Richard bemerkte Kahlan, die ihm in der Vorhalle entgegenkam. Sie runzelte die Stirn, als sie sah, daß Nadine ihn an der Hand hinter sich herzog. Drefan, Raina, Ulic und Egan folgten ihm auf dem Fuße; alle zusammen bahnten sich den Weg durch das Palastpersonal und die patrouillierenden Soldaten.
Nadine warf Kahlan einen zornigen Blick zu, bevor sie in den Korridor einbog, der zu ihrem Zimmer führte. Richard fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Gereizt zog er seine Hand mit einem Ruck aus ihrem Griff, lief ihr aber weiter hinterher. Nadine steuerte um einen Walnußholztisch an der Wand herum, der unter einem alten Wandteppich stand, auf dem eine Herde weißschwänziger Hirsche vor schneebedeckten Bergen im Hintergrund zu sehen war. Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Richard ihr noch folgte.
Kahlan und Cara holten sie ein. Die Mutter Konfessor gesellte sich zum Sucher.
»Also«, meinte Cara von hinten und strich sich über ihren Zopf, »wenn das kein interessanter Anblick ist.«
Richard warf ihr einen verärgerten Blick zu. Nadine drehte sich um und griff ungeduldig erneut nach seiner Hand.
»Du hast es mir versprochen. Komm weiter.«
»Versprochen habe ich gar nichts. Ich sagte, ich begleite dich«, protestierte Richard. »Ich sagte nicht, ich würde rennen.«
»Der große, starke Lord Rahl kann mit mir nicht Schritt halten?«, spottete Nadine. »Der Waldführer, den ich von früher kannte, konnte selbst im Halbschlaf schneller laufen.«
»Ich bin im Halbschlaf«, murrte er.
»Die Wachen sagten mir, du seist zurück und zu Drefan gegangen«, flüsterte Kahlan ihm zu. »Ich war gerade unterwegs dorthin, um dich zu treffen. Was hat diese Prozession zu bedeuten?«
In ihrer geflüsterten Frage schwang Verärgerung mit. Er sah, daß sie kurz auf Nadines Hand schielte, die seine fest umklammert hielt.
»Keine Ahnung. Sie will, daß ich jemanden aufsuche.«
»Und dabei mußt du ihre Hand halten?« knurrte sie leise.
Er ließ erneut los.
Kahlan warf verstohlen einen Blick auf Drefan, der hinter Cara und Raina ging. Sie hakte sich bei Richard ein. »Wie fühlst du dich? Was hast du … herausgefunden?«
Richard legte seine Hand auf ihre und drückte sie. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er leise zu ihr. »Es war nicht, was ich dachte. Ich erzähle es dir später.«
»Was ist mit dem Mörder? Hat ihn schon jemand gefunden?«
»Ja, jemand hat ihn gefunden und für sein Verbrechen getötet«, erklärte Richard ihr. »Was ist mit den Abgesandten? Hast du dich darum gekümmert?«
Ihre Antwort ließ einen Augenblick auf sich warten. »Grennidon, Togressa und Pendisan haben kapituliert. Jara wird es vielleicht noch, aber dort möchte man noch zwei Wochen auf ein Zeichen aus dem Himmel warten.« Richard runzelte die Stirn. »Mardovia hat sich geweigert, sich uns anzuschließen. Sie haben beschlossen, neutral zu bleiben.«
Richard blieb mit einem Ruck stehen. »Was?«
Diejenigen, die hinter ihm gingen, wären fast auf ihn aufgelaufen.
»Sie weigern sich zu kapitulieren. Sie bestehen auf ihrer Neutralität.«
»Die Imperiale Ordnung erkennt keine Neutralität an. Und wir auch nicht. Hast du ihnen das nicht erklärt?«
Kahlans Gesicht war nichts anzumerken. »Natürlich habe ich das.«
Richard hatte sie nicht anschreien wollen. Er war wütend auf Mardovia, nicht auf sie.
»General Reibisch steht im Süden. Vielleicht können wir ihn Mardovia einnehmen lassen, bevor die Imperiale Ordnung sie zu faulendem Fleisch zermalmt.«
»Richard, sie haben ihre Chance gehabt. Jetzt sind sie lebende Tote. Wir dürfen das Leben unserer Soldaten nicht dafür verschwenden, Mardovia einzunehmen, nur um die Menschen dort zu schützen. Das ergäbe keinen Sinn und würde uns nur schwächen.«
Nadine drängte sich zwischen die beiden und funkelte Kahlan wütend an. »Ihr habt mit diesem üblen Jagang gesprochen. Ihr wißt, wie er ist. Diese Menschen werden alle umkommen, wenn Ihr sie dem Traumwandler überlaßt. Das Leben unschuldiger Menschen ist Euch einfach gleichgültig. Ihr seid herzlos.«
Aus den Augenwinkeln sah Richard etwas Rotes aufblitzen, als Cara ihren Strafer in die Hand schnellen ließ.
Richard drängte Nadine weiter. »Kahlan hat recht. Es hat nur einen Augenblick gedauert, bis es in meinen dicken Schädel, eingedrungen war. Mardovia hat sich für seinen Weg entschieden, jetzt muß es ihn auch bis zum Ende gehen. Wenn du mir jetzt jemanden zeigen willst, dann tu das. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen.«
Nadine schnaubte beleidigt, warf ihr dichtes braunes Haar mit einer knappen Bewegung über die Schulter und marschierte weiter. Cara und Raina bedachten ihren Hinterkopf mit grimmigen Blicken. Und ein solcher Blick einer Mord-Sith war meist der Auftakt zu ernsten Konsequenzen. Richard hatte Nadine soeben wahrscheinlich vor diesen Konsequenzen bewahrt. Eines Tages würde er etwas gegen Shota unternehmen müssen. Bevor Kahlan es versuchte.
Richard beugte sich zu Kahlan vor. »Entschuldige. Ich bin todmüde und habe einfach nicht nachgedacht.«
Sie drückte seinen Arm. »Du hast versprochen, ein wenig zu schlafen, schon vergessen?«
»Sobald ich mich um diese Geschichte mit Nadine gekümmert habe, was immer es ist.«
Vor ihrer Zimmertür nahm Nadine Richard wieder bei der Hand und zog ihn hinein. Bevor er protestieren konnte, sah er den Jungen auf dem roten Stuhl sitzen. Richard glaubte, in ihm einen der Ja'La-Spieler wiederzuerkennen, denen er zugesehen hatte.
Der Junge war in Tränen aufgelöst. Als er Richard in das Zimmer kommen sah, sprang er vom Stuhl hoch und riß sich die schlabbrige Wollmütze von seinem blonden Haarschopf. Er stand da und zerknüllte sie, vor Erwartung zitternd, in der Hand, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
Richard ging vor dem Jungen in die Hocke. »Ich bin Lord Rahl. Ich habe gehört, du mußt mich sprechen. Wie heißt du?«
Er schniefte. Die Tränen kamen immer wieder. »Yonick.«
»Also, Yonick, ganz ruhig. Was ist passiert?«
Er bekam nur das Wort ›Bruder‹ heraus, dann wurde er von Schluchzern überwältigt. Richard nahm den Jungen in die Arme und tröstete ihn. Der weinte heftig und klammerte sich an Richard. Sein Elend war herzzerreißend.
»Kannst du mir erzählen, was los ist, Yonick?«
»Bitte, Vater Rahl, mein Bruder ist krank. Sehr krank.«
Richard stellte den Jungen vor sich auf die Beine. »Tatsächlich? Woran ist er denn erkrankt?«
»Das weiß ich nicht«, jammerte Yonick. »Wir haben ihm Kräuter gekauft. Wir haben alles versucht. Er ist so krank. Seit ich das letzte Mal hier bei Euch war, ist er immer kränker geworden.«
»Als du das letzte Mal bei mir warst?«
»Ja«, fauchte Nadine. »Er war vor ein paar Tagen hier und hat um deine Hilfe gebettelt.« Nadine bohrte einen Finger in Kahlans Richtung. »Sie hat ihn weggeschickt.«
Kahlans Gesicht wurde tiefrot. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Sie interessiert sich doch nur für ihre Armeen und wie man den Menschen Leid zufügen kann. Um einen kleinen, armen, kranken Jungen schert sie sich nicht. Sie würde sich nur um ihn kümmern, wenn er irgendein toller, wichtiger Diplomat wäre. Sie weiß nicht, was es heißt, arm und krank zu sein.«
Richard brachte Caras Vorstoß mit einem wütenden Blick zum Stillstand. Er wandte sich zornerfüllt Nadine zu.
»Das reicht.«
Drefan legte Kahlan eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, Ihr hattet guten Grund für Euer Handeln. Schließlich konntet Ihr nicht wissen, wie krank sein Bruder ist. Niemand macht Euch einen Vorwurf.«
Richard wandte sich wieder dem Jungen zu. »Mein Bruder hier, Drefan, ist ein Heiler, Yonick. Bringe uns zu deinem Bruder, und wir werden sehen, ob wir ihm helfen können.«
»Und ich habe Kräuter«, mischte sich Nadine ein. »Ich werde deinem Bruder ebenfalls helfen, Yonick. Wir werden alles tun, was wir können. Das versprechen wir.«
Yonick rieb sich die Augen. »Bitte beeilt Euch. Kip ist sehr krank.«
Kahlan stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Richard hatte ihr zärtlich eine Hand auf den Rücken gelegt. Er spürte, wie sie zitterte. Es machte ihm angst, wie krank der Bruder des Jungen inzwischen womöglich war, und er wollte ihr das ersparen. Er befürchtete, sie könnte sich Vorwürfe machen.
»Warum wartest du nicht hier, während wir der Sache nachgehen.«
Ihre feuchtglänzenden grünen Augen blitzten ihn an. »Ich komme mit«, sagte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hindurch.
Richard gab den Versuch auf, sich das dichtgedrängte Gewirr aus engen Straßen und verschlungenen Gassen einzuprägen, durch das sie kamen, und merkte sich einfach nur, wo die Sonne am Himmel stand, um nicht die Orientierung zu verlieren, während Yonick sie durch einen Irrgarten von Gebäuden und ummauerten, mit Wäsche vollgehängten Innenhöfen führte.
Hühner flatterten gackernd vor ihnen auseinander. In manchen der winzigen Höfe standen ein paar Ziegen oder Schafe, gelegentlich das eine oder andere Schwein. Die Tiere wirkten inmitten der eng beieinander stehenden Häuser wie Fremdkörper.
Die Menschen oben ließen sich in ihren Gesprächen von Fenster zu Fenster nicht stören. Einige lehnten sich, auf ihre Ellenbogen gestützt weit vor, um die von einem kleinen Jungen angeführte Prozession zu betrachten. Sie erregte einiges Aufsehen. Richard wußte, daß es eher der Lord Rahl in seiner schwarzen Kriegszaubererkleidung mit dem goldenen Cape und die Mutter in ihrem ursprünglichen weißen Kleid waren, die hier bestaunt wurden, und nicht so sehr die Gruppe von Soldaten und die beiden Mord-Sith – Soldaten gab es überall, und die Menschen in der Stadt hatten wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, wer die beiden Frauen in brauner Lederkleidung waren.
Die Menschen auf den Straßen und in den kleinen Gassen schoben ihre Karren mit Gemüse, Holz oder Haushaltsgütern zur Seite, um Platz zu machen. Andere standen an den Wänden und sahen zu, als sei es eine improvisierte Miniaturparade, die unerwarteterweise durch ihre Gegend kam.
An Kreuzungen jubelten Soldaten auf Patrouille ihrem Lord Rahl zu und bedankten sich lautstark für ihre Heilung.
Richard hielt Kahlan fest an der Hand. Seit Verlassen des Palastes hatten sie kein einziges Wort gesprochen. Er hatte Nadine gezwungen, hinter ihnen zu gehen, zwischen den beiden Mord-Sith. Er hoffte, daß die Frau klug genug war, den Mund zu halten.
Yonick zeigte nach vorn. »Gleich da hinauf.«
Sie folgten ihm, als er von der Straße in eine enge Gasse zwischen Steinmauern einbog, die das untere Stockwerk eines Hauses bildeten. Wasser, das vom tauenden Schnee oben herabtröpfelte, spritzte den Matsch aus der Gasse ein paar Fuß hoch an die Mauern. Mit einer Hand hatte Kahlan Richards Hand gefaßt, mit der anderen hielt sie den Saum ihres Kleides hoch und folgte ihm über die Reihe von Bohlen, die man in den Schlamm gelegt hatte.
Vor einer Tür unter einem kleinen Vordach blieb Yonick stehen. Die Menschen zu beiden Seiten sahen neugierig aus den Fenstern. Als Richard ihn eingeholt hatte, öffnete der Junge die Tür und rannte, nach seiner Mutter rufend, die Stufen hoch.
Am oberen Ende der Treppe öffnete sich quietschend eine Tür. Eine Frau in einem braunen Kleid mit weißer Schürze starrte dem Jungen entgegen, der die Treppe hochgelaufen kam.
»Mutter – es ist Lord Rahl! Ich habe Lord Rahl mitgebracht!«
»Den Guten Seelen sei Dank!« rief sie.
Sie legte ihrem Sohn erschöpft eine Hand auf den Rücken, als er ihr die Arme um die Hüfte schlang. Mit der anderen Hand deutete sie auf eine Tür im Hintergrund des kleinen, als Küche, Eß- und Wohnzimmer genutzten Raumes.
»Danke, daß Ihr gekommen seid«, sagte sie undeutlich zu Richard, brach aber in Tränen aus, bevor sie den Satz beenden konnte.
Yonick rannte ins hintere Zimmer. »Hier entlang, Lord Rahl.«
Richard drückte der Frau im Vorbeigehen den Arm, um sie zu beruhigen, und folgte Yonick. Kahlan hielt seine andere Hand noch immer fest umklammert. Nadine und Drefan folgten ihnen auf dem Fuße, dahinter Cara und Raina. Als die übrigen hereinkamen, hielt Yonick sie an der Schlafzimmertür zurück.
Eine einzelne Kerze auf einem kleinen Tisch kämpfte fast vergeblich gegen das Leichentuch der Dunkelheit an. Eine Schüssel mit Wasser und einem seifigen Lappen hielt neben der Kerze Wache.
Der Rest des Zimmers, das größtenteils von drei Strohlagern eingenommen wurde, schien nur darauf zu lauern, daß die Bemühungen der Kerze erlahmten und die Nacht von dem Zimmer Besitz ergreifen konnte.
Auf dem hintersten Strohlager lag eine schmächtige Gestalt. Richard, Kahlan, Nadine und Drefan drängten sich um sie. Yonick und seine Mutter, Silhouetten im Licht aus dem Nebenraum, standen am Rand der Dunkelheit und sahen zu.
Im Zimmer roch es nach verfaultem Fleisch.
Drefan schlug die Kapuze seines flachsenen Gewandes zurück. »Öffnet die Läden, damit ich etwas erkennen kann.«
Cara zog beide Läden auf, schob sie gegen die Wand und ließ Licht in das winzige Zimmer, so daß man einen blondschöpfigen Jungen sehen konnte, der bis zum Hals in ein weißes Laken und eine Decke eingehüllt war. Sein Hals war stark angeschwollen. Sein ungleichmäßiger Atem rasselte.
»Wie heißt er?« rief Drefan nach hinten zur Mutter.
»Kip«, weinte sie jämmerlich.
Drefan tätschelte dem Jungen die Schulter. »Wir sind hier, um dir zu helfen, Kip.«
Nadine drängte sich dazwischen. »Ja, Kip, wir werden dich im Nu wieder auf den Beinen haben.«
Sie legte die Hand wegen des fauligen Gestanks, der ihnen allen den Atem raubte, über Nase und Mund.
Der Junge reagierte nicht. Er hielt die Augen geschlossen. Das verschwitzte Haar klebte ihm auf seiner Stirn.
Der Hohepriester der Raug'Moss schlug die Bettdecke bis zu Kips Hüften auf, bis unterhalb der Hände, die auf seinem Bauch ruhten. Die Fingerspitzen des Jungen waren schwarz.
Drefan versteifte sich. »Gütige Seelen«, entfuhr es ihm kaum hörbar.
Er ließ sich auf die Fersen zurücksinken und tippte mit dem Handrücken gegen die Beine der beiden Mord-Sith, die sie von hinten überragten.
»Schafft Richard hier raus«, drängte er sie leise. »Schafft ihn raus, sofort.«
Ohne Fragen zu stellen, schoben Cara und Raina ihre Hände unter Richards Arme und schickten sich an, ihn hochzuzerren. Richard befreite sich mit einem Ruck aus ihrem Griff.
»Was soll das?« wollte er wissen. »Was ist?«
Drefan wischte sich mit der Hand über den Mund. Er blickte über die Schulter zu Yonick und seiner Mutter. Sein Blick erfaßte die übrigen und kam dann auf Richard zur Ruhe. Er beugte sich weiter vor.
»Der Junge hat die Pest.«
Richard starrte ihn an.
»Was haben wir, um ihn heilen zu können?«
Drefan zog die Augenbrauen hoch. Er wandte sich wieder dem Jungen zu und hielt eine seiner kleinen Hände hoch. »Sieh dir seine Finger an.« Sie waren schwarz. Er zog die Bettdecke zur Seite. »Sieh dir seine Zehen an.« Die waren ebenfalls schwarz. Er öffnete die Hose des Jungen. »Sieh dir seinen Penis an.« Auch dessen Spitze war schwarz.
»Das ist Brand. Er zersetzt die Gliedmaßen. Deswegen nennt man diese Krankheit den Schwarzen Tod.«
Richard räusperte sich. »Was können wir für ihn tun?«
Drefan senkte die Stimme noch mehr. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Richard? Der Schwarze Tod. Manchmal erholen sich Menschen wieder von der Pest, aber nicht, wenn die Krankheit so weit fortgeschritten ist.«
»Wären wir eher zu ihm gekommen…« Nadine ließ ihren Vorwurf unbeendet.
Kahlans Hand krallte sich in Richards Arm. Er hörte, wie sie einen Aufschrei unterdrückte.
Richard funkelte Nadine wütend an. Sie wendete den Blick ab.
»Und, Kräuterfrau, weißt du, wie man die Pest kuriert?« fragte Drefan voller Spott.
»Na ja, ich –« Nadine wurde rot und verstummte.
Die Lider des Jungen öffneten sich flatternd. Er wälzte den Kopf in ihre Richtung.
»Lord … Rahl«, hauchte er flach atmend.
Richard legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja, Kip. Ich bin gekommen, um mir dich anzusehen. Ich bin hier.«
Kip nickte kaum merklich. »Ich habe schon gewartet.« Seine Brust hielt nach jedem Atemzug länger inne.
»Was könnt Ihr tun, um ihm zu helfen?« hörten sie eine tränenvolle Frage von der Tür. »Wann wird er wieder gesund werden?«
Drefan öffnete den Kragen seines weißen Rüschenhemdes und beugte sich noch näher zu Richard. »Sag irgend etwas Nettes zu dem Jungen – mehr können wir nicht tun. Er wird nicht mehr lange durchhalten. Ich gehe und spreche mit der Mutter. Das gehört zur Arbeit eines Heilers dazu.«
Sein Halbbruder erhob sich und zog Nadine mit sich fort. Kahlan lehnte sich an Richards Schulter. Er hatte Angst, sie anzusehen, weil sie dann in Tränen ausbrechen könnte. Weil er dann in Tränen ausbrechen könnte.
»Bald bist du wieder auf den Beinen und wirst Ja'La spielen, Kip. Du hast die Krankheit so gut wie überstanden. Ich würde gerne kommen und mir eins deiner Ja'La-Spiele ansehen. Ich verspreche dir, ich komme, sobald es dir wieder bessergeht.«
Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen. Seine Lider schlossen sich halb. Sein Brustkorb senkte sich, als der Atem aus seinen Lungen wich.
Richard hockte da und lauerte klopfenden Herzens darauf, daß die Lungen des Jungen sich wieder füllten. Sie taten es nicht.
Stille senkte sich über das Zimmer und wartete geduldig darauf, daß es wieder dunkel wurde.
Richard hörte von draußen das Quietschen der Räder eines Handkarrens und das ferne, heisere Geschrei von Raben. Helles Kinderlachen wehte in der Luft vorbei.
Das Kind vor ihm würde nie wieder lachen.
Kahlans Kopf fiel gegen seine Schulter. Leises Schluchzen überkam sie, während sie sich in seinen Ärmel krallte.
Richard zog das Laken über den toten Körper.
Langsam hob sich die Hand des Jungen von seinem Bauch. Richard erstarrte.
Die Hand schwebte zielbewußt auf Richards Kehle zu. Die schwarzen Finger krümmten sich und krallten sich mit tödlich festem Griff in Richards Hemd.
Kahlan erstarrte.
Sie beide wußten, daß der Junge gerade eben gestorben war.
Die Hand des Jungen zog Richard näher heran. Die längst verstummten Lungen füllten sich noch einmal mit einem Atemzug.
Richard, dem sich die Nackenhaare sträubten, ging mit seinem Ohr ganz nahe heran.
»Die Winde«, flüsterte der tote Junge, »machen Jagd auf dich.«