Als sie sah, daß Drefan ihr entgegenkam, stellte Kahlan den Korb mit den sauberen Verbänden und Lappen ab. Drefan hatte noch immer ein Schwert umgeschnallt, obwohl Richard dies lediglich als Teil des Täuschungsmanövers angeordnet hatte, mit dem er Tristan davon überzeugen wollte, daß sein Plan funktionierte. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee. Einige Menschen begannen, eine Abneigung gegen Heiler zu entwickeln, weil sich diese offen gegen die Tränke und Heilmittel aussprachen, die in den Straßen feilgeboten wurden.
Sie strich ihr Haar zurück. »Wie geht es ihnen?«
Drefan blickte seufzend nach hinten in den Flur. »Einer ist gestern abend gestorben. Den meisten geht es schlechter. Heute haben wir sechs neue Fälle bekommen.«
»Gütige Seelen«, sagte sie leise. »Was soll nur aus uns werden?«
Drefan hob ihr Kinn an. »Wir werden es schon überstehen.«
Kahlan nickte. »Drefan, wenn so viele Dienstboten erkranken und so viele bereits gestorben sind, was nützt dann eigentlich dieser höllische Rauch?«
»Gegen die Pest hilft der Rauch nicht.«
Kahlan sah ihn fassungslos an. »Wieso müssen wir dann damit weitermachen?«
Drefan lächelte traurig. »Die Leute glauben, er schränkt die Ausbreitung der Seuche ein. Sie fühlen sich besser, weil wir etwas unternehmen, außerdem gibt es ihnen Hoffnung. Hören wir damit auf, werden sie denken, es besteht keine Hoffnung mehr.«
»Und? Besteht denn noch Hoffnung?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte er leise.
»Hast du schon den Bericht von gestern abend gehört?«
Er nickte. »Während der letzten Wochen ist die Zahl der Toten weiter gestiegen. Gestern nacht lag sie bei über sechshundert.«
Kahlan wandte mutlos den Blick ab. »Wenn wir nur etwas tun könnten.«
Shota hatte ihr erklärt, es werde sich ein Weg auftun. Die Ahnenseele hatte ihr das gleiche gesagt. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Richard zu verlieren, aber ebensowenig wurde sie mit all den sterbenden Menschen fertig.
»Nun«, meinte Drefan, »ich werde jetzt meine Runde durch die Stadt machen.«
Kahlan ergriff seinen Unterarm. Er erschrak, eine Reaktion, die sie als Konfessor gewöhnt war. Sie zog ihre Hand zurück. »Ich weiß, du kannst sie nicht aufhalten, trotzdem möchte ich dir für deine Hilfe danken. Den Lebenden gibt es schon Hoffnung, wenn du nur mit ihnen sprichst.«
»Worte sind das beste Hilfsmittel eines Heilers. Oft können wir ohnehin nicht mehr tun. Die meisten glauben, Heiler zu sein bedeutet, daß man Menschen gesund macht. Das geschieht eigentlich nur selten. Vor langer Zeit habe ich gelernt, Heiler zu sein bedeutet, daß man sich mit Schmerz und Leid abfinden muß.«
»Wie geht es Richard? Hast du ihn heute morgen schon gesehen?«
»Er befindet sich in seinem Arbeitszimmer. Er sah gut aus. Ich habe ihn überredet, ein wenig zu schlafen.«
»Gut. Er konnte etwas Ruhe gebrauchen.«
Drefan blickte sie aus seinen blauen Augen prüfend an. »Er hat bei dem Mann, der versucht hat, dich zu töten, getan, was er tun mußte, aber ich weiß, daß es ihm bei aller Entschlossenheit fürchterlich schwergefallen ist. Richard nimmt den Tod eines Mannes nicht auf die leichte Schulter, selbst wenn der ihn mehr als verdient hat.«
»Ja«, sagte Kahlan. »Das Todesurteil gegen diesen Mann belastet ihn sehr. Auch ich war schon gezwungen, den Tod von Menschen anzuordnen. In Friedenszeiten hat man den Luxus der Ordnung, in einem Krieg aber ist man gezwungen zu handeln. Zögern bedeutet den Tod.«
»Hast du das Richard erklärt?«
Kahlan lächelte. »Natürlich. Er weiß, daß er getan hat, was er tun mußte, und daß wir alle, die ihm nahestehen, Verständnis für seine Entscheidung haben. Ich hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt, und das habe ich ihm auch gesagt.«
»Hoffentlich finde ich eines Tages eine Frau, die nur halb so stark ist wie du.« Drefan lächelte. »Von deiner Schönheit ganz zu schweigen. Wie auch immer, ich muß los.«
Kahlan sah ihm nach, als er ging. Seine Hose war nach wie vor zu eng. Bei dem Gedanken errötete sie und ging wieder an ihre Arbeit.
Nadine hielt sich im Krankensaal auf und versorgte die Menschen, die in zwei Bettenreihen lagen. In der Krankenstation standen zwanzig Betten, und alle waren belegt. Weitere Menschen lagen auf Decken auf dem Fußboden. In anderen Zimmern lagerten noch mehr Kranke.
»Danke«, sagte Nadine, als Kahlan die sauberen Sachen abstellte, die sie mitgebracht hatte. Sie war damit beschäftigt, Kräuter in Kannen zu füllen und Tee zuzubereiten. Andere Frauen, die die Kranken versorgten, wechselten Laken, säuberten und verbanden offene Geschwüre oder brachten den Patienten Tee.
Nadine zog ein Tuch aus dem Korb, tauchte es in ein Becken mit Wasser, wrang es aus und legte es einer stöhnenden Frau auf die Stirn. Sie berührte die Kranke an der Schulter.
»Hier, meine Liebe. Ist es besser so?«
Die Frau brachte nur ein schwaches Lächeln und ein Nicken zustande.
Kahlan versorgte mehrere andere Menschen auf dieselbe Art, tupfte ihnen die schweißnassen Gesichter mit einem feuchten Lappen ab und sprach ein paar tröstliche Worte zu ihnen.
»Ihr wäret eine gute Heilerin«, sagte Nadine und blieb neben Kahlan stehen. »Ihr habt eine freundliche Art.«
»Das ist auch schon alles. Ich könnte niemanden gesund machen.«
Nadine beugte sich zu ihr vor. »Glaubt Ihr vielleicht, ich?«
Kahlan blickte sich im Saal um. »Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Aber wenigstens habt Ihr Euer Leben dem Helfen von Menschen gewidmet. Mein Leben ist der Pflicht gewidmet. Dem Kampf.«
»Wie meint Ihr das?«
»Letztendlich bin ich eine Kriegerin. Meine Pflicht besteht darin, den einen Menschen Leid zuzufügen, um die anderen zu retten. Wenn jemand wie ich mit der Arbeit fertig ist, bleibt es jemandem wie Euch überlassen, die Übriggebliebenen wieder gesund zu machen.«
Nadine trat dicht an sie heran. »Manchmal wünschte ich, eine Kriegerin zu sein, die sich für das Ende des Leidens einsetzt, damit die Heiler nicht so viele Verwundete zu versorgen hätten.«
Schließlich mußte Kahlan den Krankensaal verlassen. Sie ertrug den Gestank nicht mehr, außerdem wurde ihr schlecht vom Rauch. Nadine empfand ebenso und begleitete sie nach draußen. Die beiden ließen sich mit dem Rücken an der Wand hinabgleiten und setzten sich auf den Fußboden.
»Ich komme mir so hilflos vor«, sagte Nadine. »Wenn zu Hause jemand Kopfschmerzen hatte, dann habe ich ihm ein Mittel gegeben, und nach einer Weile ging es ihm besser. Wenn eine Frau schwanger war, dann half ich ihr, ihren Magen zu beruhigen, oder ich half ihr, das Kind zu gebären, wenn es soweit war. Stets habe ich den Menschen auf irgendeine Art helfen können.
Hier liegt die Sache anders. Ich tue nichts weiter, als Menschen zu trösten, die sterben werden, und frage mich dabei die ganze Zeit, ob ich morgen nicht selbst im Bett liege. Bei keinem von ihnen weiß ich so recht, was ich für ihn tun kann. Ich komme mir so hilflos vor. Ich sehe nur zu, wie diese Menschen sterben.«
»Ich weiß«, antwortete Kahlan leise. »Es ist bestimmt sehr viel befriedigender, einer Frau beizustehen, die ein Kind zur Welt bringt.«
Nadine blickte gedankenversunken an die gegenüberliegende Wand. »Gelegentlich sagt eine Frau zu mir, sie habe das Gefühl, es werde nie soweit kommen, alles erscheine ihr unwirklich. Sie wartet ab, weil sie weiß, daß es passieren wird, aber eigentlich glaubt sie nicht so recht daran, denn was sie darüber gehört hat, macht ihr angst. Sie fürchtet sich vor den Schmerzen. Manchmal glauben diese Frauen, alles könnte sich verändern, und eines Tages könnten sie aufwachen und wären nicht mehr schwanger.
Dann kommt das Kind. Auf einmal geraten sie in Panik. Es ist soweit. Sie haben fürchterliche Angst, daß es jetzt tatsächlich geschieht, endlich. Dann und wann schreien sie, nur aus Angst vor den Schmerzen. Dabei kann ich ihnen helfen. Ich bin bei ihnen. Ich tröste sie, daß alles gutgehen wird.
In diesem Augenblick glauben manche dann zum ersten Mal wirklich daran. Wahrscheinlich ist es ganz natürlich, sich vor einer solch einschneidenden Veränderung im Leben zu fürchten. Bis es vorbei ist, bis der Tag angebrochen ist, leiden sie fürchterlich unter dieser Angst.«
Die beiden saßen zusammen in der Stille des Flures, ruhten sich aus und horchten auf das Stöhnen aus dem Krankensaal.
»Ihr glaubt noch immer, daß Ihr Richard am Ende heiraten werden, nicht wahr, Nadine?«
Nadine sah herüber und kratzte sich an der sommersprossigen Nase, antwortete aber nicht.
»Ich frage das nicht, weil – weil ich Euch Vorwürfe machen will oder so. Ich meinte nur, na ja, wie Ihr gesagt habt, vielleicht endet Ihr in einem der Betten dort. Ich dachte … es kann genausogut mich treffen. Ich könnte mich ebenfalls mit der Pest anstecken.«
Nadine sah sie an. »Nein, Ihr nicht. Sagt so etwas nicht. Ihr werdet Euch nicht anstecken.«
Kahlan fuhr mit dem Daumennagel an einer Ritze zwischen den Dielenbrettern entlang. »Aber es könnte sein. Ich dachte nur, wenn es geschähe, was würde dann aus Richard? Er wäre auf sich allein gestellt.«
»Was redet Ihr da?«
Kahlan blickte Nadine in die sanften braunen Augen. »Wenn Ihr am Ende aus irgendeinem Grund diejenige wärt, die bei ihm ist, und nicht ich, dann würdet Ihr ihn doch gut behandeln, oder? Ihr würdet ihn doch immer gut behandeln, nicht wahr?«
Nadine schluckte. »Natürlich würde ich das.«
»Es ist mir ernst, Nadine. Zur Zeit geschieht so viel. Ich will sicher sein können, daß Ihr ihm niemals weh tun würdet.«
»Das würde ich niemals tun.«
»Ihr habt ihm bereits einmal weh getan.«
Nadine wandte sich ab und kratzte sich an der Schulter. »Das war etwas anderes. Ich habe versucht, ihn für mich zu gewinnen. Da hätte ich alles getan, damit er bei mir bleibt. Das habe ich Euch doch schon erklärt.«
»Ich weiß.« Kahlan spielte an einem kleinen Stein herum, der in einer Ritze des Fußbodens klemmte. »Aber angenommen, es passiert etwas, und es stellt sich heraus, daß Ihr diejenige seid, die … die ihn heiraten wird, dann will ich sicher sein, daß ihr ihm so etwas nie wieder antut.
Ich möchte aus Eurem Mund hören, daß Ihr Richard nie wieder verletzen werdet. Niemals.«
Nadine sah Kahlan kurz in den Augen, dann blickte sie rasch zur Seite.
»Wenn ich Richard bekäme, dann würde ich ihn zum glücklichsten Mann auf der Welt machen. Ich würde mich um ihn bemühen, wie sich noch keine Frau um einen Mann bemüht hat. Ich würde ihn mehr lieben als – also, ich würde alles tun, um ihn glücklich zu sehen.«
Kahlan spürte den vertrauten, nagenden Schmerz in ihrem Innern. »Schwört Ihr, daß das die Wahrheit ist?«
»Ja.«
Kahlan wandte den Blick ab und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Danke, Nadine. Das war es, was ich wissen wollte.«
»Warum stellt Ihr solche Fragen?«
Kahlan räusperte sich. »Wie gesagt mache ich mir Sorgen, ich könnte ebenfalls die Pest bekommen. Sollte mir irgend etwas zustoßen, könnte ich es leichter ertragen, wenn ich wüßte, daß jemand sich um Richard kümmert.«
»Soviel ich weiß, kümmert Richard sich meist um sich selbst. Wißt Ihr, daß der Mann besser kochen kann als ich?«
Kahlan mußte lachen, und Nadine fiel mit ein.
»Ist es nicht so?« meinte Kahlan. »Was Richard anbelangt, kann eine Frau höchstens darauf hoffen, ihn auf seinem Weg zu begleiten.«
»Lord Rahl!«
Richard drehte sich um und sah, daß General Kerson nach ihm rief. Er ließ Kahlans Hand los. Cara kam abrupt hinter der Mutter Konfessor zum Stehen.
»Ja, was ist, General?«
Der General blieb, einen Brief schwenkend, stehen, ihm folgten ein staubüberzogener, erschöpft wirkender Soldat und seine übliche Eskorte.
»Eine Nachricht von General Reibisch und seiner Armee im Süden.« Der General deutete mit dem Daumen nach hinten. »Grissom hier ist eben erst eingetroffen.«
Richard sah kurz zu dem jungen Soldaten hinüber, der immer noch keuchte und um Atem rang. Er roch nach Pferd. Richard überlegte, daß auch er viel lieber wie ein Pferd riechen und draußen herumstreifen würde, als Tag für Tag in einem winzigen Zimmer zu hocken und diesen unsinnigen Bericht über eine Verhandlung und eine Hinrichtung zu übersetzen. Dann würde er sich vermutlich anders fühlen.
Er erbrach das Siegel und öffnete den Brief. Nachdem er ihn durchgelesen hatte, reichte er ihn an Kahlan weiter.
»Sieh dir das an.« Während Kahlan die Nachricht las, wandte er sich an den Boten. »Wie steht es um eure Armee im Süden?«
»Als ich sie verließ, sehr gut, Lord Rahl«, antwortete Grissom. »Die Schwestern des Lichts haben uns eingeholt, wie Ihr es ihnen befohlen habt. Sie befinden sich alle bei uns. Wir erwarten Eure Befehle.«
Im Brief stand im großen und ganzen das gleiche. Nachdem Kahlan ihn gelesen hatte, nahm Richard ihn und gab ihn General Kerson. Der kratzte sich müßig das graue Haar, während er die Botschaft las. Schließlich sah er auf.
»Was denkt Ihr darüber, Lord Rahl?«
»Für mich ergibt das Sinn. Ich glaube nicht, daß wir zur Zeit alle Männer nach Norden zurückbringen sollten. Wie General Reibisch sagt, stehen sie in einer Stellung, die es ihnen zu erkennen erlaubt, ob die Imperiale Ordnung weit in die Neue Welt vordringt. Was meint Ihr?« fragte Richard, während er den Brief nach hinten an Cara weiterreichte.
Der General zog seine Hosen hoch. »Ich bin mit Reibisch einer Meinung. An seiner Stelle würde ich dasselbe tun. Er steht bereits dort unten, warum sollte man ihn also nicht mit einer vernünftigen Aufgabe betrauen? Wie er anmerkt, wäre es das beste, wenn man wüßte, was die Imperiale Ordnung plant. Sollte der Feind dann tatsächlich nach Norden marschieren, ist er in der Lage, ihm gehörig in den Arsch zu treten.« Er zuckte erschrocken zusammen. »Verzeihung, Mutter Konfessor.«
Kahlan lächelte. »Mein Vater war Krieger, bevor er König wurde, General. Das ruft Erinnerungen wach.« Ob es sich um gute Erinnerungen handelte, verschwieg sie. »Ich bin ebenfalls der Ansicht, es wäre strategisch von Vorteil, dort eine Armee stehen zu haben.«
Cara gab Richard den Brief zurück. »In dem anderen Punkt hat er ebenfalls recht. Wenn er seine Stellung verläßt und die Imperiale Ordnung nach Nordosten marschiert, könnte sie ohne Gegenwehr weit nach D'Hara eindringen. Wir würden nicht einmal etwas davon erfahren. Dieser Teil von D'Hara ist spärlich besiedelt. Die Imperiale Ordnung könnte nach Norden ziehen, und wir würden erst etwas davon mitbekommen, wenn sie nach Westen schwenken, wieder zurück in die Midlands.«
»Es sei denn, sie halten geradewegs auf den Palast des Volkes zu«, gab der General zu bedenken.
»Das Herz D'Haras anzugreifen wäre ein schwerwiegender Fehler«, meinte Cara. »Kommandant General Trimack von der Ersten Rotte der Palastwache würde dem Feind zeigen, weshalb noch keine Armee den Palast angegriffen hat, ohne daß auch nur ein einziger Soldat überlebt hätte, um die Geschichte ihrer blutigen Niederlage zu erzählen. Die Kavallerie würde sie draußen in den Ebenen von Azrith in Fetzen reißen.«
»Sie hat recht«, sagte der General. »Wenn die Armee dorthin marschiert, wird das ein Fressen für die Geier – dafür würde Trimack sorgen. Wenn sie tatsächlich in Richtung Nordosten nach D'Hara marschiert sind, dann deshalb, weil sie uns an der Flanke angreifen wollen. Am besten überlassen wir Reibisch die Bewachung des Tores.«
Richard wollte noch aus einem anderen Grund, daß General Reibischs Armee im Süden blieb.
»Lord Rahl«, sagte der Bote, »darf ich mir eine Frage erlauben?«
»Natürlich. Was ist denn?«
Grissom nestelte nervös am Heft seines kurzen Schwertes. »Was ist in der Stadt los? Ich meine, ich habe Männer gesehen, die Karren mit Leichen ziehen, und andere, die durch die Straßen gehen und den Leuten zurufen, sie sollen ihre Toten nach draußen schaffen.«
Richard holte tief Luft. »Das ist der andere Grund, aus dem General Reibisch unten im Süden bleiben sollte. In den Midlands ist die Pest ausgebrochen. Gestern nacht sind siebenhundertfünfzig Menschen umgekommen.«
»Die Seelen mögen uns davor bewahren.« Grissom wischte sich die Handflächen an den Hüften ab. »Ich hatte so etwas schon befürchtet.«
»Bringt meine Antwort sofort zurück zu General Reibisch. Ihr wart hier, und ich will nicht, daß Ihr die Pest auch noch bei ihm einschleppt. Gebt die Nachricht mündlich weiter, sobald Ihr dort eintrefft.
Nähert Euch keinem seiner Männer, oder, was das anbelangt, überhaupt niemandem weiter als nötig, um verstanden zu werden. Sobald Ihr die dortigen Vorposten erreicht, teilt ihnen mit, sie sollen die Nachricht an General Reibisch überbringen. Richtet ihm aus, ich fände seine Argumentation vernünftig. Der gesamte Kommandostab hier ist mit ihm einer Meinung. Sagt ihm, er soll mit der Durchführung seiner Pläne fortfahren und uns auf dem laufenden halten.
Nachdem Ihr hiergewesen seid, könnt Ihr nicht mehr zu diesen Männern zurück. Nach Überbringen der Nachricht wird Euch nichts anderes übrigbleiben, als hierher zurückzukehren. Nehmt eine ausreichend große Patrouille mit, damit gewährleistet ist, daß unsere Anweisungen ans Ziel gelangen. Anschließend reitet Ihr alle zurück nach Aydindril.«
Grissom salutierte mit einem Faustschlag aufs Herz. »Es wird geschehen, wie Ihr befehlt, Lord Rahl.«
»Ich wünschte, ich könnte Euch zu Euren Kameraden zurücklassen, Soldat, aber die Seuche darf um keinen Preis auf die Armee übergreifen. Wir haben die Soldaten hier um die ganze Stadt herum verteilt, damit sie sich nicht anstecken. Das könnt Ihr ihm ebenfalls berichten.«
General Kerson kratzte sich im Gesicht. »Äh, Lord Rahl, ich muß Euch etwas beichten. Ich habe es eben selbst erst erfahren.«
Richard runzelte die Stirn, als er den plötzlich so gequälten Gesichtsausdruck des Generals sah. »Was gibt es denn?«
»Nun, äh, die Pest ist bereits unter unseren Männern ausgebrochen.«
Richard spürte sein Herz bis in den Hals schlagen. »Welche Gruppe?«
Der General wischte sich mit der Hand über den Mund. »Alle, Lord Rahl. Wie es scheint, haben die Huren die Feldlager aufgesucht. Die Frauen dachten, nach all den Morden wäre das sicherer, als ihrem Geschäft in der Stadt nachzugehen. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Krankheit ausbreitet, Drefan erklärte mir jedoch, es könnte sich auf diese Weise zugetragen haben.«
Richard preßte sich Daumen und Zeigefinger an die Schläfen. Am liebsten würde er aufgeben. Sich einfach auf den Boden setzen und aufgeben.
»Ich hätte Tristan Bashkar niemals hinrichten lassen dürfen. Ich hätte ihn diesen Frauen vorwerfen sollen. Am Ende wären dadurch unzählige Menschenleben gerettet worden. Hätte ich das geahnt, hätte ich sie alle eigenhändig umgebracht.«
Er spürte, wie ihm Kahlan die Hand auf den Rücken legte.
»Gütige Seelen«, hauchte er. Mehr fiel ihm nicht ein. »Gütige Seelen, was tun wir uns nur selbst an? Diese Frauen haben soeben, ohne es zu wissen, einen Angriff für Jagang geführt.«
»Wollt Ihr, daß sie hingerichtet werden, Lord Rahl?« fragte General Kerson.
»Nein«, antwortete Richard mit ruhiger Stimme. »Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen. Das hätte jetzt keinen Zweck mehr. Sie haben damit nicht absichtlich Unheil anrichten wollen. Sie waren lediglich um ihre Sicherheit besorgt.«
Richard rief sich die Worte eines Mannes aus der Tempelmannschaft ins Gedächtnis, kurz bevor er hingerichtet wurde. Ich kann nicht länger gutheißen, was wir mit unserer Gabe tun. Wir sind weder der Schöpfer, noch sind wir der Hüter. Selbst eine leidige Hure hat das Recht, ihr Leben so zu gestalten, wie sie will.
»Grissom, stellt eine Patrouille zusammen, und sobald Ihr etwas gegessen und Euch ausgeruht habt, überbringt Ihr General Reibisch meine Nachricht.«
Grissom salutierte abermals. »Jawohl, Lord Rahl. Ich beschaffe Nahrungsmittel und Vorräte und bin in einer Stunde wieder unterwegs.«
Richard nickte. Der Bote verabschiedete sich.
»Lord Rahl«, sagte der General, »wenn weiter nichts anliegt, sollte ich mich besser um meine Aufgaben kümmern.«
»Doch General, da wäre noch etwas. Entfernt die kranken Soldaten aus den Lagern. Verlegt sie in gesonderte Lager. Mal sehen, ob wir die Seuche nicht eindämmen können. Möglicherweise können wir sie sogar ganz eingrenzen.
Außerdem sollen alle Huren aus den Feldlagern verschwinden. Alle. Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise, die weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Laßt alle Frauen warnen, sich unter Androhung der Todesstrafe von den Lagern fernzuhalten. Gehen sie trotz Anruf weiter, laßt sie von den Bogenschützen niederschießen.«
Der General seufzte schwer. »Verstanden, Lord Rahl. Ich werde außerdem jene Männer aussondern, die mit den Frauen zusammen waren, und sie die kranken Soldaten versorgen lassen.«
»Gute Idee.«
Richard legte Kahlan die Arme um die Hüfte und sah zu, wie der General und seine Garde davoneilten. »Warum bin ich nicht eher darauf gekommen? Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich die Pest vielleicht von den Soldaten fernhalten können.«
Darauf wußte Kahlan keine Antwort.
»Lord Rahl«, meinte Cara. »Ich gehe jetzt hinauf zur Sliph und löse Berdine ab.«
»Ich werde Euch begleiten. Mich interessiert, ob Berdine etwas in dem Tagebuch gefunden hat. Außerdem möchte ich für eine Weile hier raus. Willst du mich begleiten?« fragte er Kahlan.
Sie zog ihn fest an sich. »Gerne.«
Berdine hatte sich über das Tagebuch gebeugt und las. Die Sliph wandte den Blick Richard zu, noch bevor die Mord-Sith aufsah.
»Möchtest du reisen, mein Herr und Meister? Du wirst zufrieden sein.«
»Nein«, antwortete Richard, als das Echo ihrer unheimlichen Stimme verhallt war. »Danke, Sliph, aber im Augenblick nicht.«
Berdine lehnte sich zurück, reckte die Arme und gähnte. »Bin ich froh, daß du kommst, Cara. Mir fallen die Augen zu.«
»Du siehst wirklich aus, als könntest du ein wenig Schlaf gebrauchen.«
Richard deutete auf das aufgeschlagene Tagebuch vor ihr auf dem Tisch. »Irgend etwas Neues?«
Berdine betrachtete beim Aufstehen kurz die Sliph. Sie nahm das Tagebuch in die Hand, drehte es herum und hielt es ihm hin. Dann beugte sie sich vor und senkte die Stimme.
»Ihr erinnert Euch doch noch, wie Ihr mir von den Worten des Mannes kurz vor seiner Hinrichtung erzählt habt. Was er über die leidigen … Frauen sagte, die auch ein Recht auf ihr Leben hätten?«
Richard wußte, wovon Berdine sprach. »Ja. Ihr meint den Zauberer Ricker.«
»Genau den. Nun, Kolo erwähnt es kurz.« Sie tippte auf eine Stelle im Tagebuch. »Hier.«
Richard studierte den Satz einen Augenblick lang, bis er ihn im Kopf übersetzt hatte. »›Rickers leidige Prostituierte beobachtet mich, während ich hier sitze und darüber nachdenke, welchen Schaden die Mannschaft angerichtet hat. Heute hörte ich, daß wir Lothian verloren haben. Ricker hat seine Rache bekommen.‹«
»Wißt Ihr, wer dieser Lothian ist?« fragte Berdine.
»Er war der oberste Ankläger im Verfahren des Tempels der Winde. Er war es, der loszog, um den Schaden zu beheben, den die Mannschaft angerichtet hatte.«
Richard hob den Kopf. Die Sliph beobachtete ihn. Er trat zu ihr.
Die Idee war ihm zuvor nie gekommen. Wieso hatte er daran noch nicht gedacht?
»Sliph.«
»Ja, mein Herr und Meister. Du möchtest reisen? Komm, du wirst zufrieden sein.«
»Nein, ich möchte nicht reisen, sondern mit dir reden. Erinnerst du dich an die Zeit, es ist lange her, als ein gewaltiger Krieg tobte?«
»Lang? Ich bin lang genug, um zu reisen. Sag mir, wohin du willst. Du wirst zufrieden sein.«
»Nein, ich spreche nicht vom Reisen. Kannst du dich an Namen erinnern?«
»Namen?«
»Namen. Erinnerst du dich an den Namen Ricker?«
Das silberne Gesicht sah ihn ohne Regung an. »Ich verrate meine Kunden nie.«
»Sliph, du warst mal ein Mensch, nicht wahr? Ein Mensch wie ich?«
Die Sliph lächelte. »Nein.«
Richard legte eine Hand auf Kahlans Schulter. »Ein Mensch wie sie?«
Das silberne Lächeln wurde breiter. »Ja, ich war eine Hure wie sie.«
Kahlan hüstelte. »Ich glaube, Richard wollte fragen, ob du eine Frau warst, Sliph.«
»Ja, ich war auch eine Frau.«
»Wie lautete dein Name?« fragte Richard.
»Name?« Die Sliph runzelte die Stirn, als wäre sie verwirrt. »Ich bin die Sliph.«
»Wer hat dich zur Sliph gemacht?«
»Einige meiner Kunden.«
»Warum? Warum haben sie dich zur Sliph gemacht?«
»Weil ich meine Kunden niemals preisgebe.«
»Sliph, könntest du das vielleicht etwas genauer erklären?«
»Einige der Zauberer hier in diesem Palast waren meine Kunden. Die Allermächtigsten. Ich war eine sehr wählerische Hure und sehr teuer. Viele der Zauberer wetteiferten um Macht. Manche wollten mich dazu benutzen, einige meiner Kunden zu verschleppen. Wieder andere wollten mich für ihr Vergnügen haben, aber nicht die Art von Vergnügen, das ich ihnen bot. Ich gebe meine Kunden niemals preis.«
»Du willst damit sagen, sie wären erfreut gewesen, hättest du ihnen die Namen der Zauberer verraten, die zu dir kamen, und darüber hinaus noch etwas mehr über diese Besuche?«
»Ja. Meine Kunden hatten Angst, diese anderen würden mich für ihr Vergnügen benutzen, deshalb machten sie mich zur Sliph.«
Richard wandte sich ab. Er raufte sich die Haare. Sogar noch während des Krieges gegen den Feind hatten sie sich untereinander bekämpft. Als er seine Gedanken endlich wieder geordnet hatte, drehte er sich wieder zu dem wunderschönen silbernen Gesicht um.
»Diese Männer sind mittlerweile alle tot, Sliph. Es lebt niemand mehr, der diese Männer kennt. Es gibt keine Zauberer mehr, die um Macht wetteifern. Könntest du mir ein wenig mehr erzählen?«
»Sie schufen mich und erklärten mir, ich würde ihre Namen Zeit ihres Lebens nicht aussprechen können. Dies würde ihre Kraft verhindern. Wenn es stimmt, daß ihre Seelen aus dieser Welt geschieden sind, dann ist das nicht mehr von Bedeutung, und ich kann ihre Namen preisgeben.«
»Lothain war einer deiner Kunden, nicht wahr? Und dieser andere Zauberer, Ricker, hielt ihn für einen Heuchler.«
»Lothain.« Das quecksilbrige Gesicht bekam einen milderen Zug, als sie offenbar den Namen in Gedanken ausprobierte. »Zauberer Ricker kam zu mir und sagte, dieser Lothain sei der oberste Ankläger und eine abscheuliche Bestie, der sich gegen mich wenden würde. Ich sollte ihm helfen, Lothain loszuwerden. Ich weigerte mich, meine Kunden zu nennen.«
Richard sprach in die Stille hinein. »Und Rickers Worte stellten sich als wahr heraus. Lothain wandte sich gegen dich und machte dich zur Sliph, damit du nicht gegen ihn aussagen konntest.«
»Ja. Ich erklärte ihm, ich gäbe meine Kunden niemals preis. Er müsse nicht fürchten, daß ich etwas ausplaudere. Er meinte, das spiele keine Rolle, ich sei nur eine Hure, und die Welt werde mich nicht vermissen. Er verdrehte mir den Arm und tat mir weh. Er benutzte mich ohne meine Einwilligung für sein Vergnügen. Nachdem er fertig war, lachte er, und dann sah ich einen Lichtblitz in meinem Kopf.
Anschließend kam Ricker zu mir und erklärte mir, er werde Lothain und Zauberern wie ihm das Handwerk legen. Am Rand meines Brunnens saß er, weinte und sagte, was man mir angetan hätte, tue ihm leid. Er erklärte mir, er wolle der Art und Weise, wie die Magie die Menschen zerstörte, ein Ende bereiten.«
»Warst du traurig?« fragte Berdine. »War es traurig, zur Sliph gemacht zu werden?«
»Sie nahmen mir die Traurigkeit, als sie mich schufen.«
»Haben sie dir auch das Glück genommen?« fragte Kahlan leise.
»Sie ließen mir nur die Pflicht.«
Selbst in diesem Punkt war ihnen ein Fehler unterlaufen. Sie ließen einen Teil der Person, die die Sliph einst gewesen war, übrig, um diese ausnutzen zu können. Dieser Teil unterwarf sich allerdings jedem, der den geforderten Preis bezahlte: Magie. Bei der Einschätzung ihres Wesens war ihnen ein Fehler unterlaufen. Sie benutzten sie, mußten sie aber bewachen, weil sie sich jedem andiente – selbst dem Feind –, der den erforderlichen Preis zahlen konnte.
»Sliph«, sagte Richard. »Es tut mir sehr leid, daß die Zauberer dir das zugefügt haben. Dazu hatten sie kein Recht. Es tut mir sehr leid.«
Die Sliph lächelte. »Zauberer Ricker erklärte mir, sollte irgend ein Herr und Meister jemals diese Worte zu mir sprechen, dann soll ich ihm folgendes von ihm überbringen: ›Abwehr links hinein. Abwehr rechts heraus. Hüte dein Herz vor Stein.‹«
»Was soll das bedeuten?«
»Er hat mir die Worte nicht erklärt.«
Richard war übel. Würden sie wegen eines dreitausend Jahre alten Machtkampfes sterben? Vielleicht hatte Jagang recht. Möglicherweise hatte die Magie wirklich keinen Platz mehr in dieser Welt.
Richard drehte sich zu den anderen um.
»Berdine, Ihr braucht Schlaf. Raina muß früh auf den Beinen sein, um Cara abzulösen. Sie muß ebenfalls ins Bett. Stellt eine Wache vor Kahlans Gemächern auf, und dann ruht Ihr Euch beide etwas aus. Mir reicht es ebenfalls für heute.«
Richard schlief wie ein Toter, als er von einer Hand, die ihn anstieß, aufwachte. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und versuchte in panischem Schrecken seine Gedanken wieder zu sammeln.
»Was? Was ist?« Seine Stimme klang in seinen Ohren wie ein Reibeisen.
»Lord Rahl?« war eine tränenreiche Stimme zu vernehmen. »Seid Ihr wach?«
Richard blinzelte zu der Gestalt hinauf, die eine Lampe in der Hand hielt. Anfangs erkannte er nicht, wer es war.
»Berdine?« Nie zuvor hatte er sie in etwas anderem als ihrer Lederuniform gesehen. Jetzt stand sie in einem weißen Nachthemd mitten in seinem Zimmer. Sie trug ihr Haar offen. Er hatte Berdine noch nie ohne ihren Zopf erlebt. Der Anblick verwirrte ihn.
Richard schwang seine Beine über die Bettkante und streifte hastig seine Hosen über. »Was ist, Berdine? Was ist denn los?«
Sie verschmierte die Tränen in ihrem Gesicht. »Bitte kommt, Lord Rahl.« Sie schluchzte. »Raina ist krank.«