»Es ist an der Zeit«, rief Bertrand Chanboor, der soeben eingesetzte und geweihte Herrscher Anderiths, der gewaltigen Menschenmenge zu, die sich, vom Platz in die umliegenden Straßen überquellend, unterhalb des Balkons erstreckte, »sich gegen den Hass zur Wehr zu setzen.«
Er wusste, dass der Jubel eine Weile anhalten würde, daher ergriff Dalton die Gelegenheit, einen Blick hinunter auf Teresa zu werfen. Sie sah tapfer lächelnd zu ihm hoch und tupfte sich die Augen ab. Fast die ganze Nacht war sie auf den Beinen gewesen, hatte für den unsterblichen Geist des toten Herrschers gebetet und Stärke für den neuen erfleht.
Auch Dalton war fast die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, hatte gemeinsam mit Bertrand und Hildemara Strategien entwickelt und überlegt, was sie sagen wollten. Bertrand war in seinem Element, Hildemara aalte sich in ihrem Ruhm. Die Zügel hielt Dalton in der Hand.
Die Offensive hatte begonnen.
»Als euer Herrscher kann ich nicht zulassen, dass dem Volk Anderiths diese grausame Ungerechtigkeit aufgezwungen wird! Lord Rahl stammt aus D’Hara. Was weiß denn er von den Nöten unseres Volkes? Wie kann er zum allerersten Mal hierher kommen und erwarten, wir würden ihm unser Leben auf Gedeih und Verderb anvertrauen?«
Die Menge buhte und pfiff; Bertrand ließ sie eine Weile gewähren.
»Was, glaubt ihr, wird aus euch prächtigen Hakeniern werden, wenn Lord Rahl seinen Willen bekommt? Glaubt Ihr vielleicht, er wird euch nur einen Augenblick Beachtung schenken? Glaubt Ihr, er wird sich nur einen Augenblick fragen, ob ihr anzuziehen, zu essen oder Arbeit habt? Wir haben hart dafür gekämpft, damit ihr Arbeit finden könnt – durch Gesetze wie das Winthrop-Gesetz zur Schaffung gerechter Arbeitsverhältnisse, das entwickelt wurde, damit alle in den Genuss der Geschenke Anderiths kommen.«
Er hielt inne, um sich von den Menschen zum Weitersprechen ermuntern zu lassen.
»Wir haben gegen den Hass angekämpft. Wir haben gegen Menschen gekämpft, denen es gleichgültig war, ob Kinder verhungern. Wir haben dafür gearbeitet, dass das Leben für alle Anderier einfacher wird. Was hat Lord Rahl getan? Nichts! Wo war er, als unsere Kinder verhungerten? Wo war er, als unsere Männer keine Arbeit finden konnten?
Wollen wir uns wirklich die Früchte unserer harten Arbeit und des Fortschritts von diesem herzlosen Mann und seiner privilegierten Gemahlin, der Mutter Konfessor, mit einem Schlag nehmen lassen? Gerade jetzt, da wir uns dem entscheidenden Punkt unserer Reformen nähern? Wo uns noch so viel Arbeit für das Wohl des anderischen Volkes zu tun bleibt? Was weiß denn die Mutter Konfessor von hungernden Kindern? Hat sie sich jemals um ein Kind kümmern müssen? Nein!«
Als er erneut zu sprechen begann, hämmerte er mit der Faust zur Unterstreichung jeden Punktes auf das Balkongeländer. »Die schlichte Wahrheit ist, Lord Rahl schert sich ausschließlich um seine Magie! Der einzige Grund, weshalb er hergekommen ist, ist seine ganz persönliche Gier! Er ist gekommen, um unser Land für seine Habgier zu missbrauchen!
Er möchte unser Wasser mit abstoßender Zauberei vergiften! Wir könnten nicht mehr fischen, denn seine Magie würde unsere Seen, unsere Flüsse und unser Meer in tote Gewässer verwandeln, während seine zersetzende Magie den Weg für ihn bereitet, bis er sein schauerliches Kriegsgerät herstellen kann!«
Die Menschen waren schockiert und wütend über diese Neuigkeiten. Dalton bewertete die Reaktion auf jeden Schlüsselbegriff, um ihn für zukünftige Reden und die Botschaften, mit denen er das ganze Land zu überziehen gedachte, zurechtfeilen zu können.
»Er schafft Geschöpfe des Bösen, um seinen ungerechten Krieg in die Tat umsetzen zu können. Vielleicht habt ihr auch schon von den seltsamen, unerwarteten Todesfällen gehört? Haltet ihr das für einen Zufall? Nein! Das ist die Magie dieses Lord Rahl! Erst erschafft er diese schändlichen Geschöpfe der Magie, dann gibt er ihnen freie Hand, um zu sehen, wie gut sie morden! Diese todbringenden Wesen lassen unschuldige Menschen verbrennen oder ertrinken. Andere werden von diesen Marodeuren der Nacht hilflos auf Dächer gezerrt und in den Tod gestoßen.«
Ein fasziniertes Stöhnen ging durch die Reihen.
»Er missbraucht unser Volk, um sein finsteres Handwerk für den Krieg zu vervollkommnen!
Seine finstere Hexerei wird die Luft mit einem widerwärtigen Dunst erfüllen, der in jedes Haus eindringt! Wollt ihr, dass eure Kinder die Magie des Lord Rahl atmen? Wer weiß schon, welch qualvollen Todes unschuldige Kinder sterben, die seine menschenverachtenden Zaubereien atmen? Wer weiß schon, welche Missbildungen sie erleiden werden, wenn sie in einem Teich schwimmen, den er benutzt hat, um einen Bann zusammenzubrauen.
Genau das fordern wir heraus, wenn wir uns nicht gegen diese Vergewaltigung unseres Landes wehren! Er wird uns eines qualvollen Todes sterben lassen, damit er seine mächtigen Freunde ins Land bitten kann, die uns unseren Wohlstand rauben. Das ist der wahre Grund, weshalb er uns aufsucht!«
Mittlerweile waren die Menschen vollends bestürzt.
Dalton neigte sich hin zu Bertrand und flüsterte ihm aus dem Mundwinkel zu: »Luft und Wasser haben sie am meisten erschreckt. Das solltet Ihr stärker herausstreichen.«
Bertrand nickte ihm kaum merklich zu.
»Genau dies wird es bedeuten, meine Freunde, lassen wir diesem Diktator bei uns freie Hand. Schon die Luft, die wir zu atmen versuchen, wird von seiner unheilvollen Magie verpestet sein, das Wasser verunreinigt durch seine Hexenkunst. Er und seine Scharen werden lachen über das Leid der ehrlichen, hart arbeitenden Menschen – Anderier wie Hakenier gleichermaßen – und sich auf unsere Kosten bereichern. Er wird unsere reine Luft und das klare Wasser dazu missbrauchen, seine verderbten Geschöpfe der Magie heranzuzüchten und uns einen Krieg aufzwingen, den niemand will!«
Die Menschen schrien wütend auf und drohten mit den Fäusten, als sie ihren Herrscher diese hässlichen Wahrheiten enthüllen hörten. Man sah Entsetzen, Angst und Ekel, am deutlichsten jedoch spürte man die Wut. Für manche kam zu der Ernüchterung über Lord Rahl und die Mutter Konfessor noch die Empörung darüber hinzu, dass man sie zum Narren gehalten hatte, andere wiederum sahen nur ihr Misstrauen gegenüber diesen herzlosen, machtgierigen Menschen bestätigt.
Bertrand hob eine Hand. »Die Imperiale Ordnung hat sich erboten, unsere Erzeugnisse zu Preisen abzukaufen, die weit über denen liegen, die wir zur Zeit bekommen.« Die Menschen applaudierten und pfiffen.
»Lord Rahl dagegen will nichts für sie bezahlen! Die Wahl liegt ganz bei euch, meine tapferen Freunde. Entweder ihr hört auf die Lügen dieses schändlichen Zauberers aus dem fernen D’Hara, der euch um eure Rechte prellen will, der unser Land missbrauchen will, um seine widerwärtigen Geschöpfe der Magie zu verbreiten und einen nutzlosen Krieg voranzutreiben, der eure Kinder verhungern oder an den schädlichen Auswirkungen seiner irrwitzigen Banne sterben lassen will, oder aber ihr verkauft, was ihr anbaut und erzeugt, an die Imperiale Ordnung und bereichert euch und eure Familien wie noch nie zuvor.«
Inzwischen war die Menge vollends aufgebracht. Menschen brachten ihrem neuen Herrscher bislang unbekanntes Wohlwollen entgegen und hörten zum allerersten Mal handfeste Gründe, Lord Rahl abzulehnen. Mehr noch, sie hörten handfeste Gründe, ihn zu fürchten, und, am allerbesten, sie hörten handfeste Gründe, ihn zu hassen.
Dalton strich einige Punkte von seiner Liste, die er als wenig wirkungsvoll erkannt hatte, und versah jene, auf die die stärksten Reaktionen erfolgten, mit einem Kreis.
Wie er und Bertrand gewusst hatten, rief das Wort ›Kinder‹ die stärksten Reaktionen hervor; die entsetzlichen Dinge, die ihnen angeblich zustoßen würden, lösten fast einen Aufruhr aus. Die bloße Erwähnung des Wortes ›Kinder‹ ließ jede Vernunft aus den Köpfen der Menschen weichen.
Auch ›Krieg‹ erzielte den erwarteten Effekt. Zu ihrer Bestürzung erfuhren die Menschen, es sei Lord Rahl, der auf Krieg dränge, obwohl dieser unnötig sei. Die Menschen wollten um jeden Preis Frieden. Sobald sie den Preis erfuhren, würden sie ihn zahlen. Dann würde es für sie zu spät sein, sich anders zu entscheiden.
»Wir müssen dies hinter uns lassen, meine lieben Freunde, müssen es in die Vergangenheit verbannen und auch in Zukunft das Wohl Anderiths im Auge behalten. Vor uns liegt viel Arbeit. Dies ist nicht die Zeit, alles Erreichte aufzugeben, um ein Sklavenstaat dieses von weit her gekommenen Zauberers zu werden, eines Mannes, der besessen ist von Reichtum und Macht, eines Mannes, der kein anderes Ziel kennt, als uns alle in seinen aberwitzigen Krieg hineinzuziehen. Es könnte Frieden herrschen, wenn er dem Frieden nur eine Chance gäbe – doch das will er nicht.
Ich bin sicher, ein solcher Mann würde unsere Traditionen und Religion verwerfen und euch eures Herrschers berauben, doch meine Sorge gilt euch, nicht mir persönlich. Vor mir liegt noch so viel Arbeit. Ich empfinde große Liebe für das Volk von Anderith. Mir wurde ein Segen zuteil, und ich habe der Allgemeinheit viel zurückzugeben.
Ich bitte euch, ich bitte euch als stolzes Volk ganz Anderiths, diesem durchtriebenen Dämon aus D’Hara eure Verachtung zu zeigen, ihm zu zeigen, dass ihr seine niederträchtigen Methoden durchschaut.
Der Schöpfer persönlich verlangt – durch mich –, dass ihr bei dieser Gewissensentscheidung gegen Lord Rahl stimmt und ein Kreuz durch seine Verderbtheit macht. Durch seine üblen Winkelzüge! Durch seine Lügen! Durch seine Tyrannei! Macht auch ein Kreuz durch ihn und durch die Mutter Konfessor!«
Der Platz tobte. Die umstehenden Gebäude erzitterten unter dem nicht enden wollenden Jubel. Bertrand hielt seine Arme vor den Körper und formte sie zu einem großen Kreuz, das jeder der ihm Zujubelnden sehen konnte.
Hildemara, an seiner Seite, applaudierte ihm und bedachte ihn mit ihrem für die Öffentlichkeit bestimmten, gewohnt bewundernden Blick.
Als sich die Menge schließlich auf das Heben seiner um Stille bittenden Hand beruhigte, präsentierte Bertrand seine Gattin mit einer Handbewegung dem Volk; sie erntete fast ebenso großen Beifall wie er.
Hildemara, über alle Maßen erfreut angesichts ihrer neuen Rolle, bat sich mit ausgebreiteten Händen Ruhe aus. Es wurde fast augenblicklich still.
»Meine lieben anderischen Freunde, ich vermag euch nicht zu sagen, wie stolz ich bin, die Gattin dieses großen Mannes zu sein…«
Ihre Worte gingen im aufbrausenden Jubel unter. Mit ausgestreckten Armen gelang es ihr schließlich, wieder für Ruhe zu sorgen.
»Ich kann euch gar nicht sagen, wie oft ich meinem Gemahl zugesehen habe, als er sich für die Bevölkerung von Anderith die Seele aus dem Leib schuftete. Gleichgültig gegen den Ruhm, mühte er sich unbemerkt und unermüdlich für das Volk, ohne dabei auch nur auf seine Ruhe oder Ernährung zu achten.
Wenn ich ihn bat, sich auszuruhen, so antwortete er mir gewöhnlich: ›Hildemara, ich kann unmöglich Ruhe finden, solange es noch hungernde Kinder gibt.‹«
Als die Menge daraufhin abermals in tosenden Jubel ausbrach, musste Dalton sich abwenden und einen Schluck Wein trinken. Teresa fasste seinen Arm.
»Dalton«, hauchte sie, »der Schöpfer hat unsere Gebete erhört und uns Bertrand als Herrscher geschickt.«
Fast hätte er laut aufgelacht, doch dann merkte er, mit wie viel Ehrfurcht in den Augen sie diesen Mann anschaute. Dalton seufzte bei sich. Nicht der Schöpfer hatte ihnen Bertrand geschickt, sondern Dalton selbst.
»Tess, wisch dir die Augen ab. Das Beste steht uns noch bevor.«
Hildemara fuhr fort: »Um dieser Kinder willen möchte ich euch alle bitten, den Hass und die Zwietracht zurückzuweisen, mit denen dieser Lord Rahl unser Volk überziehen will!
Erteilt auch der Mutter Konfessor eine Abfuhr, denn was weiß sie schon von gewöhnlichen Menschen? Von Geburt an kennt diese Frau nichts als Privilegien und Reichtum. Was weiß sie von harter Arbeit? Zeigt ihr, dass ihr Geburtsrecht auf Vorherrschaft ein Ende hat! Zeigt ihr, dass wir ihr privilegiertes Leben ablehnen! Macht ein Kreuz durch die Mutter Konfessor und ihre anmaßenden Forderungen an ein Volk, das sie nicht einmal kennt!
Ich sage, Lord Rahl und die Mutter Konfessor besitzen genug Reichtümer! Überlasst ihnen nicht auch noch das Wenige, das ihr besitzt! Es steht ihnen nicht zu!«
Dalton rieb sich gähnend die Augen, während der Jubel in rhythmisches Rufen des Namens Chanboor überging. Er wusste nicht mehr, wann er zuletzt geschlafen hatte. Einem der Direktoren hatte er geradezu den Arm verdrehen müssen, damit die Wahl einstimmig wurde. Aus einer solchen Einstimmigkeit ließ sich das göttliche Eingreifen zugunsten des erwählten Herrschers ableiten, was sein Mandat erheblich stärkte.
Als Bertrand schließlich abermals vortrat und zu der Menge sprach, hörte Dalton nur halb hin, bis er mitbekam, wie sein Name genannt wurde.
»Aus diesem Grund – unter vielen anderen, die viel zu zahlreich sind, sie alle aufzuführen – habe ich mich persönlich in das Prozedere der Wahl eingeschaltet. Mit ganz besonderem Stolz möchte ich euch den neuen Minister für Kultur vorstellen, einen Mann, der euch ebenso gut dienen und beschützen wird wie alle seine Vorgänger« – Bertrand deutete mit der Hand auf ihn –: »Dalton Campbell.«
Teresa fiel neben ihm auf die Knie und neigte ihr Haupt vor Bertrand.
»O Herrscher, Euer Hoheit, ich danke Euch für die Anerkennung, die Ihr meinem Gemahl zuteil werden lasst. Der Schöpfer möge Euch segnen für das, was Ihr für ihn getan habt.«
Statt Stolz über die Ernennung zu empfinden, kam Dalton sich eher ein wenig im Stich gelassen vor. Teresa wusste, wie viel Arbeit er in die Erreichung ihres Zieles investiert hatte, doch jetzt schrieb sie alles Bertrands Großmut zu.
So mächtig war das Wort des Herrschers! Als er den Blick über die jubelnde Menschenmenge schweifen ließ und darüber nachdachte, mit welchen Worten er Bertrand und Hildemara den Rücken stärken sollte, kam er zu dem Schluss, dass es vermutlich keine Rolle spielte, denn auch das Volk wäre aufgrund der Ansichten seines Herrschers über die bevorstehende Abstimmung längst auf dessen Seite.
Doch es sollte noch mehr folgen. Das Entscheidende hatte Dalton überhaupt noch nicht erwähnt.
Als die Tür aufgerissen wurde, schlug ihm augenblicklich bestialischer Gestank entgegen. Es war zu dunkel, um irgend etwas zu erkennen. Dalton schnippte mit den Fingern, woraufhin die hünenhaften anderischen Gardisten die Fackeln aus den rostigen Halterungen zogen und mitnahmen.
»Seid Ihr sicher, dass er überhaupt noch lebt?«, fragte Dalton. »Seht Ihr überhaupt jemals nach?«
»Er lebt, Minister.«
Einen Augenblick lang war Dalton verwirrt und stutzte über den Titel. Jedesmal, wenn ihn jemand mit dem Titel ansprach, dauerte es den Bruchteil einer Sekunde, bis ihm bewusst wurde, dass er gemeint war. Allein der Klang – Dalton Campbell, Minister für Kultur – rief bei ihm ein leichtes Schwindelgefühl hervor.
Der Gardist hielt die Fackel vor. »Hier herüber, Minister Campbell.«
Dalton stieg über Männer hinweg, die so verdreckt waren, dass man sie kaum vom schmierigen schwarzen Boden unterscheiden konnte. Fauliges Wasser rieselte durch eine Vertiefung im schwarz verschmierten Ziegelfußboden. Wo es in den Raum hineinfloss, lieferte es, so wie es war, das Trinkwasser. Wo es herauslief, war es Latrine. Wände, Boden und Männer wimmelten von Ungeziefer.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, jenseits des fauligen Wassers, führte ein kleines, vergittertes Fenster ungefähr in Kopfhöhe – zu klein, als dass ein Mann hätte durchkriechen können – hinaus auf eine Gasse. Waren Familienangehörige oder Freunde um das Überleben der Gefangenen besorgt, durften sie diese Gasse betreten und sie füttern.
Weil die Arme und Füße der Männer in Holzklötze eingeschlossen waren, um sie bewegungsunfähig zu machen, konnten sie sich nicht um das Essen balgen; sie konnten wenig mehr als auf dem Boden liegen. Wegen der Klötze waren sie außerstande zu laufen, bestenfalls konnten sie ein kurzes Stück hüpfen. Waren sie in der Verfassung, sich weit genug aufzurichten, konnten sie ihren Mund in die Nähe der Fensteröffnung schieben und sich füttern lassen. Wenn ihnen niemand etwas gab, krepierten sie.
Alle Gefangenen waren nackt. Der Schein der Fackeln wurde von schmierig-schwarzen Leibern zurückgeworfen; Dalton bemerkte, dass eine der Gefangenen eine ausgemergelte alte Frau ohne Zähne war. Bei einigen Männern vermochte er nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, ob sie noch lebten, denn sie zeigten keinerlei Reaktion auf die Soldaten, die über sie hinwegstiegen.
»Ich bin überrascht, dass er noch lebt«, meinte Dalton, an den Gardisten gewandt.
»Er hat Leute, die an ihn glauben, immer noch. Sie kommen jeden Tag, um ihm zu essen zu geben. Nachdem sie ihn gefüttert haben, spricht er zu ihnen durch das Fenster. Sie sitzen da und lauschen seinen endlosen Ausführungen, als wäre das, was er zu sagen hat, wichtig.«
Dalton hatte nicht gewusst, dass der Mann noch immer Anhänger hatte; das war von Vorteil. Mit willigen Gefolgsleuten würde es nicht lange dauern, bis die Bewegung in Gang gebracht war.
Ein Gardist senkte die Fackel und erklärte: »Dort liegt er, Minister Campbell. Das ist der Bursche.«
Der Gardist versetzte dem auf der Seite liegenden Mann einen Tritt. Dessen Kopf drehte sich in ihre Richtung. Weder schnell noch langsam, sondern mit Bedacht. Statt des entmutigten Blickes, den Dalton erwartet hatte, funkelte ihm ein einzelnes, feuriges Auge entgegen.
»Serin Rajak?«
»So ist es«, knurrte der Mann. »Was wollt Ihr?«
Dalton ging neben dem Mann in die Hocke. Er musste zweimal Anlauf nehmen, um Luft zu holen. Der Gestank war überwältigend.
»Man hat mich soeben zum Minister für Kultur ernannt, Meister Rajak. Heute erst. Ich bin gekommen, um als erste Amtshandlung das Unrecht wieder gutzumachen, das man Euch angetan hat.«
Dalton fiel auf, dass dem Mann ein Auge fehlte; an dessen Stelle befand sich eine schlecht verheilte, eingefallene Narbe.
»Ungerechtigkeit. Die Welt ist voller Ungerechtigkeit. Die Magie kann den Menschen ungehindert Schaden zufügen. Magie hat mich hierhergebracht. Aber ich habe mich von ihr nicht kleinkriegen lassen. Nein, Sir, das hab ich nicht. Ich werde mich dem Übel der Magie niemals fügen.
Das Auge habe ich mit Freuden für die Sache geopfert. Eine Hexe hat es mir genommen. Wenn Ihr erwartet, ich widerrufe meinen heiligen Kreuzzug gegen diese widerwärtigen Kuppler der Magie, könnt Ihr mich ebenso gut hier liegen lassen, habt Ihr verstanden? Lasst mich in Frieden! Ich werde mich denen niemals beugen!«
Dalton wich ein kleines Stück zurück, als sich der Mann auf dem Boden wild hin und her warf und dabei an den Fesseln riss, denen selbst ein nur halb Wahnsinniger ansehen musste, dass sie seinen Versuchen niemals nachgeben würden. Er ließ dennoch nicht davon ab, bis frisches Blut seine Handgelenke färbte.
»Ich werde meinen Kampf gegen die Magie niemals aufgeben! Habt Ihr verstanden? Ich werde mich niemals denen fügen, die uns, die wir dem Schöpfer dienen, mit Magie belangen!«
Dalton legte dem Mann eine Hand auf die schmierige Schulter, um ihn zu besänftigen.
»Ihr missversteht mich, Sir. Magie fügt unserem Land gewaltigen Schaden zu. Die Menschen sterben durch Feuer und Ertrinken. Ohne erkennbaren Grund werfen sich Menschen von Gebäuden und Brücken…«
»Hexen!«
»Genau das fürchten wir auch…«
»Hexen haben diese Menschen verflucht! Würdet ihr Narren nur auf mich hören, ich hab versucht, euch zu warnen! Ich wollte euch helfen! Ich hab versucht, das Land von ihnen zu befreien!«
»Aus ebendiesem Grund bin ich gekommen, Serin. Ich glaube Euch. Wir brauchen Eure Hilfe. Ich bin gekommen, um Euch frei zu lassen und um Hilfe zu bitten.«
Als der Mann aufsah, leuchtete das Weiße in seinem einen Auge auf wie ein Fanal in der tintenschwarzen Nacht der Verderbnis.
»Gelobt sei der Schöpfer«, sprach er leise. »Endlich wurde ich gerufen, Sein Werk zu tun.«