25

Kahlan, gefolgt von Cara, erreichte die Tür des kleinen Zimmers, das Richard als Arbeitszimmer benutzte, im selben Augenblick wie eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die ein kleines Silbertablett mit heißem Tee trug. Raina, die zusammen mit Ulic und Egan neben der Tür Wache stand, gähnte.

»Hat Richard nach Tee verlangt, Sarah?«

Die junge Frau machte einen Hofknicks, so gut dies mit dem Tablett in der Hand möglich war. »Ja, Mutter Konfessor.«

Kahlan nahm der jungen Frau das Tablett aus der Hand. »Schon gut, Sarah. Ich gehe hinein – ich werde es ihm bringen.«

Sarah errötete und versuchte, sich an das Tablett zu klammern. »Aber Mutter Konfessor, das solltet Ihr nicht tun müssen.«

»Red kein dummes Zeug. Ich bin durchaus in der Lage, ein Tablett zehn Schritte weit zu tragen.«

Kahlan trat einen Schritt zurück und bekam das Tablett dadurch vollends in die Hand. Sarah wußte nicht, was sie mit ihren Händen anstellen sollte, also verbeugte sie sich.

»Ja, Mutter Konfessor«, sagte sie, bevor sie ging. Anstatt sich darüber zu freuen, daß man ihr half, zog sie ein Gesicht, als sei sie gerade überfallen und ausgeraubt worden. Sarah versah ihren Dienst wie die meisten Dienstboten im Palast äußerst gewissenhaft.

»Ist er schon lange auf?« fragte Kahlan, an Raina gerichtet.

Raina bedachte sie mit einem mißmutigen Blick. »Ja. Schon die ganze Nacht. Ich habe ihm schließlich einige Wachen hiergelassen und bin zu Bett gegangen. Außerdem hatte er Berdine die ganze Nacht über oben bei sich.«

Was zweifellos der Grund für ihren mißmutigen Blick war.

»Es war sicher wichtig, aber ich werde sehen, ob ich ihn nicht dazu bringen kann, nachts eine Pause einzulegen, damit er ein wenig Schlaf bekommt – oder wenigstens Berdine.«

»Das wäre mir sehr lieb«, brummte Cara. »Raina wird unausstehlich, wenn Berdine nicht ins Bett kommt.«

»Berdine braucht ihren Schlaf«, rechtfertigte sich Raina.

»Bestimmt war es wichtig, Raina, dennoch habt Ihr recht. Wer nicht genug schläft, nützt nicht viel. Ich werde ihn daran erinnern – manchmal verliert er sich in seiner Arbeit und vergißt darüber ganz die Bedürfnisse anderer.«

Rainas dunkle Augen hellten auf. »Danke, Mutter Konfessor.«

Kahlan balancierte das Tablett auf einer Hand und öffnete die Tür. Cara bezog neben Raina Posten, linste Kahlan hinterher, um sich zu vergewissern, daß sie mit dem Tablett zurechtkam, und schloß dann die Tür.

Richard stand mit dem Rücken zu ihr und starrte aus dem Fenster. Dem heruntergebrannten Feuer im Kamin gelang es kaum, die Kälte aus dem Zimmer zu vertreiben.

Kahlan schmunzelte in sich hinein. Sie würde seine Prahlerei Lügen strafen. Sie kam nicht einmal mehr dazu, das Tablett auf dem Tisch abzusetzen, die Tasse mit einem leisen Klingeln gegen die Kanne schlagen zu lassen und damit seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, damit er sie für das Dienstmädchen hielt, als Richard bereits, ohne sich umzudrehen, zu sprechen begann.

»Kahlan. Wie schön. Ich bin froh, daß du gekommen bist.«

Stirnrunzelnd setzte sie das Tablett ab.

»Du stehst mit dem Rücken zur Tür. Woher wußtest du, daß ich es bin?«

Richard drehte sich um und machte ein verwirrtes Gesicht. »Warum sollte ich denken, daß es die Frau mit dem Tee ist, wo du es bist, die ihn hereinbringt?« Die Frage schien ihn zu verwirren.

»Ich schwöre es, Richard, manchmal bereitest du mir eine Gänsehaut.«

Er hob ihr Kinn mit einem Finger an und gab ihr einen Kuß. »Ich freue mich, dich zu sehen. Es war einsam ohne dich.«

»Hast du gut geschlafen?«

»Geschlafen? Ich … wahrscheinlich nicht. Wenigstens scheinen die Tumulte sich gelegt zu haben. Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn der Mond ein weiteres Mal rot aufgegangen wäre. Wie können Menschen wegen einer solchen Geschichte einfach außer Rand und Band geraten.«

»Du mußt zugeben, es war eigenartig und … beängstigend.«

»Tu' ich ja, nur deswegen will ich doch nicht schreiend durch die Straßen rennen, Fenster einschlagen und Feuer legen.«

»Vermutlich, weil du Lord Rahl bist und ein wenig besonnener.«

»Und ich habe ein Gefühl für Ordnung. Ich lasse nicht zu, daß Leute solche Verwüstungen anrichten, ganz zu schweigen davon, daß sie unschuldige Menschen verletzen. Beim nächsten Mal werde ich die Tumulte sofort von den Soldaten niederschlagen lassen und nicht auf die Vernunft der Menschen setzen. Ich habe mich um wichtigere Dinge zu kümmern als um diesen kindischen Aberglauben.«

Er stand kurz davor, aus der Haut zu fahren, wie Kahlan an seinem kaum beherrschten Ton erkennen konnte.

Seine Augen tränten. Sie wußte, wenn jemand nicht genug Schlaf bekam, dann löste sich sein Abstand zu den Dingen schnell auf. Eine Nacht, das mochte vielleicht noch angehen, doch drei in Folge, das war eindeutig zu viel. Hoffentlich trübte dies sein Urteilsvermögen nicht.

»Wichtigere Dinge. Du meinst deine Arbeit mit Berdine?«

Er nickte. Kahlan schenkte ihm Tee ein und reichte ihn ihm. Er starrte einen Augenblick die Tasse an, bevor er sie entgegennahm.

»Du mußt der armen Frau mehr Schlaf gönnen, Richard. Sie wird dir nicht helfen können, wenn sie vollkommen übermüdet ist.«

Er nahm einen kleinen Schluck. »Ich weiß.« Daraufhin drehte er sich zum Fenster und gähnte. »Ich mußte sie auf mein Zimmer schicken, um ein Nickerchen zu halten. Sie fing an, Fehler zu machen.«

»Du mußt ebenfalls ein wenig schlafen, Richard.«

Er blickte aus dem Fenster zu den mächtigen Steinmauern der Burg der Zauberer am Hang des Bergmassivs. »Ich bin möglicherweise dahintergekommen, was der rote Mond bedeutet.«

Der düstere Unterton in seiner Stimme ließ sie zögern.

»Und was bedeutet er?« fragte sie schließlich.

Er drehte sich zum Tisch und stellte die Tasse ab. »Ich ließ Berdine nach Stellen suchen, wo Kolo das Wort moss verwendet oder von einem roten Mond spricht, in der Hoffnung, dadurch vielleicht einen Hinweis zu entdecken.«

Er klappte das auf dem Tisch liegende Tagebuch auf. Oben in der Burg der Zauberer hatte er es gefunden, zusammen mit dem Mann, der es verfaßt hatte. Kolo hatte die Sliph bewacht, jenes seltsame Geschöpf, das Menschen über große Entfernungen transportieren konnte, als die Türme, die die Alte von der Neuen Welt trennten, vollendet wurden. Während die Türme aktiviert wurden, hatte man Kolo eingemauert, und dort, bei der Sliph, war er auch gestorben.

Das Tagebuch hatte sich bereits als unbezahlbare Quelle des Wissens erwiesen, war jedoch auf Hoch-D'Haran geschrieben, was das Verständnis verkomplizierte. Berdine sprach etwas Hoch-D'Haran, allerdings keine so alte Form. Sie hatten ein anderes Buch zu Hilfe nehmen müssen, das in einer ähnlich alten Form des Hoch-D'Haran verfaßt war. Richards Kindheitserinnerungen an die Übersetzung dieses Buches halfen Berdine, die Wörter zu verstehen, die sie dann als Querverweise verwendeten, um die Übertragung des Tagebuches voranzutreiben.

Nach und nach lernte Richard eine ganze Menge sowohl von der volkstümlichen Variante des Hoch-D'Haran als auch von seiner sehr viel älteren Geheimsprachenversion, trotzdem kamen sie enttäuschend langsam voran.

Nachdem Richard Kahlan nach Aydindril zurückgebracht hatte, erklärte er ihr, wie er sie nur mit Hilfe des Buches hatte retten können. Er hatte erzählt, daß er manchmal scheinbar problemlos darin lesen könne, er und Berdine dagegen an anderen Stellen festsäßen. Manchmal könne er eine Seite in wenigen Stunden entschlüsseln, und dann wieder benötigten sie Tage, um einen einzigen Satz zu übertragen.

»Moss? Du sagtest, du hättest sie das Wort moss nachsehen lassen. Was bedeutet es?«

Er nippte an seinem Tee und setzte die Tasse wieder ab. »Moss? Oh, das bedeutet ›Wind‹ auf Hoch-D'Haran.« Er schlug eine Seite auf, die durch ein Lesezeichen gekennzeichnet war. »Weil es so lange gedauert hat, das Tagebuch zu übersetzen, haben wir nur nach Schlüsselbegriffen gesucht, uns dann auf die betreffenden Passagen konzentriert und auf unser Glück gehofft.«

»Ich dachte, du hättest erzählt, du übersetzt das Buch, um Kolos Verwendung der Sprache besser zu verstehen.«

Er seufzte genervt. »Dafür fehlt mir die Zeit, Kahlan. Wir mußten unser Vorgehen ändern.«

Das gefiel Kahlan nicht.

»Man erzählte mir, Richard, dein Bruder sei der Hohepriester eines Ordens mit dem Namen Raug'Moss. Ist das Hoch-D'Haran?«

»Es bedeutet ›Göttlicher Wind‹«, murmelte er.

Er tippte auf das Buch und schien ganz offenkundig nicht darüber diskutieren zu wollen. »Siehst du, hier? Berdine hat die Stelle gefunden, wo Kolo von einem roten Mond spricht. Er verlor darüber vollkommen die Fassung. Die gesamte Burg der Zauberer war deswegen in Aufruhr. Er schreibt, sie seien von der ›Mannschaft‹ verraten worden. Er sagt, die Mannschaft habe wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt werden sollen. Wir hatten noch keine Zeit, dem weiter nachzugehen. Aber…«

Richard schlug das Buch wieder weiter vorne auf, wo eine ihrer niedergeschriebenen Übersetzungen eingefügt war, und las ihr die Stelle vor:

»›Heute erfüllte sich, vielleicht nur dank der hervorragenden, unermüdlichen Arbeit einer Mannschaft aus fast einhundert Leuten, einer unserer sehnlichsten Wünsche. Die Dinge, deren Verlust wir für den Fall, daß wir überrannt werden sollten, am meisten fürchteten, wurden gesichert. Ein Jubelschrei löste sich aus den Kehlen aller in der Burg, als wir heute Nachricht erhielten, daß wir Erfolg gehabt hatten. Manch einer hatte dies nicht für möglich gehalten, doch zum Erstaunen aller ist es vollbracht: Der Tempel der Winde ist verschwunden.‹«

»Verschwunden?« fragte Kahlan. »Was ist der Tempel der Winde? Wohin ist er verschwunden?«

Richard klappte das Buch zu. »Das weiß ich nicht. Weiter hinten schreibt Kolo, die Mannschaft, die dies vollbracht hatte, habe sie alle verraten. Hoch-D'Haran ist eine eigenartige Sprache. Die Worte haben unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, wie man sie verwendet.«

»Das ist in den meisten Sprachen so. Auch in unserer.«

»Ja, nur manchmal schreibt man in Hoch-D'Haran einem Wort, das normalerweise je nach Verwendung unterschiedliche Bedeutungen hat, absichtlich Mehrfachbedeutungen zu. Man kann sich nicht eine Bedeutung aussuchen und alle übrigen weglassen. Das macht das Übersetzen entsprechend schwierig.

In der alten Prophezeiung zum Beispiel, in der der Bringer des Todes genannt wird, steht das Wort ›Tod‹ für drei verschiedene Dinge, je nachdem, wie es verwendet wird: Es steht für den Bringer der Unterwelt, also für die Welt der Toten, für den Bringer der Seelen, also für die Seelen der Toten, und für den Bringer des Todes, sprich für das Töten. Jede Bedeutung ist anders, und doch sind alle drei beabsichtigt. Das war der Schlüssel.

Die Prophezeiung stand in dem Buch, das wir aus dem Palast der Propheten mitgebracht hatten. Warren konnte die Prophezeiungen erst übersetzen, nachdem ich ihm erklärt hatte, daß alle drei Bedeutungen zutreffen. Er erzählte mir, aus diesem Grund sei er seit dreitausend Jahren der erste, der die tatsächliche Bedeutung der Prophezeiung, so wie sie aufgeschrieben wurde, begriffen habe.«

»Was hat das mit dem Tempel der Winde zu tun?«

»Wenn Kolo von ›Winden‹ spricht, dann meint er, glaube ich, manchmal einfach nur den Wind, so wie man sagt, heute weht der Wind. Aber manchmal, wenn er von ›Wind‹ spricht, dann denkt er an den Tempel der Winde. Ich glaube, er benutzt es als Kurzform, um sich einerseits auf den Tempel der Winde zu beziehen und ihn andererseits von anderen Tempeln zu unterscheiden.«

Kahlan sah ihn fassungslos an. »Soll das etwa heißen, du glaubst, Shotas Nachricht, der Wind sei auf der Jagd nach dir, bedeutet in Wahrheit, der Tempel der Winde sei auf der Jagd nach dir?«

»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«

»Das wäre ein ziemlicher Gedankensprung, wenn das wirklich deine Überzeugung ist – Kolos Art, sich auf den Tempel der Winde zu beziehen, als Beweis dafür zu nehmen, daß Shota von demselben Ort spricht.«

»Wenn Kolo davon spricht, alle seien in Aufruhr gewesen und man habe diese Männer vor Gericht gestellt, dann klingt das bei ihm so, als besäßen die Winde eine Art sinnliche Wahrnehmung.«

Diesmal räusperte sich Kahlan. »Willst du mir etwa weismachen, Richard, Kolo behauptet, dieser Ort, dieser Tempel der Winde, sei zu Empfindungen fähig?«

Sie fragte sich, wie lange es her war, seit er ein bißchen Schlaf gefunden hatte, und ob er noch bei klarem Verstand war.

»Ich sagte, ich sei mir nicht sicher.«

»Aber genau darauf willst du hinaus.«

»Na ja, es klingt … absurd, wenn man es so formuliert. Doch wenn man es auf Hoch-D'Haran liest, hört es sich ganz anders an. Ich weiß nicht, wie ich den Unterschied erklären soll, trotzdem gibt es einen. Wenn auch möglicherweise nur einen graduellen.«

»Graduell oder nicht, wie kann ein Ort zu sinnlichen Wahrnehmungen oder Empfindungen fähig sein?«

Richard seufzte. »Ich habe keine Ahnung. Darauf habe ich mir noch keinen Reim machen können. Warum, glaubst du, habe ich mir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen?«

»Aber so etwas ist unmöglich.«

Seine trotzigen Augen wandten sich zu ihr. »Die Burg der Zauberer ist einfach nur ein Ort, und doch weiß er, wann jemand ihn schändet. Er reagiert auf diese Schändung, indem er dem Betreffenden Einhalt gebietet, ihn sogar tötet, wenn es sein muß, um zu verhindern, daß ein Unbefugter einen Ort betritt, an dem dieser nichts zu suchen hat.«

Kahlan verzog das Gesicht. »Das sind die Schilde, Richard. Zauberer haben diese Schilde angebracht, um zu verhindern, daß gefährliche Gegenstände gestohlen werden oder sich Menschen an Orte begeben, an denen ihnen etwas zustoßen könnte.«

»Dennoch reagieren sie, ohne daß jemand ihnen sagen muß, was sie zu tun haben, oder?«

»Das tut eine Fußangel auch. Deshalb ist sie noch lange nicht zu Empfindungen fähig. Was du sagen willst, ist, daß der Tempel der Winde von Schilden geschützt wird. Mehr behauptest du also gar nicht – nur, daß er Schilde hat?«

»Ja und nein. Es geht um mehr als einfache Schilde. Schilde sichern nur. Bei Kolo klingt es so, als könne der Tempel der Winde … ich weiß nicht, als könne er denken und, wenn nötig, Entscheidungen treffen.«

»Entscheidungen treffen. Welche zum Beispiel?«

»An der Stelle, wo er schreibt, alle seien in Panik wegen des roten Mondes, schreibt er auch, die Mannschaft, die den Tempel der Winde fortgeschickt hat, habe sie alle verraten.«

»Na … und?«

»Na, und ich denke eben, daß der Tempel der Winde den Mond rot gefärbt hat.«

Kahlan beobachtete seine Augen und war von dem überzeugten Blick in ihnen wie gelähmt. »Ich werde nicht fragen, wie so etwas überhaupt möglich sein soll, aber nehmen wir im Augenblick einmal an, es stimmt. Warum sollte der Tempel der Winde den Mond rot färben?«

Richard hielt ihrem festen Blick stand. »Als Warnung.«

»Wovor?«

»Die Schilde in der Burg der Zauberer funktionieren durch Überwachung. Fast niemand kann sie passieren. Ich kann es, weil ich über die richtige Art von Magie verfüge. Wenn jemand, der Unheil anrichten will, genug Magie und Kenntnisse besitzt, dann kann auch er die Schilde passieren. Was geschieht dann?«

»Nun, nichts. Er passiert sie eben.«

»Genau. Ich glaube, der Tempel der Winde kann mehr. Ich glaube, er kann unterscheiden, ob jemand die Schutzanlagen geschändet oder beschädigt hat, und eine Warnung aussenden.«

»Den roten Mond«, sagte sie leise.

»Das ergäbe Sinn.«

Sie legte ihm zärtlich eine Hand auf den Arm. »Du brauchst dringend etwas Ruhe, Richard. Das alles kannst du unmöglich nur aus Kolos Tagebuch schließen. Es ist nur ein einziges Tagebuch, das vor langer Zeit geschrieben wurde.«

Er riß seinen Arm los. »Ich weiß nicht, wo ich sonst suchen soll. Shota sagte, der Wind mache Jagd auf mich! Ich brauche nicht schlafen zu gehen, um Alpträume zu haben.«

In diesem Augenblick verstand Kahlan, daß es nicht Shotas Nachricht war, die ihn antrieb. Es war die Prophezeiung unten in der Grube.

Der erste Teil der Prophezeiung lautete: Mit dem roten Mond kommt der Feuersturm.

Der zweite Teil war es, der ihr richtig Angst einjagte.

Um das Inferno zu löschen, muß er das Heilmittel im Wind suchen. Im Blitzgewitter wird man ihn auf diesem Pfad sehen können, denn die Frau in Weiß, seine wahre Geliebte, wird ihn in ihrem Blut verraten.

Sie sah, daß ihm diese Prophezeiung mehr Angst einjagte, als er zugab.

Es klopfte.

»Was ist?« brüllte Richard.

Cara öffnete die Tür und steckte den Kopf herein. »General Kerson wünscht Euch zu sprechen, Lord Rahl.«

Richard fuhr sich durchs Haar. »Bittet ihn herein, Cara.«

Er legte Kahlan eine Hand auf die Schulter und starrte zum Fenster hinaus. »Tut mir leid«, sagte er leise. »Du hast recht. Ich brauche etwas Schlaf. Vielleicht kann mir Nadine ein paar von ihren Kräutern geben, damit ich einschlafe. Mein Verstand scheint mir sonst keine Ruhe zu gönnen.«

Lieber würde sie ihm etwas von Shota verabreichen lassen. Kahlan antwortete nur mit einer vorsichtigen Berührung, denn sie hatte Angst, ihre Stimme in diesem Augenblick auf die Probe zu stellen.

General Kerson kam mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht ins Zimmer marschiert. Er salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz.

»Lord Rahl. Guten Morgen. Und es ist wirklich ein guter Morgen, dank Euch.«

Richard nippte an seinem Tee. »Wie das?«

Der General versetzte Richard einen Klaps auf die Schulter. »Den Männern geht es wieder besser. Die Arzneien, die Ihr verordnet habt – der Knoblauch, die Blaubeeren, der Löscheichentee –, sie haben gewirkt. Sie sind alle wieder gesund. Ich habe eine ganze Armee strahlender Männer, die bereit sind, zu tun, was ihnen befohlen wird. Ich kann Euch nicht sagen, wie erleichtert ich bin, Lord Rahl.«

»Das hat Euer Lächeln soeben getan, General. Mir fällt ebenfalls ein Stein vom Herzen.«

»Meine Männer fühlen sich moralisch aufgerichtet, weil ihr neuer Lord Rahl ein Beherrscher großartiger Magie und imstande ist, den Tod an ihrer Tür abzuweisen. Jeder einzelne dieser Männer möchte Euch zu einem Bier einladen und einen Trinkspruch auf Eure Gesundheit und ein langes Leben ausbringen.«

»Das war keine Magie. Das waren nur Arzneien, die … Dankt ihnen für ihr Angebot, aber ich … was ist mit den Tumulten? Sind sie vergangene Nacht wieder ausgebrochen?«

Der General tat dies mit einem Brummen ab. »Die Unruhen sind größtenteils vorbei. Die Besorgnis wich von den Menschen, nachdem der Mond wieder normal aussah.«

»Schön. Das sind gute Neuigkeiten, General. Danke für Euren Bericht.«

Der General rieb mit einem Finger über das glattrasierte Kinn. »Äh, da wäre noch ein weiterer Punkt, Lord Rahl.« Er sah kurz zu Kahlan hinüber. »Wenn wir vielleicht…« Der Mann stieß einen Seufzer aus. »Gestern … wurde eine Frau ermordet.«

»Das tut mir leid. Kanntet Ihr sie?«

»Nein, Lord Rahl. Sie war eine … eine Frau, die … Geld als Gegenleistung nahm für…«

»Falls Ihr auszudrücken versucht, daß sie eine Hure war, General«, warf Kahlan ein, »ich habe dieses Wort schon mehrfach gehört. Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, wenn ich es jetzt erneut höre.«

»Ja, Mutter Konfessor.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Richard zu. »Sie wurde heute morgen tot aufgefunden.«

»Was ist ihr zugestoßen? Wie wurde sie umgebracht?«

Der General wirkte mit jedem Augenblick unglücklicher. »Seit vielen Jahren schon sehe ich Tote, Lord Rahl. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal bei einem solchen Anblick übergeben habe.«

Richard stützte eine Hand auf die ledernen Beutel an seinem breiten Gürtel. »Was hat man ihr angetan?«

Der General blickte zu Kahlan hinüber, als bitte er sie um Nachsicht, während er einen Arm um Richards Schulter legte und ihn beiseite zog. Kahlan konnte die geflüsterten Worte nicht verstehen, aber der Ausdruck auf Richards Gesicht verriet ihr, daß sie sie auch nicht hören wollte.

Richard ging zum Kamin hinüber, blieb stehen und starrte in die Flammen.

»Das tut mir leid. Aber Ihr habt doch sicher Leute, die dieser Sache nachgehen können. Warum kommt Ihr damit zu mir?«

Der General verzog das Gesicht und räusperte sich. »Nun, versteht Ihr, Lord Rahl? Es war, nun ja, es war Euer Bruder, der sie fand.«

Richard drehte sich um und zog eine finstere Miene. »Was hatte Drefan in einem Bordell zu suchen?«

»Nun, äh, diese Frage habe ich ihm auch gestellt, Lord Rahl. Mir kommt er nicht vor wie ein Mann, der Schwierigkeiten hätte –« Der General wischte sich verlegen mit der Hand durchs Gesicht. »Ich fragte ihn, und er antwortete, es sei seine Sache, nicht meine, wenn er in ein Hurenhaus gehe.«

An seinen deutlich hervortretenden Gesichtszügen erkannte Kahlan, daß Richard seinen Ärger nur mühsam unterdrückte. Unvermittelt schnappte er sich sein goldenes Cape vom Stuhl.

»Gehen wir. Bringt mich dorthin. Bringt mich in dieses Haus, in dem Drefan verkehrt. Ich will mit den Leuten dort reden.«

Kahlan und der General eilten Richard hinterher, als er durch die Tür nach draußen schoß. Sie bekam ihn am Ärmel zu fassen und sah zum General hinüber.

»General, könntet Ihr uns einen Augenblick alleine lassen?«

Nachdem dieser sich ein Stück weit den Flur hinunter entfernt hatte, zerrte Kahlan Richard in die andere Richtung, fort von Cara, Raina, Ulic und Egan. Ihrer Meinung nach war Richard zur Zeit nicht in der Verfassung, einer solchen Sache nachzugehen. Außerdem war sie aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen.

»Da sind Abgesandte, die darauf warten, uns zu sprechen, Richard. Sie warten bereits seit Tagen.«

»Drefan ist mein Bruder.«

»Er ist ein erwachsener Mann.«

Richard rieb sich die Augen. »Ich muß mich darum kümmern, außerdem habe ich eine Menge anderer Dinge auf dem Herzen. Würde es dir etwas ausmachen, mit den Abgesandten allein zu sprechen? Erkläre ihnen, ich sei in einer wichtigen Angelegenheit fortgerufen worden, und sie könnten die Kapitulation ihres Landes ebensogut dir anbieten, anschließend solle man dann damit beginnen, sämtliche Herrschaftsvereinbarungen zu regeln.«

»Das kann ich tun. Ich weiß, daß ein paar von ihnen froh wären, mit mir sprechen zu können, wenn sie dir dann nicht gegenübertreten müßten. Sie haben Angst vor dir.«

»Ich tue ihnen doch nichts«, wandte Richard ein.

»Du hast sie fast um den Verstand gebracht vor Angst, Richard, als du damals ihre Kapitulation verlangt hast. Du hast versprochen, sie zu vernichten, sollten sie es wagen, sich der Imperialen Ordnung anzuschließen.

Sie hatten Angst, du könntest es ohnehin tun, aus einer Laune heraus. Dir geht der Ruf des Herrschers von D'Hara voraus, und du gibst ihren Befürchtungen Nahrung. Du kannst nicht erwarten, daß sie sich in deiner Gegenwart plötzlich wohl fühlen, nur weil sie deine Bedingungen akzeptiert haben.«

Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Nun, dann erkläre ihnen einfach, wie liebenswert ich bin.«

»Ich kann ihnen mitteilen, daß du dich darauf freust, gemeinsam mit ihnen für unseren Frieden und Wohlstand zu arbeiten«, antwortete sie lächelnd. »Sie vertrauen mir und werden auf das hören, was ich sage.

Aber Tristan Bashkar, der Gesandte aus Jaria, ist ebenfalls hier, zusammen mit einem Paar aus dem Königshaus von Grennidon. Die drei sind wichtige Persönlichkeiten; sie haben die größten stehenden Heere. Daher erwarten sie, daß du dich mit ihnen triffst. Möglicherweise werden sie sich nicht damit zufriedengeben, mir ihre Kapitulation anzubieten. Sie werden verhandeln wollen.«

»Stell sie zufrieden.«

»Tristan Bashkar ist kein umgänglicher Mensch, sondern ein harter Verhandler, genau wie Leonora und Walter Cholbane aus Grennidon.«

»Das ist einer der Gründe, weshalb ich den Bund der Midlands aufgekündigt habe: zu viele wollen streiten und sich in Positur setzen. Damit ist es vorbei. Die Kapitulation erfolgt bedingungslos.« Richard hakte einen Daumen hinter seinen breiten Ledergürtel. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Die Bedingungen sind für alle gerecht, für alle gleich und stehen nicht zur Debatte. Entweder ist man für oder gegen uns.«

Kahlan fuhr ihm mit dem Finger über den schwarzen Ärmel seines Hemdes, über das Auf und Ab seiner Muskeln. Er war mit dem Tagebuch beschäftigt gewesen. Zu lange war es her, daß sie in diesen Armen gelegen hatte.

»Richard, wenn es um Rat geht, bist du auf mich angewiesen. Ich kenne diese Länder. Sie nur dazu zu bringen einzuwilligen, ist nicht das einzige Ziel. Man wird Opfer verlangen müssen. Wir brauchen in diesem Krieg ihre volle Zusammenarbeit.

Du bist Lord Rahl, der Herrscher D'Haras. Du stellst die Forderungen. Du hast gesagt, die Kapitulation sei zwar bedingungslos, trotzdem werde ihr Volk mit Respekt behandelt. Ich kenne diese Abgesandten. Sie erwarten, dich zu sprechen, eben als Zeichen deines Respekts ihnen gegenüber.«

»Du bist die Mutter Konfessor. Wir sind eins, in dieser Angelegenheit wie in allem anderen auch. Du hast diese Völker lange geführt, bevor ich kam. Dein Rang ist nicht geringer als der meine. Du hattest sehr, sehr lange ihren Respekt. Erinnere sie daran.«

Richard warf kurz einen Blick auf den wartenden General und die anderen am Ende des Flures. Dann sah er ihr wieder in die Augen.

»Es ist, soweit es Drefan betrifft, vielleicht nicht die Angelegenheit des Generals, aber es ist meine. Ich werde mich nicht noch einmal von einem Bruder täuschen lassen. Nach deinen eigenen Worten und dem, was andere mir gesagt haben, scharwenzeln die Frauen im Palast bereits um ihn herum. Wenn er sich bei diesen Huren irgend etwas fängt und die jungen Frauen hier damit ansteckt … dann geht mich das sehr wohl etwas an.

Ich werde nicht zulassen, daß mein Bruder unschuldige Frauen, die ihm vertrauen, weil er mein Bruder ist, mit Krankheiten ansteckt.«

Sarah, jene Frau, die Richard den Tee hatte bringen wollen, war jung und vertrauensselig. Sie gehörte zu den Frauen, die Drefan in seinen Bann gezogen hatte.

Kahlan strich ihm über den Rücken. »Verstehe. Wenn du mir versprichst, dich ein wenig schlafen zu legen, gehe ich und spreche mit den Abgesandten. Du wirst mit ihnen reden, sobald du Zeit hast. Es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als zu warten. Du bist Lord Rahl.«

Richard beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich liebe dich.«

»Dann heirate mich.«

»Bald. Wir werden die Sliph bald wecken.«

»Sieh dich vor, Richard. Marlin sagte, diese Schwester der Finsternis – ich habe ihren Namen vergessen – habe Aydindril verlassen und sei zu Jagang zurückgekehrt, doch vielleicht hat er gelogen. Sie könnte noch immer dort draußen herumlaufen.«

»Schwester Amelia. Ich erinnere mich an sie, weißt du. Als ich das erste Mal in den Palast der Propheten kam, war sie eine von Vernas Freundinnen, die uns begrüßt haben: die Schwestern Phoebe, Janet und Amelia. Ich kann mich noch gut an Schwester Amelias Freudentränen erinnern, als sie Verna nach all den Jahren wiedersah.«

»Jetzt ist sie bei Jagang.«

Er nickte. »Verna muß untröstlich sein, daß ihre Freundin sich in der Hand des Traumwandlers befindet, und schlimmer noch, daß sie eine Schwester der Finsternis ist. Vorausgesetzt, Verna weiß das überhaupt.«

»Sieh dich vor. Was immer Jagang behauptet, es ist möglich, daß er sich noch in Aydindril herumdrückt.«

»Das bezweifele ich zwar, dennoch werde ich mich vorsehen.«

Er drehte sich um und gab Cara ein Zeichen. Sie kam angelaufen.

»Cara, bitte begleitet Kahlan. Berdine soll sich ein wenig ausruhen. Ich werde Raina, Ulic und Egan mitnehmen.«

»Ja, Lord Rahl. Ich werde für ihre Sicherheit sorgen.«

Richard mußte schmunzeln. »Das weiß ich, Cara, aber damit entgeht Ihr Eurer Strafe nicht.«

Die Mord-Sith zeigte keinerlei Regung. »Ja, Lord Rahl.«

»Welcher Strafe?« fragte Kahlan, als sie außer Hörweite waren.

»Eine höchst ungerechte Strafe, Mutter Konfessor.«

»So schlimm? Was denn?«

»Ich muß Streifenhörnchen füttern.«

Kahlan unterdrückte ein Schmunzeln. »Das klingt nicht so schrecklich, Cara.«

Cara ließ ihren Strafer in die Faust schnellen.

»Deswegen ist es ja auch so ungerecht, Mutter Konfessor.«

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