Obwohl es weiter kaum ins Auge fiel, lag das grasbewachsene Gelände, das sich vor Beatas Dominie Dirtch bis zum Horizont erstreckte, ein wenig höher als das Gelände zu beiden Seiten der gewaltigen Waffe aus Stein und bot somit ein festeres Geläuf, vor allem für Pferde. Die flache Niederung zur Rechten war nach den Regenfällen in letzter Zeit schlammig; nach links hinüber war es nicht besser. Wegen der einzigartigen geographischen Lage, insbesondere nach Regenfällen, hielten Reisende häufiger auf Beatas Posten, auf ihre Dominie Dirtch zu.
Viele waren es nicht, doch wer in diesem Gebiet aus dem Grasland der Wildnis nach Anderith unterwegs war, neigte dazu, als Erstes ihren Posten aufzusuchen. Beata genoss es, zur Abwechslung einmal verantwortlich zu sein, die Menschen zu beurteilen und entscheiden zu können, ob sie passieren durften. Wer ihrer Ansicht nach aussah, als ließe man ihn besser nicht ins Land, den verwies sie an einen anderen Grenzstützpunkt, wo er bei den dort stationierten Posten um Einlass ersuchen konnte.
Es war ein gutes Gefühl, wichtige Dinge entscheiden zu können, statt machtlos zu sein. Jetzt war sie es, die die Entscheidungen traf.
Aufregend war es auch, wenn Reisende durchkamen – es war eine Abwechslung, eine Gelegenheit, sich mit Menschen von weither zu unterhalten oder ihre fremdartige Kleidung zu bestaunen. Selten reisten mehr als zwei oder drei Personen zusammen, doch zu ihr sahen sie stets auf; sie trug die Verantwortung.
An diesem strahlend sonnigen Morgen allerdings schlug Beata das Herz gegen die Rippen. Diesmal näherten sich ungewöhnliche Besucher der Grenze. Diesmal waren es beträchtlich mehr als nur ein paar. Diesmal deutete alles darauf hin, dass es sich um eine echte Bedrohung handelte.
»Carine«, befahl Beata, »geh am Schlegel in Bereitschaft.«
Die Hakenierin blinzelte sie erstaunt an. »Seid Ihr sicher, Sergeant?« Carine hatte entsetzlich schlechte Augen, selten erkannte sie etwas, das mehr als dreißig Schritte entfernt war, und besagte Personen befanden sich noch weit draußen am Horizont.
Das hatte Beata noch nie zuvor getan: Befehl gegeben, den Schlegel aus seiner Halterung zu nehmen. Wenigstens nicht, wenn Leute nahten. Das Herausnehmen wurde selbstverständlich geübt, aber den Befehl dazu hatte sie noch nie gegeben. In ihrer Abwesenheit hatten die Diensthabenden die Anweisung, ihn herauszunehmen, sobald ihrer Einschätzung nach eine Bedrohung nahte; war Beata jedoch zugegen, oblag es ihr, den Befehl zu geben, ihn einsatzbereit zu machen. Sie trug die Verantwortung, auf sie verließen sie sich.
Nach dem schrecklichen Unfall war vor der Halterung, in der der Schlegel stand, ein zusätzlicher Riegel angebracht worden, obwohl sie wussten, dass nicht der Schlegel die Waffe zum Klingen gebracht hatte. Niemand hatte ihnen gesagt, sie sollten dies tun, Beata war mit einer zusätzlichen Sicherung vor dem Schlegel einfach wohler zumute. Es gab ihnen das Gefühl, auf den Zwischenfall zu reagieren, auch wenn es im Grunde gar nicht stimmte.
Niemand wusste, weshalb die Dominie Dirtch erklungen war.
Beata wischte sich die verschwitzten Handflächen an den Hüften ab. »Bin ich. Macht es einfach.«
Wenn sonst Menschen nahten, ließ sich recht einfach feststellen, ob sie harmlos waren. Händler mit einem Karren, ein paar Angehörige der Nomadenvölker aus der Wildnis, die mit den an der Grenze postierten Soldaten Handel treiben wollten – Beata ließ sie niemals durch –, Kaufleute, die aus dem einen oder anderen Grund eine ungewöhnliche Wegstrecke eingeschlagen hatten, manchmal sogar ein paar Gardisten der anderischen Sondereinheit, die von einem Patrouillengang zurückkehrten.
Diese anderischen Gardisten waren keine gewöhnlichen Armeesoldaten, sondern etwas Besonderes: ausschließlich Männer, die auf Beata den Eindruck machten, als seien sie es gewohnt, sich mit Ärger der einen oder anderen Art zu befassen. Regulären anderischen Soldaten wie Beata schenkten sie überhaupt keine Beachtung.
Einmal hatte sie ihnen befohlen, stehen zu bleiben, als sie herangeritten kamen. Beata wusste, wer sie waren, denn Captain Tolbert hatte sie und ihren Trupp über die besonderen Gardetruppen der Anderier aufgeklärt und sie angewiesen, diese Männer nach Belieben passieren zu lassen, sollten sie des Weges kommen. Sie hatte sie lediglich fragen wollen, ob sie etwas benötigten, schließlich waren es Kameraden.
Sie waren auf ihren Befehl hin nicht stehen geblieben. Ihr Anführer hatte lediglich feixend zu ihr herübergesehen, während er mit seiner Kolonne großer, kräftiger Männer vorüberritt.
Bei den Personen, die jetzt nahten, handelte es sich allerdings nicht um Gardisten. Beata wusste nicht, was sie von ihnen halten sollte, außer, dass sie allem Anschein nach eine ernstliche Bedrohung darstellten. Sie konnte Hunderte berittener Soldaten in dunklen Uniformen ausmachen, als sie beim Haltmachen ihre geschlossene Formation auflösten.
Selbst aus der Ferne war es ein gewaltiger Anblick.
Beata warf einen Blick zur Seite und sah, wie Carine den Schlegel nach hinten schwenkte. Annette hielt den Schaft gepackt, um ihr beim Anschlagen der Dominie Dirtch zu helfen.
Beata war mit einem Satz bei ihnen und bekam den Schaft des Schlegels zu fassen, bevor sie damit ausholen konnten.
»Ich habe nichts dergleichen befohlen! Was ist in Euch gefahren? Zurücktreten!«
»Aber Sergeant«, beschwerte sich Annette, »es sind Soldaten – eine Menge Soldaten –, und sie gehören nicht zu uns.«
Beata stieß die Frau zurück. »Sie geben das Signal. Seht Ihr das nicht?«
»Aber Sergeant Beata«, greinte Annette, »das sind nicht unsere Leute. Sie haben hier nichts zu suchen…«
»Ihr wisst doch noch gar nicht, was sie hier wollen!« Beata war verängstigt und wütend, dass Annette und Carine die Waffe beinahe aus freien Stücken angeschlagen hätten. »Habt ihr den Verstand verloren? Ihr wisst nicht einmal, wer sie sind! Womöglich hättet ihr unschuldige Menschen umgebracht!
Wegen Missachtung eines Befehls werdet ihr beide heute Abend und für den Rest der Woche eine zusätzliche Wache übernehmen. Habt ihr verstanden?«
Annette ließ den Kopf hängen. Carine salutierte, unschlüssig, wie sie auf eine solche Disziplinarmaßnahme reagieren sollte. Beata hätte sich über jeden aus ihrem Trupp geärgert, der eigenmächtig versucht hätte, die Dominie Dirtch anzuschlagen, tief in ihrem Innern jedoch war sie froh, dass es die beiden hakenischen Frauen waren und nicht einer der Anderier.
Am Horizont schwenkte ein Reiter eine weiße, am Ende einer Stange oder Lanze befestigte Flagge. Beata wusste nicht, auf welche Entfernung die Dominie Dirtch zu töten imstande waren. Vielleicht wäre den Menschen dort draußen überhaupt nichts passiert, wenn Annette und Carine sie angeschlagen hätten. Nach dem Zwischenfall mit Turner hoffte sie jedoch nie wieder erleben zu müssen, wie sie angeschlagen wurde, solange sich Menschen davor befanden – es sei denn, sie griffen eindeutig an.
Beata beobachtete, wie die Truppen dort draußen an Ort und Stelle warteten, während sich nur einige Personen näherten. Das entsprach den Vorschriften, so hatte man es Beata und ihrem Trupp beigebracht. Die Leute mussten irgendeine Fahne schwenken, und wenn es viele waren, durften sich nur wenige nähern, um ihr Ansinnen vorzutragen.
Einige wenige Personen herankommen zu lassen barg keinerlei Risiko. Die Dominie Dirtch war imstande, einen Feind zu töten, selbst wenn er nur einen Schritt vor ihr stand. Wie weit sich Menschen ihr näherten, war im Grunde nicht von Belang – übrigens ebenso wenig wie ihre Zahl.
Vier Personen, zwei zu Fuß und zwei zu Pferd, lösten sich von den übrigen und ließen sie hinter sich zurück. Als sie näher kamen, erkannte sie, dass es zwei Männer und zwei Frauen waren. Ein Mann und eine Frau waren zu Pferd, das andere Paar ging zu Fuß. Die Frau auf dem Pferd hatte etwas an sich…
Als Beata begriff, um wen es sich ganz offensichtlich handelte, schien ihr Herz plötzlich bis zum Hals zu schlagen.
»Seht ihr?«, meinte Beata zu Carine und Annette. »Könnt ihr euch vorstellen, was passiert wäre, hättet ihr dieses Ding angeschlagen? Könnt ihr euch das auch nur annähernd vorstellen?«
Die beiden starrten offenen Mundes hinaus zu den Herankommenden. Beata zitterten die Knie bei der Vorstellung, was um ein Haar passiert wäre. Sie drehte sich um und drohte den beiden mit der Faust. »Schließt dieses Ding wieder fort. Und wagt bloß nicht, der Dominie Dirtch auch nur nahe zu kommen! Habt ihr verstanden?«
Die beiden salutierten. Beata wandte sich um und lief die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter. Das hätte sie sich im Leben nicht träumen lassen!
Niemals hätte sie sich träumen lassen, der Mutter Konfessor persönlich zu begegnen. Offenen Mundes stand sie mit den anderen aus ihrem Trupp da, die neugierig hervorgekommen waren, als die Frau in dem langen weißen Kleid nach vorne ritt. Die Frau zu Fuß war schwanger. Der zu Fuß gehende Mann, links von der Mutter Konfessor, trug weite, unauffällige Kleidung. Er hatte ein Schwert bei sich, das er jedoch in der Scheide stecken ließ.
Der rechts von der Mutter Konfessor reitende Mann bot ein völlig anderes Bild. Einen solchen Mann hatte Beata noch nie zu Gesicht bekommen, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem goldenen Cape, das sich hinter ihm blähte. Der Anblick raubte ihr den Atem.
Beata überlegte, ob dies der Mann sein konnte, der dem Vernehmen nach die Mutter Konfessor heiraten sollte: Lord Rahl. Er sah zweifellos aus wie ein Lord und war so ziemlich der beeindruckendste Mann, den Beata je zu Gesicht bekommen hatte.
Beata rief den beiden oben auf der Plattform zu, sie sollten herunterkommen.
Die beiden Frauen eilten die Stufen herab, und Beata reihte sie in die Übrigen aus ihrem Trupp ein. Corporal Marie Fauvel, Estelle Ruffin und Emmeline standen rechts von Beata, die beiden von der Plattform stellten sich zu den drei anderischen Männern links von ihr. Sie nahmen in gerader Linie Aufstellung und beobachteten die vier Personen, die genau auf sie zuhielten.
Als die Mutter Konfessor abstieg, fielen Beata und ihr gesamter Trupp, ohne dass irgend jemand einen Befehl hätte geben müssen, auf die Knie und senkten das Haupt. Im Niederknien hatte Beata einen Blick auf das wunderschöne weiße Kleid und den langen, prächtigen Haarschopf der Mutter Konfessor erhascht. Haar wie dieses, so lang und von solcher Eleganz, hatte Beata noch nie gesehen. Sie war das dunkle anderische Haar gewöhnt oder das rote der Hakenier, daher war Haar, das honigbraun in der Sonne leuchtete, ein überaus seltener Anblick, der der Frau fast etwas Übermenschliches verlieh.
Beata war froh, dass sie ihren Kopf gesenkt hatte, so groß war ihre Angst, der Mutter Konfessor in die Augen zu blicken. Nur eine tief greifende Furcht hatte Beata davor bewahrt, sie ehrfurchtsvoll anzustarren.
Ihr Leben lang hatte sie Geschichten über die Kraft der Mutter Konfessor gehört, über die magischen Bravourstücke, die zu bewirken sie imstande sei, wie sie Menschen, die sie nicht mochte, mit einem Blick in Stein verwandeln könne und noch weit Schlimmeres.
Beata, kurz davor, in Panik auszubrechen, verschluckte sich, keuchte. Sie war nichts weiter als eine junge Hakenierin und fühlte sich plötzlich völlig fehl am Platz. Nie hätte sie für möglich gehalten, plötzlich vor der Mutter Konfessor zu stehen.
»Erhebt euch, meine Kinder«, sprach eine Stimme von oben.
Allein der Klang, dieser sanfte, klare und offenkundig freundliche Klang minderte Beatas Angst beträchtlich. Sie hätte nie gedacht, dass die Mutter Konfessor eine so … frauliche Stimme hätte. Beata hatte stets angenommen, ihre Stimme müsse schrill klingen wie die einer gespenstischen Seele aus der Welt der Toten.
Beata erhob sich gemeinsam mit den Übrigen ihres Trupps, hielt das Haupt aber gesenkt, denn sie hatte noch immer Angst, der Mutter Konfessor unmittelbar in die Augen zu sehen. Für den Fall einer direkten Begegnung mit der Mutter Konfessor hatte man Beata keinerlei Anweisungen erteilt, schließlich hatte niemand für möglich gehalten, ein solches Ereignis könnte ihr, einem hakenischen Mädchen, widerfahren. Und nun war es einfach passiert.
»Wer hat hier das Kommando?« Es war die Stimme der Mutter Konfessor, nach wie vor durchaus freundlich, wenn auch ein unverkennbarer Unterton von Autorität mitschwang. Wenigstens hörte sie sich nicht so an, als hätte sie die Absicht, Blitze auf die Anwesenden herabzuwünschen.
Beata trat einen Schritt vor, hielt die Augen aber auf den Boden gerichtet. »Das bin ich, Mutter Konfessor.«
»Und wer seid Ihr?«
Beatas rasendes Herz weigerte sich, langsamer zu schlagen. Sie konnte sich nicht zwingen, mit dem Zittern aufzuhören. »Eure ergebene Dienerin, Mutter Konfessor. Ich bin Sergeant Beata.«
Beata wäre vor Schreck fast aus der Haut gefahren, als Finger ihr Kinn anhoben. Und dann blickte sie direkt in die grünen Augen der Mutter Konfessor persönlich. Es war, als hätte man eine große, wunderschöne, lächelnde, gütige Seele vor sich.
Gütige Seele oder nicht, Beata erstarrte zu neuerlichem Schrecken.
»Freut mich, Euch kennen zu lernen, Sergeant Beata.« Die Mutter Konfessor deutete nach links. »Das sind Du Chaillu, eine Freundin, und Jiaan, ebenfalls ein Freund.« Sie legte dem großen, kräftigen Mann neben ihr die Hand auf die Schulter. »Dies ist Lord Rahl«, sagte sie mit breiter werdendem Lächeln, »mein Gemahl.«
Endlich wanderte Beatas Blick hinüber zu Lord Rahl; auch er lächelte freundlich. Beata hatte noch nie erlebt, dass so bedeutende Persönlichkeiten sie auf diese Weise anlächelten. Und das alles nur, weil sie der anderischen Armee beigetreten war, um als eine verdorbene Hakenierin endlich Gutes tun zu können.
»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich hinaufgehe und mir die Dominie Dirtch einmal ansehe, Sergeant Beata?«, fragte Lord Rahl.
Beata räusperte sich. »Äh – na ja, nein, Sir. Ganz und gar nicht, bitte. Es wäre mir eine Freude, Euch die Dominie Dirtch zeigen zu dürfen. Eine Ehre, meine ich. Ich meine, ich würde mich geehrt fühlen, sie Euch zu zeigen.«
»Und unsere Soldaten«, beendete die Mutter Konfessor gnädigerweise Beatas Gestammel, »dürfen sie jetzt anrücken, Sergeant?«
Beata verbeugte sich. »Vergebt mir. Entschuldigt. Selbstverständlich dürfen sie, Mutter Konfessor. Selbstverständlich. Bitte verzeiht. Wenn Ihr erlaubt, werde ich mich darum kümmern.«
Auf ein Nicken der Mutter Konfessor hin rannte Beata vor Lord Rahl die Stufen hinauf und kam sich dabei vor wie eine Närrin, weil sie die Mutter Konfessor nicht gleich als Erstes in Anderith willkommen geheißen hatte. Beata schnappte sich das Horn und blies Entwarnung für die Trupps an den Dominie Dirtch zu beiden Seiten. Dann wandte sie sich den in der Ferne wartenden Soldaten zu und blies einen langen Ton, um ihnen mitzuteilen, es bestehe keinerlei Gefahr und man habe ihnen die Erlaubnis erteilt, sich der Dominie Dirtch zu nähern.
Lord Rahl kam die Treppe herauf. Beata setzte das Horn ab und trat zurück an das Geländer. Er hatte etwas an sich, dass ihr allein schon seine Gegenwart den Atem raubte. Nicht einmal der Minister für Kultur hatte ihr – vor seiner Untat – ein solches Gefühl der Ehrfurcht eingeflößt wie dieser Mann, Lord Rahl.
Es lag nicht allein an seiner Größe, an seinen breiten Schultern, an seinen durchdringenden grauen Augen oder seinem schwarz-goldenen Anzug mit dem breiten Gürtel und den golddurchwirkten Ledertaschen und den seltsamen Symbolen darauf – es war seine Gegenwart.
Er wirkte nicht korrekt und elegant wie die anderischen Beamten, wie Dalton Campbell oder der Minister für Kultur, stattdessen eher nobel, entschlossen und dabei gleichzeitig – gefährlich.
Tödlich.
Zwar war er durchaus freundlich und gut aussehend, trotzdem stand für sie außer Zweifel, dass sie allein von der Heftigkeit seines Blicks erschlagen werden konnte, sollte er sie jemals erzürnt aus diesen grauen Augen ansehen.
Wenn je ein Mann so ausgesehen hatte, als könnte er der Gemahl der Mutter Konfessor sein, dann dieser.
Die Schwangere kam die Stufen herauf, alles mit den Augen verschlingend. Auch diese dunkelhaarige Frau hatte etwas Nobles an sich. Sie und der andere Mann, beide dunkelhaarig, sahen aus wie Anderier. Sie trug das seltsamste Kleid, das Beata je gesehen hatte; überall an Armen und Schultern waren kleine bunte Stoffstreifen befestigt.
Beata streckte eine Hand aus. »Dies, Lord Rahl, ist die Dominie Dirtch.« Beata hätte gerne auch die Frau mit Namen angesprochen, doch der war ihr entfallen und fiel ihr beim besten Willen nicht mehr ein.
Lord Rahls Blick wanderte über die riesige, glockenförmige Waffe aus Stein.
»Sie wurde vor Tausenden von Jahren von den Hakeniern als gegen die Anderier gerichtete Mordwaffe erschaffen«, erläuterte Beata, »jetzt jedoch dient sie stattdessen dem Frieden.«
Die Hände locker hinter dem Rücken verschränkt, unterzog Lord Rahl die unzähligen Tonnen Gesteins, aus denen die Dominie Dirtch bestand, einer eingehenden Untersuchung. Sein Blick erfasste jede Feinheit auf eine Weise, wie Beata noch niemanden sie hatte betrachten sehen. Fast erwartete sie, er würde zu ihr sprechen, und die Dominie Dirtch würde antworten.
»Und wie soll das möglich gewesen sein, Sergeant?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Sir?«
Als er sich endlich zu ihr umdrehte, stockte ihr beim Anblick seiner grauen Augen der Atem.
»Nun, die Hakenier haben Anderith doch erobert, oder etwa nicht?«
Sie hatte Mühe, unter dem prüfenden Blick aus diesen Augen ein Wort hervorzubringen. »Ja, Sir.« Es war kaum mehr als ein Krächzen.
Er deutete mit dem Daumen nach hinten auf die steinerne Glocke. »Und diese Eindringlinge sind also mit den Dominie Dirtch auf den Rücken gebunden herangeritten gekommen, oder wie denkt Ihr darüber, Sergeant?«
Beata fingen die Knie an zu zittern. Wenn er ihr doch wenigstens keine Frage stellen würde. Wenn er sie einfach nur in Frieden lassen, weiter nach Fairfield reiten und mit den wichtigen Leuten dort sprechen würde, die eine Antwort auf diese Frage wussten.
»Sir?«
Lord Rahl drehte sich um und deutete auf die vor ihm in die Höhe ragenden Steine. »Diese Waffen wurden ganz offenkundig nicht hierhergebracht, Sergeant. Dafür sind sie zu groß. Und es sind zu viele. Sie müssen hier, an Ort und Stelle, errichtet worden sein, zweifellos mit Hilfe von Magie.«
»Aber als die hakenischen Mörder über dieses Land herfielen…«
»Sie sind nach außen gerichtet, Sergeant, auf etwaige Eindringlinge, nicht nach innen, auf das Volk der Anderier. Sie wurden eindeutig als Verteidigungswaffen erbaut.«
Beata musste schlucken. »Aber uns hat man beigebracht…«
»Man hat Euch eine Lüge beigebracht.« Er wirkte entschieden unglücklich über das, was er hier sah. »Dies ist eindeutig eine Waffe zur Verteidigung.« Er spähte zu den Dominie Dirtch auf beiden Seiten hinüber und musterte sie mit einem kritischen Blick. »Sie funktionieren im Verbund. Sie wurden als Verteidigungslinie hier aufgestellt und waren niemals ein für den Angriff gedachtes Kriegsgerät.«
Wie er dies sagte, fast mit einem Ton des Bedauerns, hatte Beata keinesfalls den Eindruck, als wollte er jemanden kränken. Er schien einfach auszusprechen, was ihm in den Sinn kam, während er sich selbst klar darüber wurde.
»Aber die Hakenier…«, wandte Beata kaum lauter als ein Flüstern ein.
Lord Rahl wartete höflich ab, ob sie ein Argument vorzubringen hätte. Ihr drehte sich der Kopf vor verwirrenden Gedanken.
»Ich bin nicht sehr gebildet, Lord Rahl. Ich bin nur eine Hakenierin und von Natur aus verdorben. Verzeiht mir, dass meine Ausbildung nicht ausreicht, um Eure Fragen besser zu beantworten.«
Er seufzte schwer. »Man braucht keine Ausbildung, Sergeant Beata, um zu erkennen, was man unmittelbar vor Augen hat. Benutzt Euren Verstand.«
Beata verstummte, unfähig, dem Gespräch eine einvernehmliche Wende zu geben. Dies war ein bedeutender Mann. Sie hatte einiges über Lord Rahl gehört, was für ein mächtiger Mann er sei, ein Magier, in dessen Macht es stand, den Tag zur Nacht zu machen und oben nach unten zu kehren. Er regierte nicht einfach nur ein einzelnes Land, wie der Minister für Kultur und der Herrscher, sondern herrschte über das geheimnisvolle Reich D’Hara und war derzeit im Begriff, die gesamten Midlands auf seine Seite zu ziehen.
Aber er war auch mit der Mutter Konfessor verheiratet. Beata war der Blick in den Augen der Mutter Konfessor nicht entgangen, als sie Lord Rahl angesehen hatte. Beata hatte diesem Blick entnommen, dass die Frau diesen Mann liebte und respektierte. Das war nicht zu übersehen.
»Ihr solltet auf ihn hören«, meinte die schwangere Frau. »Er ist außerdem der Sucher der Wahrheit.«
Beata fiel der Unterkiefer herunter. Sie fing an zu sprechen, bevor ihre Angst sie mundtot machen konnte. »Heißt das, das ist das Schwert der Wahrheit, Sir, das Ihr tragt?«
Ihr schien es eine ganz gewöhnliche Waffe zu sein, die sich kaum von der ihren unterschied, nichts weiter als eine schwarze, lederne Scheide und ein mit Leder umwickelter Handgriff.
Er sah an sich herab, zog die Waffe ganz aus der Scheide und ließ sie wieder zurückfallen. Sein Gesicht bekam einen mutlosen Zug.
»Das hier? Nein – das ist nicht das Schwert der Wahrheit. Ich habe es im Augenblick – nicht bei mir.«
Beata brachte nicht den Mut auf zu fragen, warum nicht. Sie hätte gern einen Blick auf das echte Schwert geworfen. Es besaß Magie. Das wäre ein Ding gewesen, wenn sie – und nicht Snip – einen Blick auf das Schwert der Wahrheit erhascht hätte, an das er so oft dachte. Dank ihrer Zugehörigkeit zur Armee und ihrer Verantwortung für eine Dominie Dirtch erlebte sie weit mehr, als er jemals erleben würde.
Lord Rahl hatte sich wieder der hoch aufragenden Waffe zugewandt. Er schien alles um sich herum zu vergessen, als er sich auf den flechtenüberwucherten Stein vor ihm konzentrierte. Er stand da, ebenso reglos wie der Stein. Fast schien er eins mit ihm zu werden.
Er streckte eine Hand aus und wollte die Dominie Dirtch berühren.
Die Frau fasste sein Handgelenk und hielt ihn zurück.
»Nein, mein Gemahl. Fass dieses Ding nicht an. Es ist…«
Lord Rahl wandte sich um, sah ihr in die Augen und beendete ihren unvollendeten Satz. »Böse.«
»Du spürst es also auch?«
Er nickte.
Natürlich war es böse, wollte Beata sagen; es war von Hakeniern gemacht.
Beata runzelte verwirrt die Stirn. Die Frau hatte ihn ›Gemahl‹ genannt, dabei hatte doch die Mutter Konfessor behauptet, Lord Rahl sei ihr Gemahl.
Lord Rahl sah seine Truppen anrücken und lief die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter. Die Frau erfasste die Dominie Dirtch mit einem letzten Blick, dann folgte sie ihm.
»Gemahl?« Beata konnte nicht widerstehen, die schwangere Frau danach zu fragen.
Das Kinn emporgereckt, wandte diese sich zu Beata um. »Ganz recht. Ich bin die Gemahlin von Lord Rahl, dem Sucher, dem Caharin, von Richard.«
»Aber – aber die Mutter Konfessor sagte doch…«
Die Frau zuckte mit den Achseln. »Ja, wir sind beide seine Gemahlinnen.«
»Beide. Er hat zwei …?«
Die Frau begann die Stufen hinabzusteigen. »Er ist ein wichtiger Mann. Er darf mehr als eine Gemahlin haben.« Sie blieb stehen und sah sich noch einmal um. »Ich hatte früher fünf Ehemänner.«
Beata sah der Frau mit großen Augen nach, als diese die Treppe hinunter verschwand. Die morgendliche Luft erzitterte unter dem Anrücken der berittenen Soldaten. Derart grimmig aussehende Soldaten hatte Beata sich nicht einmal vorzustellen vermocht. Sie war dankbar für ihre Ausbildung: Captain Tolbert hatte ihr erklärt, mit ihrer Ausbildung könne sie Anderith gegen jeden verteidigen, selbst gegen Männer wie diese.
»Sergeant Beata«, rief Richard zu ihr herauf.
Beata trat an das Geländer vor der Glocke. Er war auf dem Weg zu seinem Pferd unten vor der Vorderseite stehen geblieben und drehte sich um. Die Mutter Konfessor griff soeben nach den Zügeln, sie hatte bereits einen Fuß im Steigbügel.
»Ja, Sir?«
»Ich nehme an, Ihr habt dieses Ding nicht vor etwa einer Woche angeschlagen?«
»Nein Sir, haben wir nicht.«
Er drehte sich um zu seinem Pferd. »Danke, Sergeant.«
»Aber es ist vor einer Woche von allein erklungen.«
Lord Rahl erstarrte, die schwangere Frau wirbelte herum. Die Mutter Konfessor, bereits halb aufgesessen, ließ sich wieder vom Pferd gleiten.
Beata lief die Stufen hinunter, um die entsetzlichen Einzelheiten nicht von oben hinunterrufen zu müssen. Die Übrigen aus ihrem Trupp hatten sich aus Angst, diesen bedeutenden Personen im Wege zu stehen, bereits hinter die Dominie Dirtch zurückgezogen, aus Angst, wie Beata vermutete, die Mutter Konfessor könnte sie mit einem Blick in Flammen setzen. Beata fürchtete sich noch immer vor dieser Frau, doch hatte ihre Angst ein wenig von ihrer Heftigkeit verloren.
Lord Rahl pfiff zu den Soldaten hinüber und forderte sie mit den Armen rudernd auf, sich beim Passieren der Dominie Dirtch zu beeilen und die Gefahrenzone zu verlassen, sollte die Dominie Dirtch abermals von selbst erklingen. Hunderte berittener Soldaten galoppierten zu beiden Seiten an ihr vorbei, während er die Mutter Konfessor und die Schwangere gemeinsam mit dem anderen Mann eilig um den steinernen Sockel herum geleitete.
Als die Frauen endlich in Sicherheit waren, packte er Beata bei der Schulter ihrer Uniform und riss sie zum Schutz zurück, fort von der Vorderseite der Dominie Dirtch. Sie nahm, größtenteils aus Angst, vor ihm starr Haltung an.
Sein Blick verfinsterte sich auf eine Art, die Beatas Knie erzittern ließ. »Was ist passiert?«, fragte er mit ruhiger Stimme, die klang, als könnte sie die Dominie Dirtch abermals zum Klingen bringen.
Die Mutter Konfessor war hinzugekommen und hatte sich neben ihn gestellt. Auf der anderen Seite stand seine schwangere Gemahlin.
»Nun ja, Sir, das wissen wir eben nicht.« Beata benetzte sich die Lippen. »Einer meiner Leute … Turner, er war…« Sie deutete hinter Lord Rahl. »Er war dort draußen auf Patrouille, als das Ding losging. Es war ein entsetzliches Geräusch. Einfach grauenhaft. Und Turner…«
Beata spürte, wie ihr eine Träne über die Wange kullerte. So sehr sie auch wünschte, dass dieser Mann und die Mutter Konfessor nicht mitbekamen, wie sie Schwäche zeigte, sie konnte diese Träne nicht unterdrücken.
»Das war spätnachmittags?«, fragte Lord Rahl.
Beata nickte. »Woher wisst Ihr das?«
Er überging die Frage. »Sie sind alle erklungen? Nicht nur die eine hier, sondern alle auf der gesamten Linie sind erklungen, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Niemand weiß, warum. Später kamen einige Offiziere die Grenze entlang und haben sie überprüft, aber die konnten uns auch nichts sagen.«
»Gab es viele Opfer?«
Beata wich seinem Blick aus. »Ja, Sir. Einer meiner Männer und etliche andere, wie man mir berichtet hat. Karren mit Kaufleuten an der Grenze, Leute, die auf dem Weg zurück über die Grenze waren … alle, die sich draußen vor den Dominie Dirtch aufhielten, als sie erklang … Es war einfach grauenhaft. Auf diese Weise zu sterben…«
»Wir verstehen«, meinte die Mutter Konfessor voller Mitgefühl. »Euer Verlust tut uns Leid.«
»Dann hat also niemand eine Erklärung, weshalb sie erklungen sind?«, hakte Lord Rahl nach.
»Nein, Sir, zumindest hat niemand uns den Grund genannt. Ich habe mit den Trupps zu beiden Seiten, auf den Dominie Dirtch rechts und links neben uns, gesprochen, und bei ihnen war es genau das Gleiche; ihre sind ebenfalls von allein erklungen, aber kein Mensch weiß, warum. Die Offiziere, die vorüberkamen, wussten den Grund offenbar ebenfalls nicht, sonst hätten sie nicht uns gefragt, was passiert ist.«
Lord Rahl nickte, offenbar tief in Gedanken. Der Wind fuhr unter sein goldenes Cape. Die Mutter Konfessor strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die schwangere Gemahlin von Lord Rahl ebenfalls.
Lord Rahl deutete auf die übrigen Soldaten ihres Trupps. »Und das hier ist die gesamte Besatzung, die Euch für die Bewachung der Grenze zur Verfügung steht? Nur diese paar … Soldaten?«
Beata sah hinauf zu der Waffe, die über ihnen in die Höhe ragte. »Nun ja, Sir, für das Anschlagen der Dominie Dirtch ist nur eine einzige Person erforderlich.«
Er taxierte ein weiteres Mal den Rest ihrer Truppe. »Vermutlich. Danke für Eure Hilfe, Sergeant.«
Er und die Mutter Konfessor beeilten sich aufzusitzen. Beata und die beiden zu Fuß setzten sich zusammen mit den Übrigen ihrer Soldaten in Bewegung. Lord Rahl drehte sich zu ihr um.
»Verratet mir eins, Sergeant Beata, haltet Ihr mich – und die Mutter Konfessor – für weniger rechtschaffen als die Anderier? Haltet Ihr uns für von Natur aus verdorben?«
»Ganz und gar nicht, Sir. Nur Hakenier werden mit dem Makel einer verderbten Seele geboren. Wir können niemals so gut sein wie Anderier. Unsere Seelen sind verdorben und können niemals rein sein; ihre Seelen sind rein und können niemals verdorben sein. Wir können niemals vollständig geläutert werden; wir können bestenfalls darauf hoffen, unsere verruchte Natur im Zaum zu halten.«
Er blickte traurig lächelnd auf sie herab. Seine Stimme wurde sanfter. »Beata, der Schöpfer erschafft nichts Böses. Er würde Euch niemals eine verderbte Seele mitgeben. Ihr seid ebenso fähig, Gutes zu tun, wie jeder andere, und Anderier verfügen über eine ebenso große Fähigkeit, Böses zu tun, wie alle anderen auch.«
»Das hat man uns anders beigebracht, Sir.«
Sein Pferd warf den Kopf und tänzelte zur Seite. Es wollte endlich los, den anderen hinterher. Er beruhigte es mit einem Klaps auf seinen glänzenden braunen Hals, als spräche er zu dem Tier durch seine sanfte Hand.
»Wie gesagt, man hat Euch etwas Falsches beigebracht. Ihr seid ebenso gut wie alle anderen, Beata – Hakenier, Anderier, wer auch immer. Genau das ist unser Ziel in diesem Kampf: dafür zu sorgen, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offen stehen.
Und seid vorsichtig mit diesem Ding, dieser Dominie Dirtch, Sergeant Beata.«
Beata salutierte mit der Hand an der Stirn. »Ja, Sir, das werde ich, ganz bestimmt.«
Er blickte ihr fest in die Augen und schlug sich als Antwort auf ihren Salut kurz mit der Faust auf sein Herz. Dann machte sein Pferd einen Satz und galoppierte den anderen hinterher.
Als Beata ihm nachblickte, wurde ihr bewusst, dass dieses Gespräch mit der Mutter Konfessor und Lord Rahl vermutlich das Aufregendste gewesen war, was ihr in ihrem gesamten Leben jemals widerfahren würde.