»Herrin Cara?« rief Marlin von unten.
Cara drehte sich um. Sie hielt sich mit einer Hand fest, eine Sprosse unter Kahlan. In der anderen trug sie die Fackel. »Was ist!«
»Wie soll ich schlafen, Herrin Cara? Angenommen, Ihr kommt heute abend nicht zurück und ich muß stehen, wie soll ich dann schlafen?«
»Schlafen? Das interessiert mich nicht. Ich sagte doch schon – du mußt auf den Füßen stehen, genau auf dieser Stelle. Bewegst du dich, setzt du dich oder legst du dich hin, wird es dir sehr leid tun. Du wirst mit den Schmerzen ganz allein sein. Kapiert?«
»Ja, Herrin Cara«, erwiderte die schwache Stimme aus der Dunkelheit.
Als Kahlan oben ankam, nahm sie Cara die Fackel ab und erlöste die Mord-Sith, so daß sie beide Hände zum Klettern benutzen konnte. Kahlan reichte die Fackel Unterkommandant Collins, der erleichtert wirkte.
»Collins, ich möchte, daß ihr alle hier unten bleibt. Haltet die Tür verschlossen und steigt nicht dort runter – aus welchem Grund auch immer. Laßt niemanden auch nur einen Blick hineinwerfen.«
»In Ordnung, Mutter Konfessor.« Unterkommandant Collins zögerte. »Dann besteht also Gefahr?«
Kahlan verstand seine Besorgnis. »Nein. Cara hat seine Kraft unter Kontrolle. Er ist nicht fähig, seine Magie zu benutzen.«
Sie musterte die Soldaten, die den dunklen, schmutzigen Gang verstopften. Es mußten fast einhundert sein.
»Ich weiß nicht, ob wir bis heute abend noch einmal zurückkommen«, erklärte sie dem Unterkommandanten. »Schafft den Rest Eurer Leute herunter. Teilt sie in Gruppen ein. Sie sollen sich in Schichten ablösen, damit sich zu jedem Zeitpunkt genug Männer hier unten befinden. Schließt sämtliche Türen. Stellt Bogenschützen an den Ausgängen auf.«
»Hattet Ihr nicht gesagt, es gäbe keinen Grund zur Sorge und er könne seine Magie nicht einsetzen?«
Kahlan lächelte. »Wollt Ihr Euch vor Cara verantworten, wenn sich jemand hereinschleicht und den ihr anvertrauten Gefangenen in ihrer Abwesenheit vor Eurer Nase befreit?«
Er kratzte sich die Bartstoppeln und warf einen Blick auf Cara. »Verstehe, Mutter Konfessor. Wir werden dafür sorgen, daß sich niemand der Tür nähern kann.«
»Ihr traut mir noch immer nicht?« fragte Cara, als sie außer Hörweite der Soldaten waren.
Kahlan lächelte sie freundlich an. »Mein Vater war König Wyborn. Er war ein großer Krieger. Er brachte mir bei, daß man Gefangene nicht gut genug bewachen kann.«
Cara zuckte die Achseln, derweil sie an einer flackernden Fackel vorbeikamen. »Von mir aus. Ich fühle mich dadurch nicht gekränkt. Aber ich habe seine Magie. Er ist hilflos.«
»Mir ist immer noch nicht klar, wie Ihr Euch vor Magie fürchten und dabei eine solche Macht über sie haben könnt.«
»Wie schon gesagt, nur dann, wenn er uns ausdrücklich damit angreift.«
»Und wie übernehmt Ihr die Kontrolle über sie? Wie unterwerft Ihr sie Eurem Kommando?«
Cara ließ den Strafer am Ende der Kette um ihr Handgelenk kreisen, während sie weitergingen. »Das weiß ich selbst nicht. Wir tun es einfach. Meister Rahl ist zu einem Teil persönlich an der Ausbildung der Mord-Sith beteiligt. In dieser Phase wird uns diese Fähigkeit beigebracht. Es handelt sich nicht um Magie, die aus uns heraus entsteht, sondern vermutlich wird sie nur auf uns übertragen.«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Und trotzdem wißt Ihr nicht wirklich, was Ihr tut. Dennoch funktioniert es.«
An einer Ecke hakte Cara ihre Fingerspitzen in das eiserne Geländer, schwang herum und folgte Kahlan die steinernen Stufen hinauf. »Man muß nicht wissen, was man tut, damit Magie funktioniert.«
»Wie meint Ihr das?«
»Nun, Lord Rahl erzählte uns, daß ein Kind Magie sei: die Magie der Schöpfung. Man muß nicht wissen, was man tut, um ein Kind zu zeugen.
Einmal erzählte mir dieses Mädchen, ein sehr naives Mädchen von vielleicht vierzehn Sommern, eine Tochter von Dienstboten im Palast des Volkes in D'Hara, Darken Rahl – oder Vater Rahl, wie er sich gerne nennen ließ – habe ihr eine Rosenknospe geschenkt und die sei in ihrer Hand erblüht, als sie sie anlächelte. Sie sagte, auf diese Weise sei sie zu einem Kind gekommen – durch seine Magie.«
Cara lachte freudlos. »Sie glaubte wirklich, sie sei auf diese Weise schwanger geworden. Sie kam nie auf die Idee, es läge daran, daß sie die Beine für ihn breit gemacht hatte. Seht Ihr? Sie hat etwas Magisches getan, einen Sohn bekommen, und das, ohne zu wissen, wie sie es in Wirklichkeit gemacht hatte.«
Auf dem Treppenabsatz blieb Kahlan im Schatten stehen und hielt Cara am Ellenbogen fest.
»Alle Mitglieder von Richards Familie sind tot – Darken Rahl tötete seinen Stiefvater, seine Mutter starb, als er noch klein war, und sein Halbbruder Michael verriet ihn … woraufhin Denna Richard gefangennehmen konnte. Nachdem er Darken Rahl besiegt hatte, verzieh er Michael, was dieser ihm angetan hatte, trotzdem verurteilte er ihn zum Tode, denn sein Verrat hatte ganz bewußt zur Folge, daß unzählige Menschen durch die Hand von Darken Rahl gefoltert und getötet wurden.
Ich weiß, wieviel Richard Familie bedeutet. Er wäre außer sich vor Freude, wenn er erführe, daß er einen Halbbruder hat. Könnten wir nicht Nachricht in den Palast in D'Hara schicken und ihn hierherbringen lassen? Richard wäre –«
Cara schüttelte den Kopf und schaute zur Seite. »Darken Rahl stellte das Kind auf die Probe und fand heraus, daß es ohne die Gabe geboren worden war. Darken war ganz versessen auf einen Erben mit der Gabe. Alles andere betrachtete er als entstellt und wertlos.«
»Verstehe.« Stille legte sich über das Treppenhaus. »Das Mädchen … die Mutter …?«
Cara seufzte schwer, denn sie merkte, daß Kahlan die ganze Geschichte hören wollte. »Darken Rahl hatte eine Veranlagung. Eine krankhafte Veranlagung. Er zerquetschte dem Mädchen mit bloßen Händen die Luftröhre, nachdem er es gezwungen hatte, zuzusehen … nun, zuzusehen, wie er ihren Sohn tötete. Wenn er auf Nachkommen aufmerksam wurde, die nicht die Gabe besaßen, wurde er oft wütend, und dann tat er solche Dinge.«
Kahlan ließ ihre Hand von Caras Arm heruntersinken.
Cara sah auf, ihr Blick wieder ruhig. »Einige der Mord-Sith erlitten ein ähnliches Schicksal. Zum Glück wurde ich nie schwanger, wenn er mich für seine Vergnügungen auswählte.«
Kahlan versuchte, die Stille zu füllen. »Ich bin froh, daß Richard Euch aus der Leibeigenschaft dieser Bestie befreit hat. Daß er alle befreit hat.«
Cara nickte. So kalt hatte Kahlan ihre Augen noch nie gesehen. »Er ist für uns mehr als nur Lord Rahl. Jeder, der ihm etwas antut, wird sich vor den Mord-Sith verantworten müssen – und vor mir.«
Plötzlich betrachtete Kahlan Caras Bemerkung, sie dürfe Richard ›behalten‹, in neuem Licht. Es war das Netteste, was sie für ihn tun konnte: ihm zu erlauben, bei dem Menschen zu sein, den er liebte, trotz ihrer Sorge um die Gefahr für sein Herz.
»Ihr werdet Euch hinten anstellen müssen.«
Endlich mußte auch Cara lächeln. »Beten wir zu den Guten Seelen, daß wir niemals darum kämpfen müssen, wer die ältesten Rechte hat.«
»Ich habe eine bessere Idee. Bewahren wir ihn einfach vor jeglichem Unheil. Aber denkt daran, wenn wir oben ankommen, wissen wir immer noch nicht mit Sicherheit, wer diese Nadine ist. Wenn sie eine Schwester der Finsternis ist, handelt es sich bei ihr um eine sehr gefährliche Frau. Aber das wissen wir nicht sicher. Sie könnte eine Würdenträgerin sein: eine Frau von Rang und Namen. Oder nichts weiter als die Tochter eines reichen Adligen. Vielleicht hat er ihren Liebhaber, einen armen Bauernburschen, des Landes verwiesen, und jetzt ist sie auf der Suche nach ihm. Ich möchte nicht, daß ihr einer Unschuldigen etwas antut. Wir dürfen nicht den Kopf verlieren.«
»Ich bin kein Ungeheuer, Mutter Konfessor.«
»Das weiß ich. Das wollte ich damit auch keinesfalls sagen. Ich will nur nicht, daß wir über unseren Wunsch, Richard zu beschützen, den Kopf verlieren. Das gilt auch für mich. So, und jetzt laßt uns hinauf in den Saal der Bittsteller gehen.«
Cara runzelte die Stirn. »Warum sollen wir dorthin gehen? Warum gehen wir nicht in das Zimmer, in dem sich Nadine aufhält?«
Kahlan begann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die zweite Treppenflucht hinaufzusteigen. »Im Palast der Konfessoren gibt es Zweihundertachtundachtzig Gästezimmer, die an verschiedenen Stellen auf sechs voneinander getrennte Flügel verteilt sind. Ich war vorhin in Gedanken und habe nicht daran gedacht, den Wachen zu sagen, wohin sie sie bringen sollen. Also müssen wir uns erkundigen.«
Cara stieß die Tür am oberen Ende der Treppe mit der Schulter auf und betrat, den Kopf nach rechts und links drehend, den Korridor vor Kahlan, wie sie es gerne tat, um zu sehen, ob es irgendwelche Schwierigkeiten gab.
»Scheint mir eine ziemlich unvorteilhafte Bauweise zu sein. Aus welchem Grund wurden die Gästezimmer voneinander getrennt?«
Kahlan deutete auf einen Korridor, der nach links abzweigte. »Hier entlang ist es kürzer.« Sie wurde langsamer, als zwei Wachen zur Seite traten und sie durchließen, und beschleunigte dann ihren Schritt wieder, während sie über dicken blauen Teppich liefen. »Die Gästezimmer sind voneinander getrennt, weil viele Diplomaten den Palast wegen geschäftlicher Angelegenheiten aufsuchen. Falls die falschen Diplomaten zu nah beieinander untergebracht werden, kann es passieren, daß sie sehr undiplomatisch werden. Den Frieden unter den Verbündeten zu wahren, war manchmal ein Spiel, bei dem man die Betroffenen wie rohe Eier behandeln mußte. Das galt auch für die Unterbringung.«
»Aber es gibt doch all die Paläste – für die einzelnen Abgesandten – auf der Königsstraße.«
Kahlan brummte spöttisch. »Das ist ein Teil des Spiels.«
Als sie den Saal der Bittsteller betraten, fielen die Anwesenden erneut auf die Knie. Kahlan war gezwungen, die Begrüßung in aller Förmlichkeit zu erwidern, bevor sie mit dem Kommandanten sprechen konnte. Er erklärte ihr, wo er Nadine untergebracht hatte, und sie wollte gerade gehen, als ein Junge, einer aus der Gruppe der Ja'La-Spieler, die geduldig im Saal warteten, sich seine schlappe Wollmütze vom blonden Haarschopf riß und auf sie zugerannt kam.
Der Kommandant sah ihn, wie er durch den Saal lief. »Er wartet darauf, Lord Rahl zu sprechen. Wahrscheinlich soll sich der Lord ein weiteres Spiel ansehen.« Der Kommandant lächelte vor sich hin. »Ich habe ihm gesagt, er dürfe gerne warten, aber ich könne ihm nicht versprechen, daß Lord Rahl ihn empfängt.« Er zuckte unsicher mit den Schultern. »Mehr konnte ich nicht tun. Ich war gestern mit einer ganzen Gruppe von Soldaten beim Spiel. Der Junge und seine Mannschaft haben mir drei Silbermünzen eingebracht.«
Die Mütze zwischen zwei Fäusten zerdrückend, beugte der Junge auf der von Kahlan aus gesehen anderen Seite des marmornen Geländers das Knie.
»Mutter Konfessor, wir würden gerne … also wenn es keine Umstände macht … wir…« Er ließ den Satz unbeendet und schluckte Luft.
Kahlan lächelte ermutigend. »Hab keine Angst. Wie heißt du?«
»Yonick, Mutter Konfessor.«
»Tut mir leid, Yonick, aber Richard kann jetzt nicht kommen und sich noch ein Spiel anschauen. Wir haben im Augenblick zu tun. Vielleicht morgen. Ich weiß, es hat uns beiden gefallen, und wir würden gerne noch einmal zusehen, aber an einem anderen Tag.«
Er schüttelte den Kopf. »Darum geht es gar nicht. Es geht um meinen Bruder Kip.« Er verdrehte seine Mütze. »Er ist krank. Ich dachte, vielleicht … na ja, vielleicht könnte Lord Rahl kommen und ein wenig Magie zaubern und ihn wieder gesund machen.«
Kahlan drückte dem Jungen tröstend die Schulter. »Also, zu dieser Sorte Zauberer gehört Richard eigentlich nicht. Warum gehst du nicht zu einem der Heiler auf der Stentorstraße? Erzähl ihm, woran er erkrankt ist, dann wird er ihm Kräuter geben, damit er sich wieder besser fühlt.«
Yonick ließ den Kopf hängen. »Für Kräuter haben wir kein Geld. Deswegen hatte ich gehofft … Kip ist richtig krank.«
Kahlan richtete sich auf und sah zum Kommandanten. Dessen Blick wanderte von Kahlan zu dem Jungen und wieder zurück. Er räusperte sich.
»Also, Yonick, ich habe dich gestern spielen sehen«, stammelte der Kommandant. »Ziemlich gut. Deine Mannschaft war wirklich gut.« Nach einem weiteren Blickwechsel mit Kahlan steckte er eine Hand in irgendeine Tasche und zog sie mit einer Münze darin wieder zum Vorschein. Er beugte sich über die Absperrung und drückte sie Yonick in die Hand. »Ich weiß, wer dein Bruder ist. Er … das war ein toller Spielzug, das Tor, das er geschossen hat. Nimm das und besorge ihm ein paar Kräuter, die er braucht, wie die Mutter Konfessor gesagt hat.«
Yonick blickte starr vor Staunen auf die Silbermünze in seiner Hand. »Soviel kosten Kräuter nicht, hab ich gehört.«
Der Kommandant tat die Erwiderung mit einer knappen Geste ab. »Also, kleiner hab ich's nicht. Kauf mit dem restlichen Geld etwas für deine Mannschaft – für ihren Sieg. Und jetzt nimm es und verschwinde. Wir müssen uns um die Angelegenheiten des Palastes kümmern.«
Yonick richtete sich auf und schlug sich zum Gruß mit der Faust aufs Herz. »Jawohl, mein Herr.«
»Und üb deinen Abstoß«, rief der Kommandant dem Jungen hinterher, als er durch den Saal zu seinen Kumpels rannte. »Der ist ein bißchen ungenau.«
»Mach ich«, brüllte Yonick über die Schulter zurück. »Danke.«
Kahlan sah zu, wie er seine Freunde zusammensuchte und die Jungen gemeinsam zur Tür liefen. »Das war sehr freundlich von Euch, Kommandant …?«
»Harris.« Er erschrak. »Ich danke Euch, Mutter Konfessor.«
»Cara, gehen wir und statten wir dieser Nadine einen Besuch ab.«
Kahlan hoffte, daß der Kommandant, der am Ende des Ganges Habtachtstellung annahm, eine ereignislose Wache hinter sich hatte.
»Hat Nadine versucht, das Zimmer zu verlassen, Kommandant Nance?«
»Nein, Mutter Konfessor«, antwortete er, als er sich von seiner Verbeugung wieder aufrichtete. »Sie schien froh zu sein, daß sich jemand für ihr Anliegen interessierte. Als ich ihr erklärte, es könne möglicherweise Ärger geben und es sei erforderlich, daß sie auf ihrem Zimmer bleibt, versprach sie, meine Anweisungen zu befolgen.« Er warf einen Blick auf die Tür. »Sie meinte, sie wolle mir keine Schwierigkeiten bereiten und werde tun, was man ihr sagt.«
»Danke, Kommandant.« Vor der offenen Tür zögerte sie. »Wenn sie dieses Zimmer ohne uns verlassen will, tötet sie. Stellt nicht erst Fragen, sondern laßt sie ohne Vorwarnung einfach von den Bogenschützen niederschießen.« Als sich daraufhin seine Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Falls sie den Raum ohne uns verläßt, dann deswegen, weil sie Magie beherrscht und uns damit getötet hat.«
Kommandant Nance, dessen Gesicht so fahl geworden war wie ein Jahr altes Stroh, schlug sich zum Salut mit der Faust vors Herz.
Das vordere Zimmer war rot dekoriert. Die Wände waren in dunklem Karminrot gehalten, das mit einer weißen, gekehlten Abschlußleise und mit Fußleisten und Türfüllungen aus rosa Marmor abgesetzt war. Auf dem Boden aus Hartholz lag ein riesiger, goldbetreßter Teppich mit einem aufwendigen Blätter- und Blumenmotiv. Die vergoldeten Beine des Marmortisches und der gepolsterten Sessel aus rotem Samt waren mit einem dazu passenden Blatt- und Blumenmuster verziert. Da es sich um einen Raum im Innern handelte, gab es keine Fenster. Geschliffene Kristallzylinder auf dem Dutzend Reflektorlampen überall im Zimmer überzogen die Wände mit tanzenden Lichtern.
Kahlans Ansicht nach war es einer der geschmacklosesten Räume im Palast, aber es gab Diplomaten, die ausdrücklich dieses Zimmer verlangten. Sie fühlten sich dadurch in genau die richtige Stimmung für Verhandlungen versetzt. Kahlan war immer besonders auf der Hut, wenn sie die Argumente von Abgesandten hörte, die in einem der roten Zimmer wohnten.
Nadine hielt sich nicht im extravaganten Vorzimmer auf. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen.
»Herrliche Räume«, meinte Cara leise. »Kann ich sie haben?«
Kahlan sagte ihr, sie solle still sein. Sie konnte sich denken, warum die Mord-Sith ein rotes Zimmer haben wollte. Während Cara ihr über die Schulter sah, drückte Kahlan vorsichtig die Schlafzimmertür auf. Caras Atem streifte sie am rechten Ohr.
Falls dies überhaupt möglich war, dann hatte das Schlafzimmer eine noch beleidigendere Wirkung auf die Sinne als das Wohnzimmer. Das rote Farbthema setzte sich hier in den Teppichen fort, in der reichbestickten Tagesdecke auf dem Bett, in einer alles andere als zurückhaltenden Ansammlung reich verzierter, goldbetreßter Kissen und der mit Wirbeln durchsetzten rosa Kamineinfassung aus Marmor. Sollte Cara sich in ihrer roten Lederkleidung jemals verstecken wollen, dachte Kahlan, dann brauchte sie sich nur in dieses Zimmer zu setzen, und niemand würde sie finden.
Nur die Hälfte der Lampen im Schlafzimmer brannte. Mehrere Schalen aus geblasenem Glas, die man auf Tische und das Pult gestellt hatte, waren mit getrockneten Rosenblüten gefüllt, deren Duft sich mit dem Lampenöl vermischte und die Luft mit einem schweren, leicht Übelkeit erregenden, süßlichen Geruch durchzog.
Beim Knarren der Türangeln öffnete die Frau, die auf dem Bett lag, die Augen, entdeckte Kahlan und sprang auf. Bereit, Nadine mit ihrer Konfessorenkraft zu überwältigen, sollte sie das kleinste Anzeichen von Aggression an den Tag legen, streckte Kahlan unbewußt einen Arm seitlich aus, damit Cara ihr nicht in die Quere kam. Um sich zu wappnen, hielt sie den Atem an und spannte jeden Muskel. Wenn die Frau Magie beherrschte, würde Kahlan schnell sein müssen.
Nadine rieb sich hastig den Schlaf aus den Augen. Die Unentschlossenheit, mit welchem Bein sie bei dem wackeligen Hofknicks, den sie machte, vortreten sollte, verriet Kahlan, daß sie keine Adlige war. Deshalb konnte sie immer noch eine Schwester der Finsternis sein.
Nadine glotzte Kahlan einen Augenblick lang an, bevor sie sich das Kleid auf den Hüften glattstrich und das Wort an die Mutter Konfessor richtete. »Verzeiht mir, Königin, doch ich war lange unterwegs und habe mich ein wenig ausgeruht. Ich muß wohl eingeschlafen sein, denn ich habe Euch nicht klopfen hören. Ich bin Nadine Brighton, Königin.«
Während Nadine zu einem weiteren wenig eleganten Hofknicks in die Knie ging, sah sich Kahlan rasch im Zimmer um. Das Waschbecken und der Wasserkrug waren unbenutzt. Die Handtücher auf dem Waschtisch daneben waren sauber gefaltet. Am Fußende des Bettes lag ein abgetragener, schlichter wollener Reisebeutel. Eine Kleiderbürste und eine Blechtasse waren die einzigen fremden Gegenstände auf dem überladenen vergoldeten Tisch, der bei dem roten Samtsessel neben dem mit Fransen gesäumten Himmelbett stand. Trotz der am Frühlingsanfang noch kalten Luft und dem erkalteten Kamin hatte sie die Tagesdecke für ihr Nickerchen nicht aufgeschlagen. Vielleicht, überlegte Kahlan, damit sie sich nicht verhedderte, falls sie sich schnell bewegen mußte.
Kahlan entschuldigte sich nicht für ihr Eintreten, ohne anzuklopfen. »Mutter Konfessor«, sagte sie in warnendem Tonfall, denn sie hatte das dringende Bedürfnis, klarzustellen, über welche stillschweigende Macht sie verfügte. »Königin ist einer meiner weniger … gebräuchlichen Titel. Bekannter bin ich als Mutter Konfessor.«
Nadine wurde rot, und die Sommersprossen auf ihren Wangenknochen und quer über ihre feine Nase verschwanden fast. Verlegen senkte sie die großen blauen Augen. Sie kämmte fahrig mit den Fingern durch ihr dichtes, braunes Haar, obwohl es überhaupt nicht ungeordnet zu sein schien.
Sie war nicht so groß wie Kahlan, schien dagegen im gleichen Alter oder vielleicht ein Jahr jünger zu sein. Sie war eine hübsch anzusehende junge Frau, die durch nichts zu erkennen gab, daß sie eine Bedrohung oder Gefahr darstellte. Aber Kahlan war nicht bereit, sich von einem offenen Gesicht und einem unschuldigen Auftreten täuschen zu lassen.
Die Erfahrung hatte Kahlan harte Lektionen gelehrt. Marlin, ihre bislang letzte, hatte anfangs den Eindruck gemacht, als sei er nichts weiter als ein verlegen wirkender junger Mann. Die Augen dieser wunderschönen jungen Frau schienen jedoch nicht dieselbe Zeitlosigkeit zu haben, die Kahlan so beunruhigt hatte. Trotzdem blieb sie auf der Hut.
Nadine drehte sich um, strich hastig die Tagesdecke glatt und drückte die Falten mit schnellen Handbewegungen heraus. »Verzeiht mir, Mutter Konfessor, ich hatte nicht die Absicht, Euer wundervolles Bett durcheinanderzubringen. Ich habe mein Kleid vorher abgebürstet, damit kein Straßenstaub darauf kommt. Eigentlich hatte ich mich auf den Fußboden legen wollen, aber das Bett sah so einladend aus, da konnte ich nicht widerstehen. Hoffentlich habe ich nichts Unrechtes getan.«
»Natürlich nicht«, meinte Kahlan. »Ich hatte Euch gebeten, das Zimmer als Euer eigenes zu betrachten.«
Das letzte Wort hatte Kahlans Mund noch nicht verlassen, da schoß Cara hinter ihr hervor. Obwohl es unter den Mord-Sith keine Hierarchie zu geben schien, beugten sich Berdine und Raina stets Caras Meinung. Bei den D'Haranern schien die Stellung der Mord-Sith und insbesondere Caras unumstritten, auch wenn Kahlan diese noch niemand genauer erläutert hatte. Wenn Cara befahl: »Spucken!«, dann spuckten die Menschen eben.
Nadine riß die Augen auf und kreischte laut, als sie sah, wie sich die in Leder gekleidete Mord-Sith auf sie stürzte.
»Cara!« rief Kahlan.
Cara ignorierte sie. »Wir haben deinen Freund Marlin, er sitzt unten in der Grube. Du wirst ihm bald Gesellschaft leisten.«
Die Mord-Sith stieß sie rückwärts in den Sessel neben dem Bett.
»Au!« schrie Nadine und schaute wütend zu Cara hoch. »Das hat weh getan!«
Als sie daraufhin wieder vom Stuhl aufsprang, packte Cara die Kehle der jungen Frau mit ihrer gepanzerten Faust. Sie ließ den Strafer nach oben schnellen und zielte ihr damit zwischen die weit aufgerissenen braunen Augen. »Ich habe noch nicht mal angefangen, dir weh zu tun.«
Kahlan packte Caras Zopf und riß kräftig daran. »So oder so, Ihr werdet noch lernen, Befehlen zu gehorchen!« Cara, die die Kehle der jungen Frau noch immer umklammerte, drehte sich überrascht um.
»Laßt sie los! Ich sagte: Überlaßt die Sache mir. Solange sie nichts Bedrohliches unternimmt, werdet Ihr tun, was man Euch sagt, oder Ihr könnt draußen warten.«
Cara ließ Nadine los und versetzte ihr dabei einen Stoß, der sie wieder auf den Stuhl zurückwarf. »Die macht uns Ärger. Das spüre ich. Ihr solltet mir erlauben, sie zu töten.«
Kahlan preßte die Lippen zusammen, bis Cara die Augen verdrehte und widerstrebend zur Seite trat. Nadine stand wieder auf, diesmal langsamer. Ihr tränten die Augen, als sie sich die Kehle rieb und hustete.
»Warum habt Ihr das gemacht? Ich habe Euch nichts getan! Ich habe Eure eleganten Sachen nicht durcheinandergebracht. Ihr habt die schlechtesten Manieren, die mir je untergekommen sind.« Sie drohte Kahlan mit dem Finger. »Es gibt keinen Grund, Menschen so zu behandeln.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Kahlan. »Heute erschien ein durchaus unschuldig aussehender junger Mann im Palast, der ebenfalls darum bat, Lord Rahl zu sprechen. Wie sich herausstellte, handelt es sich bei ihm um einen gedungenen Mörder. Wir haben es Cara hier zu verdanken, daß wir ihn daran hindern konnten.«
Nadines Empörung geriet ins Schwanken. »Oh.«
»Und das ist noch nicht das Schlimmste«, fügte Kahlan hinzu.
»Er hat gestanden, eine Komplizin zu haben – eine attraktive junge Frau mit langen, braunen Haaren.«
Nadine hörte auf, sich den Hals zu reiben. Sie blickte Cara an, dann wieder Kahlan. »Oh. Nun, dann kann ich das Mißverständnis verstehen…«
»Ihr wolltet Lord Rahl ebenfalls sehen. Aus diesem Grund sind alle ein wenig nervös. Wir fühlen uns dazu verpflichtet, Lord Rahl zu beschützen.«
»Ich kann mir vorstellen, daß das ein Grund für all die Verwirrung war. Das kränkt mich nicht.«
»Cara ist eine von Lord Rahls persönlichen Leibwächterinnen«, erklärte Kahlan. »Ihr habt sicherlich Verständnis dafür, daß sie sich so angriffslustig benimmt.«
Nadine löste die Hand von ihrem Hals und stemmte sie in die Hüfte. »Aber ja. Ich glaube, da bin ich in einem regelrechten Wespennest gelandet.«
»Das Problem ist«, fuhr Kahlan fort, »Ihr habt uns noch nicht überzeugt, daß Ihr nicht der zweite Meuchelmörder seid. Es wäre das beste für Euch, wenn Ihr dies umgehend tätet.«
Nadines Augen zuckten zwischen den beiden Frauen hin und her, die sie beobachteten. »Ich? Ein Mörder? Aber ich bin eine Frau.«
»Das bin ich auch«, meinte Cara. »Eine Frau, die Euer Blut im ganzen Zimmer verteilen wird, bis Ihr uns die Wahrheit sagt.«
Nadine wirbelte herum, packte den Stuhl und fuchtelte mit dessen Beinen vor Kahlan und Cara herum. »Bleibt mir vom Leib! Ich warne Euch. Tommy Lancaster und sein Freund Lester dachten auch schon, sie könnten so mit mir umspringen, und jetzt müssen sie alle ihre Mahlzeiten ohne ihre Schneidezähne zu sich nehmen.«
»Stellt den Stuhl wieder hin«, zischte Cara ihr warnend zu, »oder Ihr werdet Eure nächste Mahlzeit im Land der Seelen zu Euch nehmen.«
Nadine ließ das Möbelstück fallen, als hätte es Feuer gefangen. Sie ging rückwärts, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. »Laßt mich in Frieden! Ich habe nichts verbrochen!«
Kahlan hakte sich behutsam bei Cara unter und drängte sie zurück. »Ich soll diese Angelegenheit einer Schwester des Strafers überlassen?« sagte sie leise und zog eine Augenbraue hoch. »Ich weiß, ich sagte ›bis sie irgend etwas Bedrohliches unternimmt‹, aber ein Stuhl ist wohl kaum die Bedrohung, an die ich dabei dachte.«
Cara verzog genervt den Mund. »Also schön. Fürs erste.«
Kahlan wandte sich an Nadine. »Ich benötige ein paar Antworten. Erzählt uns die Wahrheit, und wenn Ihr wirklich nichts mit den gedungenen Mördern zu schaffen habt, dann entschuldige ich mich aufrichtig bei Euch und werde tun, was ich kann, um unsere Ungastlichkeit wiedergutzumachen. Lügt Ihr mich jedoch an und solltet Ihr vorhaben, Lord Rahl etwas anzutun, dann haben die Wachen vor der Tür Befehl, Euch nicht lebend aus dem Zimmer zu lassen. Habt Ihr das verstanden?«
Nadine, den Rücken an die Wand gedrückt, nickte.
»Ihr wolltet Lord Rahl sprechen.« Nadine nickte noch einmal. »Warum?«
»Ich bin auf dem Weg zu meinem Geliebten. Seit dem letzten Herbst ist er verschwunden. Wir waren einander versprochen, und nun bin ich unterwegs zu ihm.« Sie strich sich eine Strähne aus den Augen. »Aber ich weiß nicht genau, wo er sich befindet. Man riet mir, Lord Rahl aufzusuchen, dann würde ich meinen Verlobten finden.« Nadine standen die Tränen in den Augen. »Deswegen wollte ich diesen Lord Rahl sprechen – um ihn zu fragen, ob er mir helfen kann.«
»Verstehe«, meinte Kahlan. »Ich kann Euren Kummer verstehen, daß Euer Geliebter vermißt wird. Wie war der Name des jungen Mannes gleich?«
Nadine zupfte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und betupfte sich damit die Augen. »Richard.«
»Richard. Und hat er auch einen Nachnamen?«
Nadine nickte. »Richard Cypher.«
Kahlan mußte sich erinnern, durch ihren offenen Mund Luft zu holen, aber ihrem Verstand gelang es nicht, ihre Zunge zum Arbeiten zu bewegen.
»Wie war das?« fragte Cara.
»Richard Cypher. Er ist Waldführer dort, wo ich lebe. In Kernland, das liegt in Westland. Dort wohnen wir.«
»Was soll das heißen, Ihr seid einander versprochen?« brachte Kahlan schließlich kaum hörbar hervor. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, als breche die Welt rings um sie zusammen, während ihr gleichzeitig tausend Dinge durch den Kopf schossen. »Hat er das behauptet?«
Nadine verdrehte ihr feuchtes Taschentuch. »Na ja, er machte mir den Hof … alle dachten … aber dann verschwand er. Eine Frau kam und erzählte mir, wir seien einander versprochen. Sie behauptete, der Himmel habe zu ihr gesprochen – sie war eine Art Mystikerin. Dabei wußte sie alles über meinen Richard, wie gütig und stark und gutaussehend er ist und alles. Auch alle möglichen Sachen über mich wußte sie. Es sei meine Bestimmung, Richard zu heiraten, sagte sie, und Richards Bestimmung, mein Ehemann zu werden.«
»Frau?« Kahlan brachte nicht mehr als dieses eine Wort heraus.
Nadine nickte. »Sie heißt Shota, sagte sie.«
Kahlan ballte die Hände zu Fäusten. Sie fand ihre Stimme wieder – voller Gift. »Shota. Hatte diese Frau, diese Shota, jemanden bei sich?«
»Ja. Einen seltsamen, kleinen … Kerl. Mit gelben Augen. Er hat mir ein bißchen angst gemacht, aber sie meinte, er sei harmlos. Shota war es auch, die mir riet, Lord Rahl aufzusuchen. Sie meinte, er könne mir helfen, meinen Richard zu finden.«
Der Beschreibung nach erkannte Kahlan Shotas Begleiter Samuel. Die Stimme dieser Frau, die immer wieder ›Richard, mein Richard‹ rief, hallte Kahlan ein ums andere Mal wie ein Donnerschlag durch das Chaos in ihrem Kopf. »Wartet bitte hier.«
»Mach ich«, sagte Nadine, die ihre Fassung wiederfand. »Ist alles in Ordnung? Ihr glaubt mir doch, oder? Es stimmt jedes Wort.«
Kahlan antwortete nicht, sondern löste ihren verblüfften, starren Blick von Nadine und marschierte hinaus. Cara schloß die Tür und folgte Kahlan auf den Fersen.
Kahlan blieb schwankend im Vorzimmer stehen. Alles verschwamm zu einem wäßrig roten Flecken.
»Mutter Konfessor«, sagte Cara leise, »was ist denn nur? Euer Gesicht ist so rot wie mein Lederanzug. Wer ist diese Shota?«
»Shota ist eine Hexe.«
Cara zuckte zusammen, als sie das hörte. »Und diesen Richard Cypher, kennt Ihr ihn?«
Kahlan mußte zweimal an den schmerzhaft zähen Klumpen hinten in ihrem Hals vorbei schlucken. »Richard wurde von seinem Stiefvater aufgezogen. Bis er herausfand, daß Darken Rahl sein richtiger Vater war, hieß er Cypher.«