.
Richard stieß auf eine Patrouille aus einem Dutzend Soldaten. Bevor sie salutieren konnten, hatte er schon zu sprechen angefangen.
»Irgendwo hier ist ein Mann vorbeigerannt. Hat ihn einer von euch bemerkt?«
»Wir haben niemanden gesehen. Könnt Ihr ihn uns beschreiben?«
»Nein. Er hat uns mit einer Armbrust überfallen und ist dann geflohen. Ich will, daß er gefaßt wird. Schwärmt aus und macht euch auf die Suche.«
Bevor sie aufbrechen konnten, kam Raina mit gut fünfzig Mann die Straße hinaufgestürmt.
»Habt Ihr gesehen, wo er hingelaufen ist?« fragte sie, völlig außer Atem.
»Nein. Ich habe ihn irgendwo dort drinnen verloren. Ich möchte, daß ihr alle ausschwärmt und ihn findet.«
Einer der Soldaten, ein Unterkommandant, meldete sich zu Wort. »Lord Rahl, ein Mann, der fliehen will, würde sich nur verdächtig machen, wenn er rennt. Wenn er nur einen Funken Verstand hat, biegt er einfach um eine Ecke und geht gemächlich weiter.«
Der Unterkommandant deutete nach hinten, die Straße hinauf, um sein Argument zu unterstreichen. Überall gingen Menschen ihren Geschäften nach, wenn auch eine ganze Menge zu der aufgeregten Szene herüberstarrte. Jeder von ihnen hätte der Mann sein können, dem er nachjagte.
»Irgendeine Idee, wie dieser Meuchelmörder ausgesehen hat?«
Richard schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich habe ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.« Er strich sich durchs Haar und holte tief Luft. »Teilt euch auf. Die Hälfte von euch geht zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Befragt jeden, den ihr findet, und stellt fest, ob jemand ihn gesehen hat – einen Mann, der flieht. Möglicherweise geht er jetzt langsam, aber vorhin ist er gerannt.«
Raina, den Strafer in der Hand, nahm ihre Position an seiner Seite ein.
»Der Rest von euch bleibt bei mir«, sagte Richard. »Wir werden noch mehr Männer zusammentrommeln. Ich werde weitersuchen. Vielleicht läuft uns jemand über den Weg, der langsam geht, in Panik gerät und versucht zu fliehen. Wenn das jemand tut, will ich ihn haben. Lebend.«
Es war spät in der Nacht, als sie in den Palast der Konfessoren zurückkehrten. Die Soldaten dort waren bereits in erhöhter Alarmbereitschaft. Die Männer hatten ihre Schwerter und Streitäxte griffbereit, die Pfeile eingelegt, die Speere ausgerichtet. Andere patrouillierten auf dem weiten Palastgelände. Ihren stechenden, prüfenden Blicken wäre nicht einmal eine Maus entgangen.
Als Kahlan, Berdine, Raina, Drefan und Nadine Richard in den Versammlungssaal begleiteten, erblickte er dort Tristan Bashkar, der, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wartend auf und ab ging. Er hörte sie kommen, blieb stehen und hob den Kopf.
Richard blieb gemächlich stehen, während der Botschafter, der sich reumütig gab, auf sie zukam. Richards Begleitung sammelte sich, bis auf Kahlan, die gleich neben ihm stand, zu einer kleinen Gruppe hinter ihm. Tristan begrüßte sie lautstark mit erhobener Hand.
»Lord Rahl, könnte ich bitte ein paar Worte mit Euch sprechen?«
Richard musterte den Mann von Kopf bis Fuß und bemerkte, daß er seine Hand nicht auf eine Hüfte stützte, um die Aufmerksamkeit auf sein prunkvoll verziertes Messer zu lenken.
Richard hob einen Finger. »Augenblick bitte.«
Er drehte sich ein Stück weit zu den anderen um. »Es ist spät. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns, ich möchte also, daß Ihr Euch ein wenig ausruht. Berdine, reitet bitte zur Burg hinauf, und haltet heute nacht zusammen mit Cara Wache.«
Berdine runzelte die Stirn. »Wir beide?«
Richard runzelte verärgert die Stirn. »Habe ich das nicht gerade gesagt? Ja, ihr beide. Angesichts des ganzen Ärgers möchte ich kein Risiko eingehen.«
»Dann werde ich die Gemächer der Mutter Konfessor bewachen«, sagte Raina.
»Nein.« Richard deutete mit dem Daumen auf Nadine. »Ihr werdet Nadines Zimmer bewachen. Schließlich war sie es, die überfallen wurde.«
»Ja, Lord Rahl«, stammelte Raina. »Dann werde ich dafür sorgen, daß vor den Gemächern der Mutter Konfessor ein Trupp Soldaten postiert wird.«
»Wenn ich rings um Kahlans Gemächer Soldaten haben wollte, dann hätte ich Euch das doch gesagt, oder etwa nicht?« Raina errötete. »Alle Soldaten sollen ihre üblichen Aufgaben übernehmen und vor den Eingängen, auf dem Palastgelände und in einer Sicherheitszone um das Gelände patrouillieren. Jeder einzelne von ihnen! Die Gefahr droht von außen, nicht von innen. Innerhalb des Palastes ist Kahlan vollkommen sicher. Auf keinen Fall dürfen Soldaten, die eigentlich draußen Wache schieben sollten, statt dessen untätig vor Kahlans Gemächern herumlungern. Das lasse ich nicht zu, habt Ihr mich verstanden!«
»Aber Lord Rahl –«
»Keine Widerworte. Dafür bin ich nicht in der Stimmung.«
Kahlan berührte ihn am Arm. »Richard«, meinte sie leise, »bist du sicher, daß –«
»Jemand hat versucht, Nadine umzubringen. Beinahe wäre es ihm gelungen. Oder hat hier irgend jemand nicht begriffen, was das bedeutet? Ich werde kein Risiko mehr eingehen. Ich will, daß sie beschützt wird, und vor allem will ich keine Diskussionen. Drefan, ab sofort trägst du ein Schwert. Heiler sind gefährdet.«
Alles starrte schweigend zu Boden.
»Gut.« Richard richtete seinen wütenden Blick auf Tristan. »Was gibt's?«
Der Angesprochene breitete die Hände aus. »Lord Rahl, ich wollte mich lediglich entschuldigen. Mir ist bewußt, wie gefühllos ich gewirkt haben muß, aber ich war um die Menschen hier besorgt, die krank sind und im Sterben liegen. Deswegen war ich so gereizt. Ich hatte nicht die Absicht, Unmut zwischen uns aufkommen zu lassen. Ich hoffe, Ihr nehmt meine Entschuldigung an.«
Richard musterte Tristans Augen. »Ja, natürlich. Die Entschuldigung ist akzeptiert, und es tut mir leid, wenn ich in Wut geraten bin. Wie Ihr war auch ich ein wenig reizbar.« Richard legte Nadine eine Hand auf die Schulter. »Jemand hat versucht, eine meiner Heilerinnen umzubringen – einen Menschen, der sich der Hilfe für andere verschrieben hat. Inzwischen machen die Menschen die Heiler für die Ausbreitung der Pest verantwortlich. Ich kann nicht zulassen, daß jemand zu Schaden kommt, der nur sein Bestes gibt, um anderen zu helfen.«
»Ja, natürlich. Äußerst freundlich von Euch, meine Entschuldigung anzunehmen. Ich danke Euch, Lord Rahl.«
»Trotz allem, Botschafter, Vergeßt nicht, morgen läuft Eure Zeit ab.«
Tristan verbeugte sich. »Dessen bin ich mir bewußt. Spätestens morgen werdet Ihr erfahren, wo ich stehe, Lord Rahl. Dann also gute Nacht.«
Richard fuhr die anderen an. »Morgen wartet eine Menge Arbeit auf uns. Es ist spät. Wie Drefan mich ständig erinnert, brauchen wir alle ein wenig Schlaf. Ihr kennt Eure Befehle. Noch Fragen?«
Alle antworteten mit einem wortlosen Schütteln des Kopfes.
Zwei Stunden, nachdem sie in den Palast zurückgekehrt waren und Richard sie alle ins Bett geschickt hatte, glaubte Kahlan, in ihrem Zimmer eine Bewegung zu erkennen.
Die Lampe an der gegenüberliegenden Wand war ganz heruntergedreht. Die Wolken verdeckten den Mond, daher fiel durch die Glastüren vom Balkon kein Licht herein. Die dicken Teppiche dämpften das Geräusch etwaiger Schritte. Der schwache Schein der Lampe war alles, was ihr die Gestalt verriet, die sie zu sehen glaubte.
Erneut regte sich auf der gegenüberliegenden Zimmerseite etwas – die Andeutung einer schattenhaften Bewegung. Sie hatte niemanden ihre Gemächer betreten sehen. Es konnte sich nur um Einbildung handeln. Der Tag hatte sie in einen überreizten Zustand versetzt.
Nach dem nächsten leisen Schritt bestand kein Zweifel mehr. Jemand befand sich in ihrem Zimmer und schlich immer näher an ihr Bett heran. So verstohlen seine Bewegungen auch waren, er hatte die Entfernung in bemerkenswert kurzer Zeit zurückgelegt.
Kahlan rührte keinen Muskel, als das Messer im trüben Licht der Lampe aufblitzte. Sie hielt den Atem an.
Ein kräftiger Arm stach haßerfüllt auf ihr Bett ein. Der Arm hob und senkte sich, stach in rascher Folge zu.
Richard stieß die Balkontür mit dem Finger an. Sie schwenkte an den Angeln geräuschlos nach innen. Auf Richards Handzeichen schlüpfte Berdine augenblicklich quer durchs Zimmer. Als sie an der richtigen Stelle war, tippte er einmal gegen das Glas. Berdine drehte den Docht der Lampe hoch.
Tristan Bashkar richtete sich neben Kahlans Bett auf, das Messer in der Hand, keuchend von der Anstrengung seiner soeben begangenen Tat.
»Laßt das Messer fallen, Botschafter«, forderte Richard ihn mit ruhiger Stimme auf.
Tristan ließ das Messer durch die Finger wirbeln und faßte es an der Klinge, um es werfen zu können.
Berdines Strafer traf ihn hinten am Hals und ließ ihn auf der Stelle zusammenbrechen. Sie bohrte ihm den Strafer in die Schulter, um sich abzustützen, während sie sich bückte, um das Messer aufzuheben. Tristan heulte vor Schmerz auf.
Berdine erhob sich und brachte drei Messer ans Licht.
»Du hattest recht, Richard«, sagte Drefan von hinten.
»Das glaube ich einfach nicht«, staunte Nadine und trat in den Schein der Lampe.
»Das solltet Ihr aber«, meinte General Kerson, der ebenfalls vom Balkon aus ins Zimmer kam. »Ich würde sagen, Tristan Bashkar hat seine Immunität als Diplomat eigenhändig aufgehoben.«
Richard legte zwei Finger an die Lippen und pfiff. Raina stürzte an der Spitze eines großen Kontingents schwerbewaffneter d'Haranischer Soldaten ins Zimmer. Zwei von ihnen entzündeten zusätzliche Lampen.
Richard hakte seine Daumen in seinen Gürtel, trat neben Kahlan und sah zu, wie die Soldaten den Mann auf die Beine hievten.
»Du hattest recht«, sagte sie. »Er hat Nadine überfallen, um die Wachen von mir abzuziehen. Die ganze Zeit hatte er es auf mich abgesehen.«
Eine Weile hatte sie geglaubt, er hätte den Verstand, verloren. Sein Auftritt hatte alle überzeugt, sogar Tristan.
»Danke, daß du mir vertraut hast«, sagte Richard leise.
Als er ihr anfangs seinen Plan erklärte, war Kahlan der Ansicht gewesen, er beschuldigte Tristan wegen des früheren Vorfalls. Sie hatte es nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, sich aber gefragt, ob Richard nicht bloß aus Eifersucht handelte.
Jetzt hatte er schon zum zweiten Mal Eifersucht gezeigt, seit sie ihm von Shotas Worten berichtet hatte – etwas, das sie eigentlich gar nicht von ihm kannte. Er hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein, doch Shotas Worte hatten ihre Wirkung auf seinen Verstand nicht verfehlt und seinen Zweifel geweckt. Jedesmal, wenn sie Nadine ansah, verstand Kahlan, wie er sich fühlte. Jedesmal, wenn sie Nadine auch nur in seiner Nähe stehen sah, spürte Kahlan, wie die Eifersucht mit heißen Krallen ihr Innerstes zerriß.
Shota und die Ahnenseele hatten ihr die Wahrheit gesagt. Sie war sich darüber im klaren, daß sie Richard nicht bekommen würde. Verstandesmäßig versuchte sie, dies in rationale Gedanken zu fassen, sich einzureden, es werde sich schon eine Lösung finden, daß sie zusammen sein würden, in ihrem Herzen wußte sie es dennoch besser. Richard würde Nadine heiraten. Und Kahlan einen anderen Mann.
Richard sträubte sich, das zu glauben. Wenigstens behauptete er das. Sie hatte ihre Zweifel.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Clive Anderson, der tot auf seinem Stuhl saß, seine tote Frau in den Armen. Was war eine unglückliche Ehe verglichen mit der Tragödie, die über die Familie Anderson und so viele andere gekommen war? War es das nicht wert, diesen Preis zu zahlen, wenn dadurch diesem entsetzlichen Leiden und Sterben ein Ende gesetzt würde?
Nadine stahl sich an Richards andere Seite. »Ich wäre jetzt tot, ob du nun die Wachen von Kahlan abgezogen hättest oder nicht. Danke, Richard. Wie du den Pfeil direkt vor meinem Gesicht abgefangen hast, so etwas habe ich noch nicht erlebt.«
Richard zog sie kurz an ihrem Arm zu sich heran. »Du hast dich oft genug bedankt, Nadine. Für mich hättest du dasselbe getan.«
Wieder spürte Kahlan die heißen Krallen der Eifersucht. Sie unterdrückte das Gefühl. Es war, wie Shota gesagt hatte: Wenn sie ihn liebte, sollte ihm wenigstens der kleine Trost bleiben – daß es jemand war. den er kannte.
»Und wenn er mich getötet hätte? Ich meine, wenn er nichts weiter gewollt hat, als daß die Wachen von Kahlan abgezogen werden, was wäre passiert, wenn er mich getötet hätte? Was hätte ihm das genützt?«
»Er weiß, daß ich die Gabe habe, und darauf hat er sich verlassen. Hätte er dich versehentlich getötet, hätte es vielleicht trotzdem geklappt. Oder er hätte etwas Ähnliches bei Drefan vortäuschen und uns in unserem Glauben bestärken können, Heiler seien das Ziel und nicht Kahlan.«
»Warum hat er Kahlan dann nicht einfach mit einem Pfeil getötet?«
Richard verfolgte den einseitigen Kampf auf der anderen Seite des Betts. »Weil es ihm Vergnügen bereitet, mit diesem Messer zuzustechen. Er wollte das Gefühl genießen, sie zu töten.«
Seine Worte ließen Kahlan frösteln. Sie kannte Tristan. Gut möglich, daß Richard recht hatte. Tristan hätte seinen Spaß daran gehabt.
Die Soldaten bogen Tristan die Arme auf den Rücken und rissen ihn auf die Beine. Er wehrte sich noch immer nach Kräften, war aber hoffnungslos unterlegen. Als das Zimmer sich mit Soldaten füllte, wurden weitere Lampen angezündet.
Kahlan waren all die Menschen in ihrem Schlafzimmer unangenehm. Vermutlich deshalb, weil die Gemächer der Mutter Konfessor stets ein privates Heiligtum gewesen waren. Ein Ort der Zurückgezogenheit.
In dieses Heiligtum war ein Mann eingedrungen. Ein Mann, der sich mit der Absicht trug, sie zu erdolchen.
»Was hat das eigentlich alles zu bedeuten?« brüllte Tristan.
»Oh, wir wollten bloß sehen, wie ein Kerl ein mit Werg ausgestopftes Nachthemd absticht«, erwiderte Richard.
General Kerson untersuchte den Gefangenen, um sich davon zu überzeugen, daß Berdine ihm alle Waffen abgenommen hatte. Als er zufrieden war, wandte er sich zu Richard.
»Was soll mit ihm geschehen, Lord Rahl?«
»Enthauptet ihn.«
Kahlan drehte sich schockiert um. »Das kannst du nicht tun, Richard.«
»Du hast mit eigenen Augen gesehen, was er getan hat. Er befand sich in dem Glauben, dich umzubringen.«
»Aber er hat es nicht getan. Er hat nur auf mein Bett eingestochen. Die Seelen machen einen Unterschied zwischen Absicht und Tat.«
»Er hat auch versucht, Nadine zu töten.«
»Ich habe nichts dergleichen getan!« brüllte Tristan. »Das war ich nicht – ich habe den Palast heute abend überhaupt nicht verlassen!«
Richard sah Tristan mit einem kalten Funkeln in den Augen an. »Ihr habt weiße Haare an den Knien. Weiße Ziegenhaare. Ihr habt hinter dem Zaun gekniet, als Ihr mit der Armbrust gezielt habt, und dabei sind die Ziegenhaare an Eurer Hose hängengeblieben.«
Kahlan blickte nach unten und sah, daß Richard recht hatte.
»Ihr seid wahnsinnig! Das habe ich niemals getan!«
»Richard«, sagte Kahlan, »Nadine hat er ebenfalls nicht getötet. Er hat es vielleicht versucht, aber getan hat er es nicht. Du kannst ihn nicht für die Absicht hinrichten.«
Richard ballte die Faust um das Amulett auf seiner Brust, das Amulett, das den Tanz mit dem Tod repräsentierte. Kein Erbarmen.
Der General löste den Blick von Kahlan und richtete ihn auf Richard. »Lord Rahl?«
»Richard«, drängte Kahlan, »das darfst du nicht tun.«
Richard sah Tristan wütend funkelnd an. »Er hat diese Frauen umgebracht. Er hat sie mit seinem prächtigen Messer aufgeschlitzt. Es gefällt Euch, Menschen aufzuschlitzen, nicht wahr, Tristan?«
»Was redet Ihr da? Ich habe niemanden getötet – außer im Krieg!«
»Nein«, sagte Richard, »und Ihr habt auch nicht versucht, Kahlan umzubringen. Und Ihr habt nicht versucht, Nadine zu töten, und an Eurer Hose kleben auch keine weißen Ziegenhaare.«
Tristans von Panik erfüllte braune Augen richteten sich auf Kahlan. »Mutter Konfessor, ich habe Euch nicht getötet, und ich habe sie nicht getötet. Ich habe niemanden getötet. Ihr dürft nicht zulassen, daß er es so weit kommen läßt.«
Kahlan erinnerte sich, was man sich hinter vorgehaltener Hand über Tristan erzählte, an die Gerüchte, er bevorzuge, wenn er in den Kampf zog, das Messer gegenüber dem Schwert, weil er ein sadistisches Vergnügen daran finde, Menschen aufzuschlitzen.
Die Frauen waren aus sadistischem Vergnügen getötet worden.
»Was habt Ihr mir erzählt, Tristan? Daß Ihr oft auf das Zaubermittel Geld zurückgreifen müßt, wenn Euch nach weiblicher Gesellschaft zumute ist? Und daß Ihr, falls Ihr die Regeln brecht, erwartet, einer Bestrafung unserer Wahl unterzogen zu werden?«
»Wie wäre es mit einer Gerichtsverhandlung? Ich habe niemanden ermordet. Absicht ist nicht dasselbe wie die Tat!«
»Und was war Eure Absicht, Tristan?« fragte Richard. »Warum wolltet Ihr Kahlan umbringen?«
»Jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb. Es ging nicht ums Vergnügen, wie Ihr denkt. Ich wollte nur Menschenleben retten.«
Richard zog erstaunt eine Braue hoch. »Töten, um Menschenleben zu retten?«
»Ihr habt doch auch schon Menschen getötet. Ihr tut es nicht aus Freude am Töten, sondern um das Leben Unschuldiger zu retten. Das ist alles, dessen ich mich schuldig gemacht habe – des Versuchs, das Leben Unschuldiger zu retten.
Die Imperiale Ordnung hat Abgesandte in den Königlichen Palast in Sandilar geschickt. Es hieß, wir hätten die Wahl, uns ihnen entweder anzuschließen oder zu sterben. Javas Kadar, unser Sterndeuter, trug mir auf, am Himmel nach einem Zeichen Ausschau zu halten.
Als die roten Monde kamen und die Pest begann, wußte ich, was sie gemeint hatten. Ich sollte die Mutter Konfessor töten und mich auf diese Weise mit der Imperialen Ordnung gut stellen, damit sie nicht auch uns die Pest schickt. Das alles war nichts weiter als der Versuch, mein Volk vor großer Not zu bewahren.«
Richards Augen wandten sich zu Kahlan. »Wie weit ist es bis nach Sandilar?«
»Ein Monat, hin und zurück. Vielleicht ein paar Tage weniger.«
Richard blickte wieder zum General. »Stellt eine Gruppe von Offizieren zusammen, die das Kommando über die jaranischen Streitkräfte und die Hauptstadt übernehmen. Sie sollen Tristans Kopf der königlichen Familie überbringen und ihnen mitteilen, daß man ihn wegen versuchten Mordes an der Mutter Konfessor hingerichtet hat.
Die Offiziere sollen die Kapitulation Jaras an D'Hara unter den bereits erwähnten friedlichen Bedingungen anbieten. Bis dorthin und zurück dauert es einen Monat. Der König soll persönlich mit den Kapitulationsdokumenten hierherkommen. Ich erwarte ihn und die d'Haranischen Wachen, die ihn begleiten, morgen in einem Monat zurück.
Erklärt dem König, wenn er nicht kapituliert und unsere Männer nicht wohlbehalten zurückkehren, werde ich persönlich an der Spitze einer Armee in Sandilar einmarschieren und jedes einzelne Mitglied der königlichen Familie enthaupten lassen. Wir werden Jara und die Hauptstadt erobern. Das wird keine freundliche Besetzung werden.«
General Kerson schlug sich mit der Faust über dem Herzen auf den Kettenpanzer. »Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, Lord Rahl.«
»Richard«, sagte Kahlan leise, »und wenn es stimmt, was er sagt – daß er diese Frauen nicht getötet hat? Ich könnte ihn mit meiner Konfessorenkraft berühren, dann wüßten wir es ganz genau.«
»Nein! Ich lasse nicht zu, daß du ihn berührst oder dir anhörst, was er diesen Frauen angetan hat. Er ist ein Ungeheuer.«
»Aber wenn er die Wahrheit spricht? Was ist, wenn er diese Frauen nicht getötet hat?«
Richards Faust packte das Amulett auf seiner Brust. »Ich lasse ihn nicht für den Mord an diesen Frauen hinrichten. Er hat versucht, dich zu ermorden. Ich habe es mit eigenen Augen bezeugt. Was mich anbelangt, ist die Absicht dasselbe wie die Tat. Er wird dafür denselben Preis bezahlen, den er für die ausgeführte Tat bezahlt hätte.«
Richard richtete einen kalten, finster-durchdringenden Blick auf die Soldaten. »Allein vergangene Nacht sind dreihundert Menschen an der Pest gestorben. Dieser Verbrecher hat sich auf die Seite der Heuchler geschlagen, die sie ausgelöst haben. Die Männer sollen gleich morgen früh nach Jara aufbrechen. Außerdem will ich, daß sein Kopf sie begleitet. Ihr habt Eure Befehle gehört. Und jetzt schafft ihn raus.«