Durch den Schlamm platschend, hasteten Zedd, Ann, Cara und Kahlan hinter Richard her, als dieser in die Durchgänge zwischen den verputzten Mauern der Gebäude hinausstürzte. Kahlan mußte die Augen zusammenkneifen, um bei diesem Platzregen etwas zu erkennen. Der strömende Regen war so eiskalt, daß ihr die Luft wegblieb.
Aus den alles fortschwemmenden Regenmassen tauchten Jäger auf – ihre allgegenwärtigen Beschützer – und rannten neben ihnen her. Bei den vorüberhuschenden Gebäuden handelte es sich größtenteils um aus einem Raum bestehende Wohnhäuser, die jeweils mindestens eine Wand gemeinsam hatten, manchmal sogar bis zu deren drei; zusammen fügten sie sich zu einem komplizierten, scheinbar planlosen Irrgarten.
Unmittelbar hinter Richard folgte Ann, die Kahlan mit ihrem forschen Tempo überraschte. Ann sah nicht so aus, als sei sie zum Laufen geschaffen, trotzdem hatte sie keine Mühe mitzuhalten. Zedds knochige Arme hoben und senkten sich in raschem, gleichmäßigem Rhythmus. Cara sprang mit ihren langen Beinen neben Kahlan her. Die sehr schnell laufenden Jäger bewegten sich mit mühelos wirkender Eleganz. Mit seinem hinter sich blähenden Cape bot Richard einen beängstigenden Anblick; verglichen mit den drahtigen Jägern war er ein Koloß von einem Mann, der sich wie eine Lawine durch die Straßen wälzte. Richard folgte dem sich mal hier-, mal dorthin windenden Durchgang ein kleines Stück, bevor er an der ersten Ecke scharf nach rechts abbog. Die vorübereilende Prozession erweckte die Neugierde einer schwarzen und zweier brauner Ziegen sowie mehrerer Kinder in den winzigen, mit Raps für die Hühner bepflanzten Innenhöfen. In den Hauseingängen standen, flankiert von Töpfen voller Kräuter, offenen Mundes starrende Frauen.
An der nächsten Ecke bog Richard links ab. Beim Anblick der heranstürmenden Truppe riß eine junge Frau unter einem schmalen Dach ein weinendes Kind in ihre Arme. Den Kopf des kleinen Jungen an ihre Schulter drückend, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, um dem Ärger, der auf sie zugerast kam, nicht im Weg zu sein. Als sie versuchte, den Jungen zu trösten, fing er an zu weinen.
Richard blieb rutschend, aber dennoch unvermittelt stehen, während die anderen hinter ihm Mühe hatten, nicht in ihn hineinzurennen. Die im Türeingang kauernde Frau blickte aus weit aufgerissenen Augen erschrocken zwischen den Menschen hin und her, die sie plötzlich umzingelten.
»Was gibt’s?« fragte sie. »Was wollt ihr von uns?«
Sie hatte noch nicht ausgeredet, als Richard bereits wissen wollte, was sie sagte. Kahlan drängte sich durch die Gruppe nach vorne. Aus den Kratzern des Jungen, den die Frau fest umklammert hielt, perlte Blut, seine Schnittwunden bluteten.
»Wir haben deinen Sohn schreien hören.« Behutsam strich Kahlan dem weinenden Kind übers Haar. »Wir dachten, es gäbe Schwierigkeiten. Wir waren besorgt um deinen Jungen. Wir sind hier, um zu helfen.«
Erleichtert ließ die Frau den Jungen von der Hüfte zu Boden gleiten. Sie ging in die Hocke, preßte ein blutgetränktes Stoffknäuel auf seine Wunden und versuchte ihn mit tröstlichem Gurren zu beruhigen.
Dann sah sie auf und betrachtete das Gedränge um sie herum. »Ungi geht es gut. Danke für eure Besorgnis, aber er hat sich nur benommen wie ein Junge. Jungen geraten oft in Schwierigkeiten.«
Kahlan erklärte den anderen, was die Frau gesagt hatte.
»Was hat ihn so zerkratzt?« wollte Richard wissen.
»Ka chenota«, antwortete die Frau, als Kahlan Richards Frage übersetzte.
»Ein Huhn«, sagte Richard, bevor Kahlan es ihm sagen konnte. Offenbar hatte er gelernt, daß chenota in der Sprache der Schlammenschen ›Huhn‹ bedeutete. »Ein Huhn hat deinen Jungen angegriffen?«
Sie machte ein verständnisloses Gesicht, als Kahlan Richards Frage übersetzte. Das verbitterte Lachen der Frau übertönte den trommelnden Regen. »Ein Huhn soll ihn angegriffen haben?« Mit einer knappen Handbewegung, so als hätte sie für einen Augenblick geglaubt, sie meinten es ernst, meinte sie spöttisch: »Ungi hält sich für einen großen Jäger. Er macht Jagd auf Hühner. Dieses Mal hat er eins in die Enge getrieben, es verängstigt, dafür hat es ihn bei seinem Fluchtversuch zerkratzt.«
Richard ging vor Ungi in die Hocke und fuhr dem Jungen zausend durch seinen dunklen, nassen Haarschopf. »Du hast Hühner gejagt? Ka chenota? Sie geneckt? In Wirklichkeit war es ganz anders, nicht wahr?«
Statt Richards Frage zu dolmetschen, hockte sich Kahlan auf ihre Fußballen. »Richard, was hat das zu bedeuten?« Richard legte dem Jungen tröstend eine Hand auf den Rücken, während seine Mutter ihm das Blut abwischte, das ihm die Wange herunterlief. »Sieh dir die Kratzspuren an«, sagte Richard leise. »Die meisten verlaufen rings um den Hals.«
Kahlan stieß einen tiefen, verärgerten Seufzer aus. »Er hat zweifellos versucht, es hochzuheben und an seinen Körper zu drücken. Daraufhin hat das Huhn einfach in panischer Angst versucht zu fliehen.«
Widerstrebend mußte Richard zugeben, daß es so gewesen sein konnte.
»Das ist kein großes Malheur«, verkündete Zedd von oben. »Laßt mich den Jungen ein wenig heilen, dann kommen wir endlich raus aus diesem verdammten Regen und können ins Haus gehen und etwas essen. Außerdem habe ich noch eine Menge Fragen zu stellen.«
Richard hob, immer noch vor dem Jungen hockend, einen Finger, um sich Zedd vom Leib zu halten. Er sah Kahlan in die Augen. »Frag ihn bitte, ja?«
»Dann erklär mir, warum.« Kahlan blieb standhaft. »Geht es um das, was der Vogelmann erzählt hat? Geht es tatsächlich darum? Der Mann war betrunken, Richard.«
»Sieh über meine Schulter.«
Kahlan spähte durch die Ströme des alles verwischenden Regens. Auf der anderen Seite des schmalen Durchganges, unter den tropfenden gräsernen Dachtraufen an der Ecke eines Gebäudes, war ein Huhn damit beschäftigt, sein Federkleid aufzuplustern. Es war, wie die meisten Hühner der Schlammenschen, ein weiteres Exemplar der Felsstreifenrasse.
Kahlan war kalt, sie fühlte sich elend und war vollkommen durchnäßt; deshalb war sie kurz davor, die Geduld zu verlieren, als ihr und Richards wartender Blick sich abermals kreuzten.
»Ein Huhn, das Schutz vor dem Regen sucht? Ist es das, was ich deiner Meinung nach sehen soll?«
»Ich weiß, du denkst…«
»Richard!« knurrte sie im Flüsterton. »Hör mir zu.«
Sie hielt inne, weil sie nicht mit Richard streiten wollte, und redete sich ein, er wäre nur um ihre Sicherheit besorgt. Doch diese Sorge war völlig aus der Luft gegriffen. Kahlan zwang sich durchzuatmen. Sie packte ihn an der Schulter und massierte sie mit dem Daumen.
»Richard, du fühlst dich nur deshalb schlecht, weil heute Juni gestorben ist. Schlecht fühle ich mich auch, aber deswegen ist daran noch nichts Unheilvolles. Vielleicht hat er sich beim Laufen überanstrengt, ich habe gehört, so etwas kommt bei jungen Menschen vor. Sieh endlich ein, daß Menschen manchmal sterben, ohne daß wir den Grund dafür kennen.«
Richard sah zu den anderen hoch. Zedd und Ann taten, als bewunderten sie die Muskeln des jungen Ungi, um dem Wortgefecht zu entgehen, das verdächtig nach einem Zank zwischen Verliebten zu klingen begann. Cara stand in der Nähe und blickte prüfend in die Durchgänge. Einer der Jäger bot an, Ungi mit dem Schaft seines Speeres spielen zu lassen, um den Jungen von seiner Mutter abzulenken, die seine Wunden versorgte.
Richard, der sich offenbar nur ungern streiten wollte, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Ich glaube, es handelt sich um dasselbe Huhn, das ich aus dem Haus gescheucht habe«, meinte er schließlich leise. »Das im Fenster, das ich mit dem Stock getroffen habe.«
Kahlan stöhnte vor Verzweiflung. »Richard, die meisten Hühner der Schlammenschen sehen genau aus wie dieses.« Sie blickte ein weiteres Mal zur Unterseite des Daches hinüber. »Außerdem ist es verschwunden.«
Richard blickte über seine Schulter, um sich selbst zu überzeugen. Sein Blick wanderte suchend durch den Durchgang.
»Frag den Jungen, ob er das Huhn geneckt und gescheucht hat.«
Auch Ungis Mutter hatte, während sie unter dem schmalen Dach über der Tür seine Wunden versorgte, aufmerksam die Unterhaltung zu ihren Füßen verfolgt, die sie nicht verstand. Kahlan leckte sich den Regen von den Lippen. Wenn es Richard so viel bedeutete, entschied sie, konnte sie wenigstens für ihn nachfragen. Sie berührte den Jungen am Arm.
»Ist es wahr, Ungi, daß du das Huhn gejagt hast? Hast du versucht, es zu fangen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Es hat sich auf mich gestürzt.« Er machte eine krallende Bewegung. »Es hat mich angegriffen.«
Die Mutter beugte sich vor und versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern. »Sag diesen Leuten die Wahrheit. Du und deine Freunde, ihr seid doch ständig den Hühnern hinterhergerannt.«
Er blinzelte Kahlan und Richard, die sich beide auf seiner Höhe und in seiner Welt befanden, aus seinen großen, dunklen Augen an. »Ich werde einmal ein großer Jäger werden, genau wie mein Vater. Er ist ein tapferer Jäger, er hat Narben von den wilden Tieren, die er jagt.«
Richard mußte lächeln, als er die Übersetzung hörte. Behutsam berührte er eine der von den Krallen hinterlassenen Spuren. »Hier wirst du die Narbe eines Jägers bekommen, genau wie dein tapferer Vater. Also, hast du die Hühner gejagt, wie deine Mutter sagt? Ist das wirklich die Wahrheit?«
»Ich war hungrig. Ich war auf dem Weg nach Hause. Das Huhn hat mich gejagt«, beharrte er. Seine Mutter sprach warnend seinen Namen. »Na ja … sie hockten auf dem Dach dort drüben.« Er zeigte abermals nach oben auf das Dach über der Tür. »Vielleicht habe ich ihm einen Schrecken eingejagt, als ich nach Hause gerannt kam, und es ist auf dem nassen Dach ausgerutscht und auf mich gefallen.«
Die Mutter öffnete die Tür und schob den Jungen ins Haus. »Vergebt meinem Sohn. Er ist noch klein und denkt sich ständig irgendwelche Geschichten aus. Immerzu scheucht er die Hühner herum. Es ist nicht das erste Mal, daß er von einem zerkratzt worden ist. Einmal hat ihm ein Hahn mit seinen Sporen eine klaffende Wunde an der Schulter zugefügt. Er stellt sich dann vor, es seien Adler.
Ungi ist ein guter Junge, aber er ist eben ein Junge und steckt voller Geschichten. Wenn er unter einem Felsen einen Salamander findet, kommt er nach Hause gerannt, um ihn mir zu zeigen und mir zu erzählen, er habe ein Drachennest gefunden. Dann will er, daß sein Vater kommt und die Drachen tötet, bevor sie uns fressen können.«
Alle außer Richard schmunzelten amüsiert. Als sie zum Abschied den Kopf neigte und sich umwandte, um ins Haus zu gehen, faßte Richard sie sachte am Ellenbogen und hielt sie fest, während er mit Kahlan sprach.
»Sag ihr, es tut mir leid, daß der Junge verletzt wurde. Es war nicht Ungis Fehler. Sag ihr das. Sag ihr, es tut mir leid.«
Kahlan runzelte angesichts dieser Worte die Stirn. Sie veränderte sie beim Übersetzen ein wenig, damit sie nicht falsch aufgefaßt wurden.
»Es tut uns leid, daß Ungi verletzt wurde. Hoffentlich geht es ihm bald wieder gut. Wenn nicht oder falls einige der Wunden tief sein sollten, komm und sag uns Bescheid, dann wird Zedd deinen Jungen mit Magie heilen.«
Die Mutter nickte und setzte ein dankbares Lächeln auf, bevor sie ihnen einen guten Tag wünschte und gebückt in der Tür verschwand. Soweit Kahlan dies beurteilen konnte, war sie nicht sonderlich versessen darauf, daß man ihren Sohn mit Magie behandelte.
Kahlan sah zu, wie die Tür sich schloß, dann drückte sie Richards Hand. »Alles in Ordnung? Glaubst du jetzt auch, daß es nicht das war, was du dachtest? Daß nichts dahintersteckt?«
Er starrte einen Augenblick lang in den menschenleeren Durchgang. »Ich dachte nur…« Schließlich gab er zerknirscht lächelnd nach. »Ich bin nur um deine Sicherheit besorgt, das ist alles.«
»Wo wir schon alle naß sind«, murrte Zedd, »können wir ebensogut hinübergehen und uns Junis Leichnam ansehen. Ich werde ganz bestimmt nicht hier im Regen herumstehen, während ihr zwei anfangt euch zu küssen.«
Zedd bedeutete Richard mit einer Handbewegung vorauszugehen und gab ihm damit zu verstehen, sich zu beeilen. Als Richard aufbrach, hakte Zedd sich bei Kahlan unter und ließ die anderen vor. Während die anderen durch den Schlamm davonstapften, hielt er sie zurück. Zedd legte ihr einen Arm um die Schultern und beugte sich zu ihr hinüber. »Und nun, meine Liebe, würde ich gerne hören, was ich deiner Meinung nach nicht glauben werde.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Kahlan seinen angespannten Gesichtsausdruck. Es war ihm ernst, deshalb entschied sie, es sei besser, ihm seine Besorgnis zu nehmen.
»Es ist nichts. Er war vorübergehend von einem verrückten Einfall besessen, aber ich habe ihn wieder zur Vernunft gebracht. Er ist darüber hinweg.«
Zedd senkte den Blick und musterte sie, ein beunruhigender Anblick bei einem Zauberer. »Ich weiß, du bist nicht so dumm, das zu glauben, was läßt dich also vermuten, daß ich es bin? Hmmm? Diesen Knochen hat er längst noch nicht verscharrt, er hat ihn noch immer zwischen seinen Zähnen.«
Kahlan sah den anderen nach. Sie hatten immer noch ein paar Schritte Vorsprung. Richard hätte an der Spitze der Gruppe gehen sollen, aber Cara, ganz Beschützerin, hatte sich vor ihn gesetzt.
Sie verstand zwar die Worte nicht, trotzdem konnte Kahlan sehen, daß Ann und Richard angeregt miteinander sprachen. So sehr die beiden auch gegenseitig stichelten, wenn ihnen danach war, hielten Zedd und Ann zusammen wie Pech und Schwefel.
Zedds astdürre Finger schlossen sich fester um ihren Arm. Richard war nicht der einzige, der noch einen Knochen zwischen den Zähnen hatte.
Mit einem schweren Seufzer erzählte Kahlan es ihm. »Richard ist vermutlich der Ansicht, daß ein Hühnermonster frei herumläuft.«
Kahlan hatte Nase und Mund wegen des Gestanks bedeckt, ließ ihre Hände jedoch sinken, als die beiden Frauen von ihrer Arbeit aufsahen. Lächelnd begrüßten die beiden die kleine Gruppe, die, das Wasser abschüttelnd, zur Tür hereingestapft kam und aussah, als sei sie in einen Fluß gefallen.
Die beiden Frauen waren mit Junis Leichnam beschäftigt und verzierten ihn mit schwarzweißen Schlammzeichnungen. Sie hatten Handgelenke und Knöchel bereits mit Zierarmbändern aus Gras umflochten und an seinem Kopf ein Lederstirnband befestigt, unter das sie nach Art der zur Jagd ausziehenden Jäger Gras gesteckt hatten.
Juni lag aufgebahrt auf einer Plattform aus Schlammziegeln, einer von vier solcher erhöhten Arbeitsflächen; alle vier waren an den Seiten mit dunklen Flecken einer herablaufenden Flüssigkeit bedeckt. Eine Schicht aus fauligem Stroh bedeckte den Fußboden. Sobald ein Leichnam hereingebracht wurde, wurde das Stroh mit den Füßen um das Fundament der Plattform aufgeschichtet, um die auslaufenden Flüssigkeiten aufzufangen.
Im Stroh wimmelte es von Ungeziefer. Lagen keine Leichen hier, ließ man die Tür offen, damit die Hühner sich an den Käfern gütlich tun konnten und diese nicht überhand nahmen.
Ein Stück rechts von der Tür befand sich das einzige Fenster. Solange niemand einen Leichnam behandelte, sperrte ein dickes Rehfell das Licht aus, damit die Verstorbenen ihre Ruhe hatten. Jetzt aber hatten die Frauen das Rehfell zur Seite geschoben und es hinter einem Wandhaken befestigt, damit das trübe Licht in den beengten Raum fallen konnte.
Nachts wurden keine Leichen präpariert, damit die Ruhe der auf die andere Seite hinüberwechselnden Seelen nicht gestört wurde. Ehrerbietung gegenüber der scheidenden Seele war für die Schlammenschen wesentlich; die neuen Seelen konnten eines Tages angerufen werden, um ihren noch lebenden Brüdern und Schwestern beizustehen.
Bei den beiden handelte es sich um ältere Frauen. Sie lächelten, als wäre es ihnen selbst bei dieser grausamen Arbeit unmöglich, ihr sonniges Wesen hinter einer Maske aus Schwermut zu verbergen. Kahlan vermutete, daß die beiden Spezialistinnen für das ordnungsgemäße Schmücken von Toten vor deren Beisetzung waren.
Kahlan fiel auf, daß die Duftöle noch immer glänzten, mit denen der Körper an den noch mit Schlamm zu bedeckenden Stellen eingerieben wurde. Die Öle konnten den atemberaubenden Gestank des verdreckten Strohs und der Plattformen allerdings nicht überdecken. Ihr war unbegreiflich, wieso man das Stroh nicht häufiger wechselte. Vielleicht tat man es sogar, woher sollte sie das wissen? Den Folgen von Tod und Verwesung konnte man aber ohnehin nicht entrinnen, so oder so.
Vielleicht wurden die Toten aus diesem Grund rasch beerdigt – entweder am Tag ihres Todes oder spätestens am Tag darauf. Man würde auch Juni nicht lange auf seine Beerdigung warten lassen. Dann konnte sich seine Seele, sobald sie sich davon überzeugt hatte, daß alles so war, wie es sein sollte, in der Welt der Seelen ihren Artgenossen zuwenden.
Kahlan beugte sich über die beiden Frauen. Aus Achtung vor dem Toten sprach sie mit gesenkter Stimme. »Zedd und Ann hier« – sie deutete mit der Hand auf die beiden – »würden sich Juni gerne einmal ansehen.«
Die beiden Frauen verbeugten sich von der Hüfte an aufwärts und räumten ihre Töpfe mit schwarzem und weißem Schlamm aus dem Weg. Richard beobachtete, wie sein Großvater und Ann ihre Hände leicht auf Junis Körper legten und ihn, zweifellos mit Hilfe von Magie, untersuchten. Während Zedd und Ann sich bei der Untersuchung mit gedämpfter Stimme berieten, wandte Kahlan sich an die beiden Frauen und erklärte ihnen, welch gute Arbeit sie leisteten und wie sehr ihr der Tod des jungen Jägers zu Herzen gehe.
Richard hatte seinen toten Beschützer lange genug angesehen und schloß sich ihr an. Er legte ihr einen Arm um die Hüfte und bat sie, ihnen sein Beileid auszusprechen. Kahlan tat dies.
Kurz darauf winkten Zedd und Ann die beiden heimlich zur Seite. Lächelnd bedeuteten sie den beiden Frauen, mit ihrer Arbeit fortzufahren.
»Deine Vermutung war richtig«, raunte Zedd, »sein Genick ist nicht gebrochen, auch konnte ich bei ihm keine Kopfverletzung entdecken. Ich würde sagen, er ist ertrunken.«
»Und wie könnte das deiner Meinung nach geschehen sein?« Richards Ton enthielt einen winzigen Funken Sarkasmus.
Zedd drückte Richards Schulter. »Du warst einmal krank und hast das Bewußtsein verloren. Erinnerst du dich noch? Daran war nichts Unheimliches. Hast du dir den Schädel eingeschlagen? Nein. Du bist auf dem Boden zusammengebrochen, wo ich dich gefunden habe. Erinnerst du dich? So einfach könnte es diesmal auch gewesen sein.«
»Aber Juni wies keinerlei Anzeichen für…«
Alles drehte sich um, als die alte Heilerin Nissel, ein kleines Bündel in den Armen haltend, zur Tür hereingewatschelt kam. Sie hielt kurz inne, als sie die vielen Menschen in dem winzigen Raum erblickte, dann wandte sie sich einer anderen Plattform für die Toten zu. Zärtlich legte sie das Bündel auf den kalten Ziegeln ab. Kahlan schlug sich die Hand vors Herz, als sie sah, wie Nissel ein neugeborenes Baby auswickelte.
»Was ist geschehen?« erkundigte sich Kahlan.
»Es war nicht das freudige Ereignis, das ich erwartet habe.« Nissels kummervoller Blick und Kahlans Augen trafen sich. »Das Kind kam tot zur Welt.«
»Gütige Seelen«, meinte Kahlan leise, »das tut mir so leid.«
Nissel zuckte mit den Achseln. »Ich habe die Mutter monatelang beobachtet. Alles schien auf ein freudiges Ereignis hinzudeuten. Ich habe keine Schwierigkeiten vorausgesehen, trotzdem wurde das Kind tot geboren.«
»Wie geht es der Mutter?« fragte Kahlan.
Nissel senkte den Blick zum Boden. »Im Augenblick weint sie sich das Herz heraus, aber bald wird es ihr wieder gutgehen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nicht alle Kinder sind stark genug, zu überleben. Die Frau wird andere bekommen.«
Als das Gespräch beendet schien, beugte Richard sich vor. »Was hat sie gesagt?«
Kahlan stampfte zweimal fest auf, um den Tausendfüßler abzuschütteln, der ihr Bein heraufkrabbelte. »Das Baby war einfach nicht kräftig genug und kam tot zur Welt.«
Er blickte stirnrunzelnd zu dem traurigen Bündel hinüber. »Nicht kräftig genug…«
Kahlan beobachtete, wie er den winzigen Körper anstarrte, reglos, blutleer, irgendwie unwirklich. Ein neugeborenes Kind war ein Wesen von grenzenloser Schönheit, dieses Wesen jedoch, dem die Seele fehlte, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, damit es auf dieser Welt verweilen konnte, war blanke Häßlichkeit.
Kahlan erkundigte sich, wann Juni begraben werden sollte. Eine der beiden Frauen blickte zu dem winzigen toten Leichnam hinüber. »Jetzt müssen wir noch einen weiteren Toten präparieren. Sie werden beide morgen ihrer ewigen Ruhe übergeben werden.«
Beim Hinausgehen wandte Richard den Kopf und blickte hinauf in den sturzbachartigen Regen. Über ihm in der flachen Traufe hockte ein Huhn und plusterte sein Federkleid auf. Richards Blick verweilte einen Augenblick auf dem Tier.
Die Gedankengänge, die seinem Gesicht so deutlich anzusehen waren, gingen über in Entschlossenheit.
Richard spähte den Durchgang hinauf. Er pfiff und winkte mit einem Arm. Die Jäger, ihre Bewacher, kamen angetrabt. Als sie vor ihm standen, packte Richard mit seiner großen Hand Kahlans Arm. »Erklär ihnen, ich möchte, daß sie noch mehr Männer holen gehen. Sie sollen sämtliche Hühner zusammentreiben…«
»Was?!« Kahlan riß ihren Arm los. »Darum werde ich sie nicht bitten, Richard. Sie werden denken, du hast den Verstand verloren!«
Zedd schob seinen Kopf zwischen die beiden. »Was ist denn?«
»Er will, daß die Männer sämtliche Hühner zusammentreiben, weil eines von ihnen über der Tür hockt.«
»Als wir ankamen, war es noch nicht da. Ich habe selbst nachgesehen.«
Zedd drehte sich um und blinzelte in den Regen. »Was für ein Huhn?«
Kahlan und Richard sahen beide ebenfalls nach – das Huhn war verschwunden.
»Wahrscheinlich hat es sich auf die Suche nach einem trockeneren Schlafplatz gemacht«, murrte Kahlan. »Oder einen, wo es ungestörter ist.«
Zedd wischte sich den Regen aus den Augen. »Richard, ich will wissen, was hier gespielt wird.«
»Vor dem Seelenhaus wurde ein Huhn getötet. Juni spie auf die Ehre dessen, der dieses Huhn getötet hat, kurz darauf kam Juni ums Leben. Ich warf mit einem Stock nach dem Huhn im Fenster, und kurz darauf griff es den kleinen Jungen an. Es war meine Schuld, daß Ungi so zerkratzt wurde. Ich möchte denselben Fehler nicht noch einmal machen.«
Zu Kahlans Überraschung blieb Zedd ganz ruhig. »Richard, du verbindest zwei gähnende logische Abgründe mit einem Geflecht aus äußerst fadenscheinigen Argumenten.«
»Der Vogelmann meinte, eines der Hühner sei gar kein Huhn.«
Zedd runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«
»Er war betrunken«, gab Kahlan zu bedenken.
»Du hast mich zum Sucher ernannt, Zedd. Solltest du den Wunsch haben, deinen Entschluß noch einmal zu überdenken, dann tu es jetzt. Wenn nicht, dann laß mich meine Arbeit machen. Wenn ich mich irre, kannst du mich hinterher belehren.«
Richard nahm Zedds Schweigen als Zustimmung und ergriff abermals Kahlans Arm, wenn auch ein wenig zarter als beim ersten Mal. Entschlossenheit funkelte in seinen grauen Augen.
»Bitte tu, was ich sage, Kahlan. Wenn ich mich irre, werde ich wie ein Narr dastehen, aber ich stehe lieber wie ein Narr da, als daß ich recht habe und nichts unternehme.«
Was immer das Huhn getötet hatte, hatte dies unmittelbar vor dem Seelenhaus getan, in dem sie sich befunden hatten. Das war der Wollstrang, aus dem Richard seinen Wandteppich der Bedrohung gewoben hatte. Kahlan vertraute auf Richard, nahm aber an, er lasse sich nur von der Sorge um sie hinreißen.
»Was soll ich den Männern erklären?«
»Ich möchte, daß die Männer die Hühner einsammeln. Sie sollen sie in das Gebäude bringen, das den bösen Seelen vorbehalten ist. Ich möchte, daß die Hühner bis auf das letzte Tier dort zusammengetrieben werden. Anschließend können wir den Vogelmann bitten, sie sich anzusehen und uns mitzuteilen, welches von ihnen gar kein Huhn ist. Auch möchte ich, daß die Männer beim Einsammeln der Hühner behutsam und höflich vorgehen. Ich will unter keinen Umständen, daß jemand sich irgendeinem der Hühner gegenüber respektlos zeigt.«
»Respektlos«, wiederholte Kahlan. »Gegenüber einem Huhn.«
»Sehr richtig.« Richard musterte die wartenden Jäger, dann sah er ihr fest in die Augen. »Erklär den Männern, daß ich befürchte, eines der Hühner könnte von jener bösen Seele besessen sein, die Juni getötet hat.«
Kahlan wußte nicht, ob Richard daran glaubte, aber sie wußte ohne jeden Zweifel, daß es die Schlammenschen glauben würden.
Sie blickte Zedd ratsuchend in die Augen, fand aber keinen; Anns Miene hatte auch nicht mehr zu bieten. Cara war auf Richard eingeschworen; zwar mißachtete sie gewohnheitsmäßig Befehle, die sie für unwichtig hielt, aber wenn Richard darauf bestand, würde sie sich für ihn von einer Klippe stürzen.
Richard würde niemals klein beigeben. Dolmetschte Kahlan nicht für ihn, würde er sich auf die Suche nach Chandalen machen, der dies bestimmt gern für ihn übernähme. Scheiterte auch das, würde er, falls nötig, die Hühner selbst einsammeln.
Wenn man nicht tat, was er verlangte, bewies man bestenfalls einen Mangel an Glauben in ihn; das allein überzeugte sie schließlich.
Kahlan stand fröstelnd im eiskalten Regen und blickte Richard ein letztes Mal in seine grauen Augen, dann wandte sie sich an die wartenden Jäger.