66

Wortlos schickte er die Frau, die all die kunstvoll verzierten Schnitzereien abstaubte, für den Abend fort und begab sich, nachdem er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, zum Schlafzimmer. Teresa drehte sich um, als sie ihn hereinkommen hörte.

»Dalton.« Sie lächelte. »Da bist du ja, mein Geliebter.«

»Tess.«

Tausend Mal war er alles in Gedanken durchgegangen und schließlich an den Punkt gelangt, da er Tess mit dem sicheren Gefühl gegenübertreten konnte, seine Reaktion im Zaum halten zu können.

Er musste sich zusammennehmen.

Er hatte auf seine bewährteste Methode im Umgang mit Problemen zurückgegriffen. Nur so konnte er sich seiner Selbstbeherrschung sicher sein. Er würde diese Situation ebenso meistern wie bereits viele andere zuvor.

»Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet.«

»Mir ist da etwas zu Ohren gekommen, Tess.«

Sie saß vor dem Spiegel und bürstete ihr wundervolles Haar.

»Ach, tatsächlich? Interessante Neuigkeit?«

»Wie man es nimmt. Ich hörte, du hättest das Bett des Herrschers geteilt. Ist das wahr?«

Mittlerweile wusste er, dass es stimmte. Er hatte alle Fäden seines Spinnennetzes gezogen.

Sie hielt im Bürsten inne und betrachtete ihn im Spiegel, ihr Gesicht eine Mischung von Gefühlen. Was überwog, war Trotz.

»Dalton, es ist doch nicht so, als ginge es um einen anderen Mann.

Es geht um den Herrscher.« Sie stand auf und drehte sich, unsicher, wie er reagieren würde, zu ihm um. »Er kommt gleich nach dem Schöpfer selbst.«

»Darf ich fragen, wie es dazu kam?«

»Bertrand meinte, der Schöpfer habe zu ihm gesprochen.« Sie richtete den Blick auf einen weit entfernten Ort. »Bertrand meinte, der Schöpfer habe mich wegen meiner Treue zu dir, weil ich noch nie mit einem anderen Mann zusammen gewesen sei, und wegen deiner Treue zu mir dazu auserkoren, Bertrand von seinen weltlichen Anspannungen zu befreien.«

Ihr Blick kehrte zu ihm zurück.

»Du siehst also, es bedeutet auch für dich eine Belohnung, Dalton. Für deine Treue zu mir.«

Dalton zwang sich zu antworten. »Ja, das sehe ich ein.«

»Bertrand meint, es sei meine heilige Pflicht.«

»Deine heilige Pflicht.«

»Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist es, als ob – ich weiß nicht. Es ist etwas ganz Besonderes. Dem Schöpfer in dieser Welt zu dienen ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Ehre. Man stelle sich vor, ich helfe, ihn von den furchtbaren Anspannungen, die sich in ihm als Herrscher aufstauen, zu erlösen.

Herrscher zu sein bedeutet eine schreckliche Verantwortung, Dalton.«

Dalton nickte. »Da hast du Recht.«

Als sie sah, dass er weder wütend werden noch ihr etwas antun würde, kam sie näher.

»Dalton, an meiner Liebe für dich hat sich nichts geändert.«

»Das höre ich gerne, Tess. Deswegen habe ich mir die größten Sorgen gemacht. Ich fürchtete, ich hätte deine Liebe verloren.«

Sie nahm ihn bei den Schultern. »Unsinn, Dummer. Niemals. Ich liebe dich noch genauso wie zuvor. Aber der Schöpfer hat mich berufen. Das musst du verstehen. Er braucht mich.«

Dalton schluckte. »Natürlich, Liebling. Aber wir können doch…

wir können doch noch … wir können doch immer noch im Bett zusammen sein?«

»Ach, Dalton, natürlich können wir das. Hast du dir deswegen Sorgen gemacht? Dass ich keine Zeit mehr für dich hätte? Ich liebe dich, Dalton, und werde dich immer begehren.«

»Gut.« Er nickte. »Das ist gut.«

»Komm ins Bett, Geliebter, und ich werde es dir beweisen. Vielleicht findest du mich jetzt sogar noch aufregender.

Außerdem ist es eine große Ehre, dem Herrscher beizuwohnen, Dalton. Alle werden jetzt eine noch höhere Meinung von dir haben.«

»Ja. Ich bin sicher, du hast Recht.«

»Dann komm ins Bett.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Lass mich dir zeigen, wie glücklich ich dich machen kann.«

Dalton kratzte sich an der Stirn. »Nun, nichts täte ich lieber als das, wirklich, aber auf mich wartet ein ganzer Stapel dringender Arbeiten. Soeben sind die Ergebnisse der Abstimmung eingetroffen…«

»Ich weiß. Bertrand hat es mir gesagt.«

»Bertrand.«

Sie nickte. »Der Herrscher, Dummer. Er hat es mir erzählt. Ich bin ja so stolz auf dich, Dalton. Ich weiß, du warst auch daran beteiligt. Es war nicht allein Bertrands Werk. Ich weiß, dass du ihm bei seinem Sieg zur Hand gegangen bist.«

»Zur Hand gegangen. Es ist ein überaus freundlicher Zug des Herrschers, von meinem Beitrag Notiz zu nehmen.«

»Er spricht in hohen Tönen von dir, Dalton.«

»Freut mich zu hören.« Dalton räusperte sich. »Äh, schau, Tess, ich muss wieder – wieder an meine Arbeit. Dringende Angelegenheiten warten auf mich.«

»Soll ich aufbleiben?«

Dalton winkte ab. »Nein. Nein, Liebling, ich muss kurz nach Fairfield und mich um einige Angelegenheiten kümmern.«

»Heute Abend noch?«

»Ja.«

»Du darfst nicht so hart arbeiten, Dalton. Versprich mir, dir ein wenig Zeit für dich selbst zu nehmen. Versprichst du mir das? Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Das solltest du nicht. Es geht mir ausgezeichnet.«

Sie setzte ihr innigstes Lächeln auf. »Versprichst du mir, dass du dir Zeit nimmst, mich zu lieben?«

Dalton lächelte zurück. »Natürlich. Ich verspreche es.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Liebling.«


Die Frau mit der Phiole in der Hand runzelte die Stirn. »Kenne ich dich nicht?«

»Nein«, erwiderte Kahlan und senkte das Gesicht, damit es im Schatten der Lampe lag. »Ich wüsste nicht, woher. Ich komme von weit her. Ich bin allein aus diesem Grund nach Fairfield gekommen.«

Kahlan hatte ganz gewöhnliche Kleider an, wie sie sie auf Reisen trug, dazu eine Art aus einem Kopftuch gebundenen Turban, damit ihr Haar bedeckt war. Den Turban hatte sie erst nach Verlassen des Lagers angelegt. Richard war irgendwohin fortgegangen, daher hatten die Soldaten darauf bestanden, sie beim ›Luftschnappen‹ zu begleiten. Sie hatte ihnen barsch befohlen, sie allein zu lassen und auf ihre Posten zurückzukehren.

Gegenüber Cara hätten solche Befehle niemals etwas genützt, Cara hätte sie einfach ignoriert. Die Soldaten waren weder so furchtlos noch so verwegen oder klug wie Cara.

Die Alte seufzte. »Nun, verstehe schon, Schätzchen. Schon viele Frauen haben aus diesem Grund weite Reisen auf sich genommen.«

Sie hielt ihr die verkorkte Phiole hin, sichtlich in der Erwartung, erst bezahlt zu werden. Kahlan gab ihr einen Goldsouvereign.

»Ihr könnt alles behalten. Als Gegenleistung erwarte ich Euer Schweigen.«

Die Frau neigte den Kopf. »Dafür habe ich vollstes Verständnis. Danke, Schätzchen. Sehr großzügig von dir. Vielen Dank.«

Kahlan nahm die Phiole, legte sie in ihre Handfläche und betrachtete die klare Flüssigkeit durch das milchige Glas. Dann merkte sie, dass ihre Hand auf ihrem Bauch lag. Sie ließ den Arm sinken.

»Also«, erklärte die Frau, auf das billig gearbeitete Fläschchen zeigend, »es wird über Nacht frisch bleiben, denn ich habe es gerade erst für dich angesetzt. Du kannst es einnehmen, wann immer es dir beliebt, aber wenn du bis morgen früh wartest, ist es wahrscheinlich nicht mehr stark genug. Ich schlage vor, du nimmst es heute Abend vor dem Schlafengehen.«

»Wird es wehtun?«

Das Gesicht der Frau legte sich besorgt in Falten. »Wahrscheinlich nicht mehr als ein normaler Zyklus, Schätzchen. Nicht in diesem frühen Stadium. Es wird nur ein wenig bluten, sei darauf also vorbereitet.«

Kahlan hatte eigentlich gemeint, ob es dem Ungeborenen wehtun würde. Sie brachte es nicht über sich, die Frage zu wiederholen.

»Trink es einfach ganz aus«, fuhr die Alte fort. »Der Geschmack ist gar nicht mal so übel, trotzdem solltest du vielleicht etwas Tee dazu trinken.«

»Danke.«

Kahlan wandte sich zur Tür.

»Warte«, rief die Frau. Sie kam ganz nahe heran und ergriff Kahlans Hand. »Tut mir Leid, Schätzchen. Du bist noch jung. Du kannst wieder eins bekommen.«

Dann kam Kahlan ein Gedanke. »Es wird doch nicht meine Fähigkeit beeinträchtigen…«

»Nein, nein, ganz und gar nicht. Du wirst keine Schwierigkeiten haben.«

»Danke«, erwiderte Kahlan und ging zur Tür. Plötzlich konnte sie es kaum erwarten, das kleine Haus zu verlassen und hinaus in die Dunkelheit zu treten, und zwar allein, falls ihr die Tränen kamen.

Die Frau ergriff Kahlans Arm und drehte sie herum. »Normalerweise halte ich jungen Frauen keine Vorträge, denn wenn ihr erst einmal zu mir kommt, ist es für Vorträge längst zu spät, trotzdem hoffe ich sehr, du findest einen Mann und heiratest, Schätzchen. Ich helfe, wenn ich gebraucht werde, aber ich würde dir lieber helfen, das Kind zur Welt zu bringen, anstatt es abzutreiben, das kannst du mir glauben.«

Kahlan nickte. »Mir geht es ebenso. Danke.«

Die Straßen Fairfields lagen im Dunkel, trotzdem waren noch immer Menschen unterwegs, die ihren Geschäften nachgingen. Kahlan wusste, wenn erst die Imperiale Ordnung Einzug hielt, würde ihr ganzes Leben bald völlig auf den Kopf gestellt werden.

In diesem Augenblick jedoch fiel es ihr schwer, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Sie beschloss, es zu tun, bevor sie wieder im Lager war, denn sie befürchtete, Richard könnte die Phiole finden, und sie müsste ihm alles erklären. Richard würde das niemals zulassen. Da er von ihrem Zustand nichts wusste, hatte sie in Erfahrung bringen können, was er wirklich wollte und fühlte.

Er hatte ja Recht. Sie mussten sich um die anderen Menschen kümmern, durften nicht zulassen, dass wegen ihrer persönlichen Probleme alle anderen zu Schaden kamen. In einer solchen Angelegenheit würde Shota Wort halten, und dann wären sie nicht mehr imstande, ihre Pflicht zu tun. Es wäre das Beste.

Auf dem Weg hinaus aus der Stadt sah sie Dalton Campbell zu Pferd die Straße heraufkommen, daher bog sie in eine dunkle Seitenstraße ein. Der Mann schien stets genau zu überlegen, was er tat. Als er vorüberritt, kam es Kahlan so vor, als befände er sich in einer anderen Welt. Sie wunderte sich, was er in einem für seinen schlechten Ruf bekannten Stadtviertel tat.

Kahlan wartete, bis er vorüber war, dann machte sie sich wieder auf den Weg.

Als sie die zum Anwesen des Ministers führende Straße erreichte, wo ihre Soldaten ihr Lager aufgeschlagen hatten, sah sie in der Ferne das Gestänge des Gepäckträgers einer Kutsche im Mondschein blinken. Es würde noch eine Weile dauern, bis die schwerfällige Kutsche sie erreicht hätte, trotzdem verließ sie die Straße. Sie wollte unterwegs niemandem begegnen, erst recht niemandem, der sie womöglich erkennen konnte.

Der Kloß in ihrem Hals drohte sie fast zu ersticken, als sie in das Weizenfeld hineinlief. Sie weinte lautlos vor sich hin. Ein Stück abseits der Straße sank sie schließlich auf die Knie und überließ sich ihren Tränen.

Als ihr Blick auf die Phiole in ihrer Hand fiel, wusste sie nicht mehr, ob sie sich jemals erbärmlicher gefühlt hatte. Sie erstickte einen Klagelaut, unterdrückte ihre Tränen und ermahnte sich, dass es so für alle am besten war. Denn das war es, davon war sie fest überzeugt.

Sie zog den Stöpsel heraus und ließ ihn durch die Finger gleiten, hielt die Phiole in die Höhe, versuchte sie im Mondschein zu erkennen. Ihre andere Hand legte sie auf ihrer beider Kind – ihres und Richards.

Tapfer schluckte sie ihre Tränen hinunter und setzte das Fläschchen an die Lippen. Sie hielt inne, wartete, bis sie ihren Atem unter Kontrolle hatte, denn sie wollte es nicht in den Mund gießen, nur um es dann nicht hinunterschlucken zu können.

Kahlan setzte es ab, betrachtete es im Mondlicht, betrachtete es noch einmal und versuchte sich vorzustellen, was alles davon betroffen war.

Und dann drehte sie es um und schüttete die Flüssigkeit auf die Erde.

Sofort spürte sie eine Woge der Erleichterung, so als wäre ihr Leben verschont worden und die Hoffnung in die Welt zurückgekehrt. Als sie sich erhob, waren die Tränen fast vergessen; sie trockneten bereits auf ihren Wangen. Kahlan lächelte vor Erleichterung und Freude. Ihr Kind war gerettet.

Sie warf das leere Fläschchen ins Feld. Dabei sah sie draußen im Weizen einen Mann stehen, der sie beobachtete. Sie erstarrte. Der Mann setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu, entschlossen, schnell. Kahlan blickte zur Seite und sah noch weitere Männer kommen. Von hinten kreisten noch mehr von ihnen sie ein. Junge Männer, wie sie erkannte, ausnahmslos mit roten Haaren.

Ohne auch nur einen Augenblick zu warten, bis die Situation noch ungünstiger würde, gehorchte sie ihrem Instinkt und begann so schnell sie konnte Richtung Lager zu rennen.

Statt es zwischen den Männern hindurch zu versuchen, hielt sie schnurstracks auf einen von ihnen zu. Er ging in Kauerstellung, Beine leicht gespreizt, die Arme ausgebreitet, und wartete.

Kahlan rannte auf ihn zu und packte seinen Arm. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass es ein Bote namens Rowley war. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, jagte sie noch im selben Augenblick ihre Kraft durch seinen Körper und wappnete sich für den Stoß, der ihn überwältigen würde.

Als daraufhin nichts geschah, wurde ihr mit einem Schlag klar, dass die Chimären schuld daran waren, die ihre Magie hatten versiegen lassen. Sie hatte sie wie immer in ihrem Innern zu spüren geglaubt, dabei existierte sie nicht mehr.

In diesem Augenblick der Erkenntnis – des Wiedererkennens und des Scheiterns – spürte sie auf einmal doch ihre Magie. Kahlan kannte dieses Kribbeln, wenn die Magie sich wie eine überwältigende, alles mitreißende Woge ihres Körpers bemächtigte, sich in sie hineinbohrte wie eine giftige Schlange in ihren Bau, mit der gleichen tödlichen Entschlossenheit.

Sie riss ihren Arm zurück, jedoch zu spät, wie ihr schlagartig bewusst wurde. Immer mehr Männer umstellten sie von beiden Seiten, jetzt schon unbekümmerter, da sie sich ihrer sicher waren.

Seit Rowley sie erst gepackt und dann wieder losgelassen hatte, war erst ein winziger Augenblick vergangen. In diesem Augenblick traf sie die einzige Entscheidung, die ihr blieb. Sie hatte nur eine Chance: kämpfen oder sterben.

Kahlan trat den Mann rechts von ihr gegen das Brustbein. Sie spürte, wie der Knochen unter dem Absatz ihres Stiefel brach. Er ging zu Boden, die Luft geräuschvoll einsaugend. Rowley rammte sie das Knie in die Leistengegend. Dem Mann links von ihr quetschte sie die Augen aus.

Das verschaffte ihr ein wenig Luft. Sie stürzte sich in die Bresche, nur um jäh daran gehindert zu werden, als einer der Männer sie bei den Haaren zu fassen bekam und sie brutal nach hinten riss. Sie wirbelte herum, trat ihm in die Seite und machte von ihren Ellenbogen Gebrauch, als sie von weiteren Männern umringt wurde.

Es war der letzte Schlag, den sie anbrachte. Jemand hielt ihr die Arme fest. Ein wuchtiger Schlag landete in ihrem Unterleib; sie wusste augenblicklich, dass er in ihrem Innern etwas Fürchterliches angerichtet hatte. Der nächste Schlag in ihr Gesicht, gefolgt von einem weiteren, raubte ihr die Sinne. Sie bekam keine Luft mehr, wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Sie konnte nicht mehr atmen. Sie versuchte, ihr Gesicht zu schützen, doch jemand hielt ihre Arme fest. Sie keuchte, als weitere Fäuste auf ihren Körper einprasselten. Andere Schläge warfen ihren Kopf nach links und rechts. Sie versuchte das Blut in ihrem Mund zu schlucken, um nicht daran zu ersticken, hörte die Männer knurren wie ein Rudel Straßenköter, vernahm ihr angestrengtes Ächzen, als sie so fest sie konnten auf sie einprügelten. Die heftige Panik völliger Hilflosigkeit überwältigte sie.

Die Hiebe hagelten auf sie herab. Sie ließ sich hängen, machtlos. Der Schmerz brannte. Sie wurde zu Boden geprügelt.

Eine todesähnliche Schwärze schluckte sie.

Und dann verebbte der Schmerz zu einem Nichts, und die barmherzige Stille des Lichts hüllte sie ein.


Wie benommen stapfte Richard durch das mondbeschienene Weizenfeld. Alles war vollkommen aus den Fugen geraten. Er glaubte unter der Last der Verantwortung kaum noch atmen zu können. Er wusste nicht mehr weiter. Die Chimären, die Imperiale Ordnung, nichts davon entwickelte sich so, wie es sollte.

Und doch waren alle auf ihn angewiesen, ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht: Die Bevölkerung der Midlands verließ sich darauf, dass er die Imperiale Ordnung zurückschlug. Die D’Haraner waren auf seine Führung angewiesen. Allen drohte Gefahr von den Chimären, deren Macht mit jedem Tag zunahm.

Obendrein war es niederschmetternd, so viel für die Bevölkerung Anderiths gearbeitet und geopfert zu haben, nur um am Ende mit ansehen zu müssen, wie sich die Menschen von ihm abwandten.

Am allerschlimmsten war jedoch, dass er und Kahlan dies alles einem Kind zumuten mussten. Richard war bereit, das Risiko Shota einzugehen, wenn auch Kahlan dazu bereit war. Er wusste, welche Gefahr ein Kind darstellen konnte, war aber bereit, für ihr Recht auf eine Zukunft zu kämpfen. Doch wie sollten sie sich um ein Kind kümmern, jetzt, da sowohl die Chimären als auch die Imperiale Ordnung so unbarmherzig über die Welt herfielen? Shota diesem gefährlichen Gemisch noch hinzuzufügen, wäre mehr als unvernünftig. Kahlan sah dies ganz genauso, er wusste jedoch, wie schwer es ihr fiel, ihr, die sie ihr ganzes Leben lang die Pflicht über alles gestellt hatte.

Doch wenn sie ihre Rolle nicht übernahmen, wenn sie nicht ihre Pflicht taten, würde die Welt unter Jagangs Gewaltherrschaft geraten und in Sklaverei versinken. Wenn die Chimären sie nicht vorher alle umbrachten. Zuallererst mussten sie den Chimären Einhalt gebieten. Er und niemand sonst war für die Chimären verantwortlich. Es war seine Aufgabe, sie zu vertreiben.

Doch selbst wenn es ihm gelänge, zu begreifen, was Joseph Ander getan hatte, so mussten sie sich erst noch mit Jagang befassen, bevor sie daran denken konnten, ein Kind zu zeugen. Kahlan verstand das. Er dankte den Gütigen Seelen für das einzig Gute in seinem Leben: für Kahlan.

Als er aufsah, merkte er, dass er ganz in der Nähe Fairfields sein musste. Er sollte umkehren, denn Kahlan würde sich Sorgen machen. Immerhin war er lange fort gewesen und wollte sie nicht beunruhigen. Sorgen hatte sie genug.

Als er kehrtmachte, glaubte er ein Geräusch zu hören. Er spannte den Körper und lauschte. Wie lange das Geräusch schon da gewesen war, hätte er nicht sagen können, da er beim Nachdenken über eine Lösung ihrer Probleme kaum auf etwas anderes geachtet hatte. Jetzt neigte er den Kopf zur Seite und horchte. Es klang merkwürdig, wie gedämpftes Klopfen.

Ohne groß zu überlegen begann Richard auf das Geräusch zuzurennen. Im Näherkommen wurde ihm klar, dass er vor Anstrengung ächzende, keuchende Männer hörte, die sich völlig verausgabten.

Dann hatte Richard sie erreicht, eine Bande junger Männer, die jemanden zu Boden schlugen. Er packte einen von ihnen bei den Haaren und riss ihn zurück. Unter dem Mann sah er einen blutverschmierten Körper.

Sie standen im Begriff, diesen armen Menschen totzuschlagen.

Richard erkannte den Mann wieder, den er festhielt. Es war einer der Boten. Rowley war sein Name, wie er sich zu erinnern glaubte. Er hatte etwas Wildes, Grausames im Blick.

Als Rowley Richard erkannte, wollte er ihm sofort an die Kehle und schrie: »Packt ihn!« Doch Richard schlang Rowley den Arm um den Hals, umfasste sein Kinn, bog ihn nach vorn, riss das Kinn nach hinten und brach ihm das Genick. Rowley sackte schlaff in sich zusammen.

Ein anderer Mann sprang vor. Sein größter Fehler war sein Ungestüm. Richard rammte dem Mann seinen Handballen mitten ins Gesicht.

Der Mann war noch nicht ganz über Rowley zusammengesunken, als Richard den nächsten bei seinen roten Haaren packte, ihn zu sich heranzog und ihm das Knie gegen den Unterkiefer rammte; er taumelte mit gebrochenem Kiefer zurück.

Mittlerweile waren alle Männer auf den Beinen, und Richard erkannte, dass er dem leblosen Körper auf dem Boden womöglich bald Gesellschaft leisten würde. Sein Vorteil war, dass sie von der Anstrengung bereits müde waren, sein Nachteil aber ihre große zahlenmäßige Überlegenheit und ihre wilde Gier nach Blut.

Sie wollten sich gerade auf Richard werfen, als sie von etwas abgelenkt wurden und panikartig auseinander stoben. Richard wirbelte herum und sah die Klingenmeister der Baka Tau Mana mit sirrenden Schwertern aus der Nacht hervorstürmen.

Richard erkannte, dass sie ihn beschattet haben mussten, als er, um allein zu sein, zu seinem Spaziergang aufgebrochen war. Er hatte ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkt! Während sie die Verfolgung des Lynchmobs aufnahmen, kniete Richard neben dem Körper im zertrampelten Weizen nieder.

Wer immer es war, er schien nicht mehr am Leben zu sein.

Richard erhob sich unglücklich seufzend, starrte auf die zerschundene Gestalt hinab.

Wäre er näher gewesen oder früher des Weges gekommen, hätte er es vielleicht verhindern können.

Plötzlich fühlte Richard sich nicht mehr in der Verfassung, sich den blutigen Körper anzusehen, und entfernte sich.

Er war erst wenige Schritte gegangen, als ihn ein Gedanke stehen bleiben ließ. Langsam drehte er sich um und schaute. Die Vorstellung ließ ihn innerlich zusammenzucken, doch dann überlegte er: Angenommen, es ist jemand, der mir etwas bedeutet? Würde er nicht wollen, dass jemand bei ihm wäre, der ihm so gut wie irgend möglich half? Er war der Einzige weit und breit, der, wenn überhaupt, helfen konnte. Vermutlich war es den Versuch wert – die betreffende Person war bereits tot, also hatte er nichts zu verlieren.

Entschlossen lief er zurück und kniete neben der Leiche nieder. Er vermochte nicht einmal zu erkennen, ob es ein Mann war oder eine Frau, außer dass man Hosen sah, vermutlich war es also ein Mann. Er schob ihm eine Hand unter den Nacken, entfernte ein wenig von der maskenähnlichen Blutschicht über den geschwollenen, aufgeplatzten Lippen und legte seinen Mund darüber.

Er erinnerte sich, was Du Chaillu mit ihm gemacht hatte, als er dem Tod nahe gewesen war, erinnerte sich, wie Cara dasselbe bei Du Chaillu gemacht hatte. Und so blies er dem leblosen Körper den Hauch des Lebens ein, horchte anschließend auf den Atem, der pfeifend aus dem Körper wich. Er blies ihm einen weiteren Atemzug ein, dann noch einen und noch einen.

Richard hoffte wider alle Wahrscheinlichkeit, dass die arme, unglückliche Seele noch unter ihnen weilte, und flehte die Gütigen Seelen um Hilfe an.

Er wünschte sich so sehr, dass sein Erlebnis in der Gewalt von Denna, der Mord-Sith, auch etwas Gutes hätte. Denna würde bestimmt wollen, dass das Leben ihr Vermächtnis wäre. Cara hatte bereits Du Chaillu ins Leben zurückgeholt und damit bewiesen, dass Mord-Sith mehr konnten als Leben vernichten.

Abermals flehte er die Gütigen Seelen inbrünstig an, ihm zu helfen, diesem Menschen hier seinen unsterblichen Geist zu lassen, anstatt ihn ihm in diesem Augenblick zu nehmen.

Mit einem tiefen Seufzer kehrte das Leben zurück.

Jemand näherte sich. Richard hob den Kopf und sah, wie zwei der Meister der Klinge im Trab zurückgelaufen kamen. Richard brauchte nicht zu fragen, ob sie erfolgreich gewesen waren. Die Bande jugendlicher Totschläger würde niemanden mehr nachts umbringen.

Dann nahte noch jemand. Ein dunkel gekleideter, älterer Herr. Er kam, getrieben von Angst und Sorge, herbeigeeilt.

Der Anblick erschütterte ihn. »Oh, beim Gütigen Schöpfer, nicht schon wieder.«

»Schon wieder?«, fragte Richard.

Der Mann fiel auf die Knie, offenbar hatte er Richard nicht verstanden. Er ergriff eine blutverschmierte Hand und presste sie an seine Wange.

»Dem Schöpfer sei Dank«, meinte er leise. Er sah hoch zu Richard. »Ich habe eine Kutsche.« Er zeigte zur Straße. »Gleich dort drüben. Helft mir, tragt diese arme, bedauernswerte Person zu meiner Kutsche hinüber, damit wir sie zu meinem Haus transportieren können.«

»Wohin genau?«, wollte Richard wissen.

»Nach Fairfield«, erwiderte der Mann, während er zusah, wie die Meister der Klinge den bewusstlosen, aber atmenden Menschen behutsam, fast zärtlich hochhoben.

»Na gut«, meinte Richard und wischte sich das Blut vom Mund. »Vermutlich ist es bis dorthin näher als bis zum Lager meiner Soldaten.«

Richard glaubte dem Mann helfen zu müssen, dieser wies den stützenden Arm jedoch zurück.

»Ihr seid also Lord Rahl?«

Richard nickte. Der Mann blieb stehen, ergriff Richards Hand und schüttelte sie.

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Lord Rahl, wenn auch nicht unter diesen Umständen. Mein Name ist Edwin Winthrop.«

Richard schüttelte dem Mann die Hand. »Meister Winthrop.«

»Edwin, bitte.« Edwin fasste Richard bei den Schultern. »Es ist einfach schrecklich, Lord Rahl. Meine geliebte Gemahlin, Claudine…«

Edwin brach in Tränen aus. Richard hielt ihn an den Armen fest, um zu verhindern, dass der Mann zusammenbrach.

»Meine geliebte Gemahlin Claudine wurde auf genau dieselbe Art umgebracht. Man hat sie hier draußen auf dieser Straße totgeschlagen.«

»Das tut mir aufrichtig Leid«, meinte Richard, der die Reaktion des Mannes jetzt verstand.

»Lasst mich diesem armen Menschen helfen. Meiner Claudine hat niemand so geholfen, wie Ihr diesem Menschen geholfen habt. Bitte erlaubt, dass ich helfe, Lord Rahl.«

»Nennt mich Richard, Edwin. Nichts wäre mir willkommener als Eure Hilfe.«

Richard sah zu, wie Jiaan und seine Klingenmeister den Schwerverletzten in die Kutsche luden.

»Ich möchte, dass drei von euch Edwin begleiten. Wir können nicht ausschließen, dass die, die für diese Tat verantwortlich sind, es noch einmal versuchen.«

»Es ist niemand übrig, der von ihrem Versagen berichten könnte«, wandte Jiaan ein.

»Das werden die Betreffenden früher oder später selber herausfinden.« Richard wandte sich an Edwin. »Ihr dürft niemandem davon erzählen, sonst bringt Ihr Euch selber in Gefahr. Möglicherweise kommen sie noch einmal zurück, um ihr Werk zu beenden.«

Edwin nickte und kletterte in die Kutsche. »Ich habe eine Heilerin, eine Freundin, die ich schon ein Leben lang kenne und der ich vertrauen kann.«

Schweigend gingen Richard und die beiden Meister der Klinge über die menschenleere Straße zurück zum Lager. Sie hatten früher schon ihre unumstößliche Überzeugung geäußert, er werde die Chimären vertreiben, die versucht hatten, ihre Seelenfrau zu töten. Richard brachte es nicht übers Herz, ihnen zu erklären, dass er im Augenblick nicht weiter war als damals.

Als er zurückkehrte, schliefen die meisten im Lager schon. Richard war nicht in der Stimmung, mit den Offizieren oder Posten zu plaudern. Er musste an Joseph Ander und die Chimären denken.

Kahlan war nicht in ihrem Zelt. Wahrscheinlich war sie zusammen mit Du Chaillu fortgegangen. Du Chaillu hatte Kahlans Anwesenheit – das angenehme Gefühl, eine Frau um sich zu haben – schätzen gelernt. Die Geburt des Kindes stand kurz bevor.

Richard nahm Joseph Anders Reisebuch und eine Lampe und begab sich in ein anderes Zelt, das von den Offizieren für die Einsatzplanung benutzt wurde. Er wollte an der Übersetzung des Reisebuches weiterarbeiten, Kahlan bei ihrer Rückkehr aber nicht vom Schlafen abhalten. Wenn er in ihrem Zelt arbeitete, würde sie ganz sicher aufbleiben und ihm Gesellschaft leisten wollen. Das war wirklich nicht nötig.

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