67

Richard zerbrach sich gerade wegen der Übersetzung einer komplizierten und verwirrenden Passage den Kopf und versuchte, sich in dem Irrgarten möglicher Bedeutungen zurechtzufinden, als Jiaan ins Zelt geschlüpft kam. Soldaten hätten um Erlaubnis gebeten, eintreten zu dürfen; die Meister der Klinge gingen einfach davon aus, dass sie die Erlaubnis hatten, hinzugehen, wo immer es ihnen beliebte. Nach der durch nichts zu erschütternden Steifheit der Soldaten fand Richard dieses Verhalten eher erfrischend.

»Caharin, du musst mich begleiten. Du Chaillu schickt mich.«

Richard war augenblicklich auf den Beinen. »Kommt das Kind? Ich werde Kahlan wecken.«

»Nein.« Jiaan hielt Richard mit einer Hand zurück. »Es geht nicht um dein Kind. Sie hat mich geschickt, dich zu holen, und sie hat gesagt, du sollst allein kommen.«

»Sie will nicht, dass ich Kahlan hole?«

»Nein, Caharin. Bitte. Du musst tun, was unsere Seelenfrau, deine Gemahlin, verlangt.«

Richard hatte Jiaans dunkle Augen noch nie so besorgt gesehen. Der Mann war sonst stets ruhig wie ein Fels in der Brandung. Richard fordere Jiaan mit ausgestreckter Hand auf, vorzugehen.

Zu seiner Überraschung war es kurz vor Anbruch der Dämmerung. Richard hatte die ganze Nacht durchgearbeitet. Er hoffte, dass Kahlan schlief, sonst würde sie ihn nur ausschimpfen, weil er sich keine Ruhe gönnte.

Jiaan hatte zwei Pferde gesattelt, die auf sie warteten. Richard war überrascht. Gewöhnlich ging dieser Mann lieber zu Fuß, als zu reiten, es sei denn, Du Chaillu befahl es ihm, was aber so gut wie nie vorkam.

»Was ist eigentlich los?« Richard deutete mit einer Handbewegung auf Du Chaillus Zelt. »Ich dachte, Du Chaillu hätte nach mir verlangt.«

Jiaan schwang sich in seinen Sattel. »Sie ist in der Stadt.«

»Was tut sie in Fairfield? Ich weiß nicht, ob sie dort sicher ist, nicht nachdem man alle gegen uns aufgehetzt hat.«

»Bitte, Caharin. Ich flehe dich an, komm mit und beeil dich.«

Richard sprang auf sein Pferd. »Natürlich. Verzeih, Jiaan. Reiten wir los.«

Richard begann sich zu sorgen, Du Chaillu könnte mit Leuten aus Fairfield aneinander geraten sein. Dort wusste man, dass sie zu Richard und Kahlan gehörte. Im Übrigen war auch bekannt, dass sie Richards Gemahlin war.

Er trieb sein Pferd zum Galopp. Ein beklemmendes Gefühl der Angst regte sich in seinem Bauch.


Die Tür eines zurückversetzten, inmitten von Bäumen stehenden Hauses öffnete sich; Edwin spähte heraus. Richard, mittlerweile tief besorgt, wurde ein wenig gelöster. Wahrscheinlich lag die Person, die sie gerettet hatten, im Sterben, und man wollte, dass er nach ihr sah, bevor der Tod eintrat, schließlich war er es gewesen, der ihr den Hauch des Lebens eingegeben hatte.

Richard wusste nicht, was Du Chaillu dort tat, vermutete jedoch, dass die beiden etwas miteinander verband, schließlich waren sie auf dieselbe Weise ins Leben zurückgeholt worden.

Edwin wirkte besorgt und verängstigt, als er sie durch die Flure und gepflegten Räumlichkeiten des geräumigen Hauses nach hinten geleitete. Das Haus verströmte eine Atmosphäre der Leere, der Stille und Trauer. Edwins Gemahlin war ermordet worden; deshalb, vermutete Richard, war wohl kaum etwas anderes zu erwarten.

Sie erreichten ein Zimmer am Ende eines kurzen, schlecht beleuchteten Flures. Die Tür war geschlossen. Jiaan klopfte leise an und wollte den verzweifelten Edwin gleich darauf fortziehen.

Edwin fasste Richard am Ärmel. »Was immer Ihr braucht, Richard, ich bin für Euch da.«

Richard nickte, und Edwin ließ sich von Jiaan fortbringen. Die Tür ging langsam auf, Du Chaillu spähte heraus. Als sie sah, dass es Richard war, trat sie nach draußen, legte ihm eine Hand auf die Brust und schob ihn zurück; die Tür zog sie hinter sich zu.

Sie ließ die Hand, mit der sie ihn zurückhielt, auf seiner Brust hegen. »Du musst mir jetzt zuhören, Richard. Du musst ganz genau zuhören und darfst nicht verrückt spielen.«

»Verrückt spielen? Weswegen denn?«

»Richard, bitte, es ist äußerst wichtig. Du musst zuhören und tun, was ich sage. Versprich mir das.«

Richard spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er nickte. »Ich verspreche es, Du Chaillu. Um was geht es?«

Sie trat näher. Die eine Hand ließ sie auf seiner Brust, die zweite legte sie ihm auf den Arm.

»Richard, diese – Person, die du gefunden hast, ist Kahlan.«

»Unmöglich! Kahlan hätte ich doch erkannt.«

Du Chaillu traten die Tränen in die Augen. »Richard, bitte, ich weiß nicht, ob sie überleben wird. Du hast sie hierher gebracht, aber ich weiß nicht – ob sie wollte, dass du herkommst.«

Er hatte Mühe, Luft zu holen. »Aber…« Sein Verstand war wie gelähmt. »Aber – das hätte ich doch gemerkt. Du täuschst dich bestimmt, Du Chaillu. Ich hätte es gemerkt, wenn es Kahlan gewesen wäre.«

Du Chaillu drückte seinen Arm. »Ich habe es selber erst bemerkt, nachdem wir einen Teil des Blutes entfernt…«

Richard wollte zur Tür, Du Chaillu stieß ihn zurück. »Du hast es versprochen. Du hast versprochen, zuzuhören.«

Richard nahm ihre Worte kaum noch wahr. Sein Denken setzte aus, er sah nur diesen blutverschmierten, zerschundenen Körper im Feld vor sich liegen und konnte sich nicht überwinden zu glauben, dass dies Kahlan gewesen sein sollte.

Richard fand nur mit Mühe seine Stimme wieder. »Du Chaillu, ich bitte dich, tu mir das nicht an.«

Sie rüttelte seinen Arm. »Du musst jetzt stark sein, oder sie hat keine Chance. Bitte!«

Die Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Sag mir bitte, was du brauchst.«

»Ich brauche dich, damit du zuhörst. Wirst du für mich das tun?«

Richard nickte. Er hatte ihre Frage mitbekommen, aber er nickte, und seine Gedanken rasten. Er konnte sie heilen. Er besaß Magie.

Heilen war Additive Magie.

Die Chimären hatten die gesamte Additive Magie geraubt.

Sie rüttelte ihn abermals. »Richard.«

»Entschuldige. Was? Ich höre.«

Schließlich hielt Du Chaillu seinen Blick nicht mehr aus. »Sie hat das Kind verloren.«

Richard blinzelte entgeistert. »Dann musst du dich täuschen. Es kann unmöglich Kahlan sein.«

»Kahlan war schwanger. Das hat sie mir an dem Ort erzählt, wo du die Bücher dieses Mannes, Ander, gelesen hast.«

»In Westbrook?«

Du Chaillu nickte. »Dort hat sie es mir erzählt, anschließend bist du mit ihr allein zu dem Bergsee hinaufgeritten. Ich musste ihr versprechen, dir nichts davon zu sagen. Sie meinte nur, es sei eine lange Geschichte. Ich denke, jetzt hast du ein Recht darauf, dass ich mein Versprechen nicht länger halte.«

»Sie hat das Kind verloren.«

Richard sank zu Boden. Du Chaillu nahm ihn in die Arme, als er unkontrollierbar zu weinen begann.

Irgendwie zwang Richard sich aufzuhören. Er lehnte sich zurück gegen die Wand, dumpf, benommen, und wartete darauf, dass Du Chaillu ihm sagte, was er tun konnte.

»Du musst endlich den Chimären Einhalt gebieten.«

Er war im Nu auf den Beinen. »Was?«

»Du könntest sie heilen, wenn du deine Magie wieder hättest.«

Alles fiel an seinen Platz. Er musste die Chimären stoppen und anschließend Kahlan heilen.

»Als wir an dem Ort waren, wo Kahlan mir erzählte, sie bekomme ein Kind, Richard…« Die Worte ›ein Kind‹ versetzten ihm einen neuerlichen Schock, als ihm bewusst wurde, dass Kahlan schwanger gewesen war, ohne dass er etwas davon geahnt hatte. Und jetzt war es bereits tot. »… in Westbrook … Richard, hör mir zu. Als wir dort waren, erzählten die Leute, ein entsetzliches Unwetter mit Regen und Feuer habe seinerzeit fast den gesamten Besitz dieses Mannes vernichtet.«

»Ja, ich glaube, das waren die Chimären.«

»Sie haben ihn gehasst. Du musst denselben Hass in deinem Herzen spüren, damit du sie bezwingen kannst. Dann wirst du deine Magie zurückerhalten und kannst Kahlan heilen.«

Richards Gedanken rasten. Die Chimären hassten Joseph Ander. Aber warum? Jedenfalls nicht, weil der Mann sie zurückgeschickt hatte – denn das hatte er nicht getan. Stattdessen hatte er die Chimären zu seinen Sklaven gemacht, damit sie ihm dienten. Irgendwo gab es eine Verbindung zwischen den Dominie Dirtch und seiner damaligen Tat.

Nachdem Richard und Kahlan die Chimären befreit hatten, hatten diese sich an verschiedenen Dingen aus seinem Besitz gerächt. Aber wieso an den Gegenständen in Westbrook und nicht an denen in der Bibliothek auf dem Anwesen des Ministers?

Joseph Anders Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Schließlich gelangte ich zu dem Schluss, dass ich sowohl Schöpfer als auch Hüter verwerfen muss. Stattdessen schaffe ich meine eigene Lösung, meine eigene Wiedergeburt und meinen eigenen Tod, und indem ich dies tue, werde ich mein Volk für alle Zeiten schützen. Daher lebt wohl, denn ich werde meinen unsterblichen Geist aufgewühlten Wassern übergeben und auf diese Weise für alle Zeiten über das wachen, was ich mit so viel Bedacht geschaffen habe, und das jetzt gesichert ist und unangreifbar.

Aufgewühlte Wasser.

Endlich begriff Richard, was Joseph Ander getan hatte.

»Ich muss fort, Du Chaillu. Ich muss fort.« Richard packte sie bei den Schultern. »Bitte tu alles, damit sie am Leben bleibt, bis ich wieder zurück bin.«

»Wir werden unser Möglichstes tun, Richard. Mein Wort als deine Gemahlin darauf.«

»Edwin!« Der Mann kam durch den Flur herbeigeschlurft. »Ja, Richard? Was kann ich für Euch tun? Sagt es mir.«

»Könnt Ihr diese Leute hier bei Euch verstecken? Meine Gemahlin…« Richard musste schlucken, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Könnt Ihr Kahlan hier beherbergen? Und auch Du Chaillu und ihre fünf Krieger?«

Edwin beschrieb sein Haus mit einer weiten, ausholenden Handbewegung. »Das Haus ist groß, es bietet reichlich Platz. Niemand wird erfahren, wer hier wohnt. Ich habe nicht viele Freunde, und denen, die ich habe, würde ich mein Leben anvertrauen.«

Richard schüttelte dem Mann die Hand. »Ich danke Euch, Edwin. Als Gegenleistung möchte ich Euch bitten, bei meiner Rückkehr Euer Haus zu verlassen.«

»Was? Warum das?«

»Die Imperiale Ordnung ist im Anmarsch.«

»Aber werdet Ihr sie denn nicht aufhalten?«

Richard warf die Hände in die Höhe. »Wie denn? Oder, um es präziser zu formulieren, warum sollte ich? Die Menschen hier haben die Chance zurückgewiesen, die ich ihnen geboten habe. Sie haben Eure Gemahlin umgebracht, Edwin, genau wie sie meine umbringen wollten. Und jetzt verlangt Ihr, ich soll das Leben rechtschaffener Menschen aufs Spiel setzen, um dafür zu sorgen, dass ihnen nichts passiert?«

Edwin ließ die Schultern hängen. »Nein, das wohl nicht. Ein paar von uns waren auf Eurer Seite, Richard. Ein paar von uns haben es versucht.«

»Das weiß ich, deswegen warne ich Euch auch. Sagt Euren Freunden, sie sollen die Stadt verlassen, solange sie dazu noch in der Lage sind. In spätestens zwei Wochen wird die Imperiale Ordnung hier sein.«

»Wie lange werdet Ihr fort bleiben?«

»Vielleicht zehn Tage – allerhöchstens. Ich muss hinauf in das Ödland oberhalb des Nareef-Tales.«

»Ein unangenehmer Ort.«

Richard nickte. »Ihr macht Euch keine Vorstellung.«

»Wir werden die Mutter Konfessor versorgen, so gut dies irgend möglich ist.«

»Besitzt Ihr Fässer, Edwin?«

Der Mann runzelte die Stirn. »Ja, unten im Keller.«

»Füllt sie mit Wasser. Hortet Lebensmittel. In ein paar Tagen wird das Wasser und alles, was wächst, möglicherweise nicht mehr unbedenklich sein.«

»Wie das?«

Richard knirschte mit den Zähnen. »Jagang kommt hierher, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Ich will ihm ein paar Bauchschmerzen bereiten.«

»Richard«, warf Du Chaillu mit sanfter Stimme ein und sah ihm dabei in die Augen. »Ich weiß nicht … Möchtest du sie sehen, bevor du fortgehst?«

Richard wappnete sich. »Ja. Bitte.«


Richard ließ sein Pferd den gesamten Weg zurück zum Lager im Galopp laufen. Dort konnte er ein frisches Pferd bekommen, also bemühte er sich nicht, das arme Tier zu schonen. Als er ins Lager hineinritt, kam es ihm so vor, als hätte Captain Meiffert die Truppen in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die Posten waren verdoppelt worden und standen weiter vorn als üblich. Zweifellos hatten sie von den Baka Tau Mana gehört, dass es Ärger gegeben hatte.

Hoffentlich fragte ihn der Mann nicht nach Kahlan. Ihm von ihr erzählen, ihm ihren Anblick dort in diesem Bett schildern zu müssen, würde vermutlich seine Nerven überfordern.

Selbst als er wusste, dass sie es war, hatte Richard sie kaum wiedererkannt. Ihr Anblick hatte ihm fast das Herz gebrochen. Noch nie war er sich so allein auf der Welt vorgekommen, noch nie hatte er solche Seelenqualen erleiden müssen.

Doch statt daran zu zerbrechen, versuchte Richard sich mit aller Energie auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Wenn er Kahlan helfen wollte, musste er sie aus seinen Gedanken verbannen. Er wusste, das war unmöglich, trotzdem versuchte er, sich auf Joseph Ander zu konzentrieren, auf das, was getan werden musste.

Für ihn war es oberstes Gebot, sie zu heilen, er würde alles tun, um ihrem Leiden ein Ende zu machen; zum Glück war sie bewusstlos.

Richard glaubte zu wissen, was Joseph Ander getan hatte, allerdings hatte er nicht die geringste Vorstellung, wie er dies rückgängig machen konnte. Seiner Berechnung nach blieben ihm bis zum Erreichen seines Ziels mehrere Tage zum Nachdenken.

Richard besaß noch immer die subtraktive Seite seiner Kraft; er hatte sie bereits benutzt und kannte sich ein wenig damit aus. Nathan, ein Prophet und Richards Vorfahr, hatte ihm einst erklärt, seine Gabe unterscheide sich von der anderer Zauberer, da er ein Kriegszauberer sei. Richards Kraft funktionierte über das Verlangen, außerdem wurde sie durch Zorn ausgelöst.

Und genau das war es, was Richard zur Zeit verspürte: ein zorniges Verlangen.

Sein Zorn reichte für zehn Zauberer.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen – teilweise stimmte dies mit Joseph Anders Beschreibung dessen überein, was er damals getan hatte. Er hatte selbst erschaffen, was er brauchte. Richard hätte gerne gewusst, wie diese Erkenntnis ihm weiterhelfen konnte.

Als Richard vom Pferd sprang, schlug Captain Meiffert die Hand auf das Leder über seinem Herzen.

»Captain, ich brauche ein frisches Pferd. Das heißt, am besten nehme ich drei. Ich muss sofort wieder aufbrechen.« Richard presste die Finger an die Stirn und versuchte nachzudenken. »Ich möchte, dass Ihr die Männer hier zusammenpacken lasst und aufbrecht, sobald die Übrigen von der Überwachung der Abstimmung zurück sind.«

»Wohin werden wir marschieren, Lord Rahl, wenn ich fragen darf?«

»Ihr werdet mit Euren Männern wieder zu General Reibisch stoßen. Ich werde Euch nicht begleiten.«

Der Captain lief Richard hinterher, als dieser losmarschierte, um seine und Kahlans Sachen zusammenzusuchen. Dabei erteilte er mehreren seiner Leute Befehle und verlangte frische Pferde und Vorräte für Lord Rahl. Richard erklärte einem der Soldaten, er benötige die besten Reittiere für einen langen, beschwerlichen Ritt. Der Mann rannte los, um sich der Sache anzunehmen.

Der Captain wartete draußen, als Richard zum Packen in das Zelt hineinging. Er begann, Kahlans Sachen zusammenzusuchen. Als er ihr weißes Mutter-Konfessoren-Kleid aufnahm, fingen seine Hände an zu zittern, und er sank, überwältigt von seinem Kummer, auf die Knie. Allein im Zelt, betete er und flehte die Gütigen Seelen um Hilfe an, wie er dies noch nie zuvor getan hatte. Als Gegenleistung versprach er ihnen alles, was immer sie verlangten. Dann erinnerte er sich, dass er, um Kahlan heilen zu können, nichts anderes tun konnte, als die Chimären zu vertreiben, also sah er zu, dass er so schnell wie möglich fertig wurde.

Draußen warteten schon die Pferde; es war gerade hell geworden.

»Captain, ich möchte, dass Ihr mit Euren Leuten so schnell wie möglich zu General Reibisch zurückkehrt.«

»Und die Dominie Dirtch? Den Berichten über die anderischen Gardetruppen zufolge könnte es möglicherweise Ärger geben. Werden wir die Dominie Dirtch unbehelligt passieren können?«

»Nein. Den Berichten entnehme ich, dass es sich bei diesen Gardetruppen vermutlich um Soldaten der Imperialen Ordnung handelt. Außerdem nehme ich an, dass sie die Dominie Dirtch einnehmen, um Reibisch in Schach zu halten.

Von diesem Augenblick an müsst Ihr davon ausgehen, dass Ihr Euch auf feindlichem Territorium befindet. Ihr habt Befehl, zu fliehen. Sollte jemand Euch daran hindern wollen, tötet ihn und marschiert weiter. Sollte die Imperiale Ordnung, wie ich vermute, die Dominie Dirtch einnehmen, können wir uns eine daraus resultierende Schwäche zu Nutze machen – sie werden zu weit verstreut sein, um Euch starken Widerstand zu leisten.

Geht davon aus, dass Truppen der Imperialen Ordnung die Dominie Dirtch besetzt halten. Zieht Eure Streitkräfte zu einem Kavallerieangriff zusammen und durchbrecht ihre Linie. Da sie die Dominie Dirtch unter ihrer Kontrolle haben und glauben, sie können Euch töten, sobald ihr vorüber seid, werden sie wahrscheinlich keinen großen Widerstand leisten.«

Der Mann machte ein besorgtes Gesicht. »Dann – glaubt Ihr also, die steinernen Waffen bis dahin ausgeschaltet zu haben, Lord Rahl? Ihr werdet ihre Magie abwehren?«

»Ich hoffe es, aber vielleicht gelingt es mir nicht. Ich möchte, dass Ihr Euch und Euren Männern für alle Fälle die Ohren mit Wachs und Watte oder Stoff verstopft. Stopft sie fest zu, damit Ihr nichts hören könnt, bis Ihr den Horizont hinter Euch gelassen habt.«

»Ihr glaubt, das wird uns schützen?«

»Ja.«

Richard glaubte zu verstehen, wie die Dominie Dirtch funktionierten. Nachdem Du Chaillu ertrunken war, hatte sie ihnen erzählt, sie habe das Klingen der Chimären des Todes vernommen. Joseph Ander musste nach einer Möglichkeit gesucht haben, die tödliche Kraft der Chimären zu beherrschen und auf ein Ziel zu richten. Die Antwort hatte er ihnen durch das gegeben, was er erschaffen hatte.

»Die Dominie Dirtch sind Glocken. Und das gewiss nicht ohne Grund: Man soll sie hören. Wenn Ihr sie nicht hören könnt, wird Euch nichts zustoßen.«

Der Captain räusperte sich. »Ich möchte Euer Wissen über Dinge der Magie nicht in Frage stellen, Lord Rahl, aber kann eine Waffe von solch zerstörerischer Kraft so leicht ausgeschaltet werden?«

»Es wäre meines Wissens nicht das erste Mal. Ich vermute, die Hakenier, die einst hier eingefallen sind, waren ebenfalls dahintergekommen und haben sie deshalb passieren können.«

»Aber, Lord Rahl…«

»Captain, ich bin die Magie gegen die Magie. Vertraut mir, es wird funktionieren. Ich vertraue darauf, dass Ihr der Stahl seid, also überlasst mir die Magie.«

»Jawohl, Lord Rahl.«

»Sobald Ihr sie hinter Euch gelassen habt, haltet Ihr auf General Reibisch zu. Das ist wichtig. Richtet ihm aus, ich möchte, dass er sich zurückzieht.«

»Was? Jetzt kennt Ihr einen Weg, die Dominie Dirtch zu passieren, und wollt nicht, dass er ihn benutzt?«

»Die Dominie Dirtch werden zerstört werden. Ich kann sie unmöglich für Jagang stehen lassen, damit er sich hinter ihnen verschanzt, aber ich möchte auch nicht, dass Truppen von uns hierher marschieren. Jagang kommt unter anderem auch deshalb hierher, weil er Lebensmittel für seine Armee benötigt. Ich hoffe, einen Teil dieser Lebensmittel ungenießbar zu machen.

Teilt dem General mit, meine Befehle an ihn lauten, die Verbindungswege hinauf in die Midlands zu sichern. Hier draußen in der Ebene hat er gegen die Übermacht der Imperialen Ordnung keine Chance. Seine Chance, Jagangs Vormarsch in den Rest der Midlands aufzuhalten, wird umso größer sein, wenn unsere Streitkräfte auf ihre Weise kämpfen und nicht auf die Jagangs.«

»Jawohl, Sir. Ein kluger Rat.«

»Das will ich hoffen, er stammt von General Reibisch selbst. Darüber hinaus hoffe ich, die Truppen der Imperialen Ordnung dezimieren zu können. Teilt ihm mit, er soll tun, was er für richtig hält.«

»Und Ihr, Lord Rahl? Wo wird er Euch finden?«

»Richtet ihm aus, er soll sich um seine Männer kümmern, nicht um mich. Ich weiß – nicht genau, wo ich sein werde. Reibisch wird wissen, was zu tun ist. Deswegen hat man ihn schließlich zum General gemacht. In soldatischen Dingen kennt er sich mit Sicherheit besser aus als ich.«

»Ganz recht, Sir. Der General ist ein guter Mann.«

Richard hob zur Betonung einen Finger. »Dies ist wichtig. Ich will, dass Ihr diesen Befehl befolgt, und ich will, dass Reibisch ihn befolgt.

Das Volk von Anderith hat sich entschieden. Ich möchte nicht, dass auch nur einer Eurer Männer eine Waffe hebt, um diese Menschen zu beschützen. Ich möchte nicht, dass Eure Männer ihr Blut für diese Menschen vergießen müssen. Habt Ihr verstanden? Nicht einer!«

Das Blut wich aus dem Gesicht des Captains. Er wich einen halben Schritt zurück.

»Keinen einzigen Tropfen unseres Blutes«, wiederholte Richard mit Nachdruck.

»In Ordnung, Sir. Ich werde dem General exakt Eure Worte übermitteln.«

»Meine Befehle.« Richard stieg in den Sattel. »Ich meine es ernst. Ihr alle seid gute Männer, Captain Meiffert. Eines Tages sollt Ihr wieder zu Euren Familien nach Hause zurückkehren können – und nicht für nichts Euer Leben lassen.«

Der Captain salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz. »Das ist unsere aufrichtige Hoffnung, Lord Rahl.«

Richard erwiderte den Gruß, dann ließ er sein Pferd ein letztes Mal aus dem Lager traben und machte sich auf den Weg, seine letzte Pflicht zu erfüllen.

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