»Schnipp-Schnapp«, rief Meister Drummond.
Die Lippen fest aufeinandergepreßt, versuchte Snip – erfolglos, wie er wußte – nicht rot zu werden. Höflich lächelnd trottete er an den kichernden Frauen vorbei.
»Ja, Sir?«
Meister Drummond deutete fuchtelnd mit der Hand in den hinteren Teil der Küche. »Schnapp dir noch etwas von dem Apfelbaumholz und schaff es ins Haus.«
Snip verbeugte sich mit einem »Ja, Sir« und begab sich zur Tür, die in den Wald hinausführte. Obwohl in der Küche ein Dunst aus wundervollen Wohlgerüchen herrschte, angefangen bei brutzelnder Butter, über Zwiebeln und Gewürze bis hin zum Duft schmorenden Fleisches, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, war er froh über die Gelegenheit, den verkrusteten Kesseln entkommen zu können. Die Finger schmerzten ihm vom Kratzen und Schrubben. Froh war er auch deshalb, weil Meister Drummond kein Eichenholz verlangt hatte. Snip war erleichtert, daß er wenigstens einmal etwas richtig gemacht und genug Eichenholz hereingeschafft hatte.
Als er auf seinem Weg hinunter zum Apfelholzstapel durch Flecken warmen Sonnenlichts schlenderte, fragte er sich abermals, warum Minister Chanboor Beata hatte sehen wollen. Sie hatte zweifellos glücklich dabei ausgesehen. Frauen schienen ganz aus dem Häuschen zu geraten, sobald sie eine Gelegenheit erhielten, den Minister kennenzulernen.
Snip vermochte nicht zu erkennen, was an dem Mann so besonders war, schließlich wurde er schon alt und grau. Snip vermochte sich nicht vorzustellen, selber einmal so alt zu werden, daß er graue Haare bekam. Schon die Vorstellung ließ ihn angewidert die Nase rümpfen.
Als er am Holzstoß anlangte, fiel ihm etwas ins Auge. Er legte eine Hand an die Stirn, um seine Augen gegen das Sonnenlicht zu schützen, und spähte hinüber in den Schatten des Wendehammers. Erst hatte er gedacht, es sei nur eine weitere Warenlieferung, es war jedoch Brownie, der noch immer mitsamt Metzgerkarren dort wartete.
Er hatte in der Küche zu tun gehabt und wider besseres Wissen angenommen, Beata sei längst wieder aufgebrochen. Es gab ja jede Menge Türen, die nach draußen führten.
Seit sie nach oben gegangen war, mußte eine volle Stunde verstrichen sein. Wahrscheinlich wollte Minister Chanboor ihr eine Nachricht für den Metzger mitgeben – mit irgendeiner Sonderbestellung für seine Gäste. Gewiß war er längst mit ihr fertig.
Wieso stand aber dann der Karren noch dort?
Snip bückte sich und zog ein Apfelholzscheit aus dem Stapel. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Wahrscheinlich erzählte Minister Chanboor ihr Geschichten. Snip nahm das nächste Scheit vom Holzstoß. Aus irgendeinem Grund hörten sich Frauen gerne die Geschichten des Ministers an, und er erzählte gerne. Immerzu unterhielt er sich mit Frauen und erzählte ihnen Geschichten. Manchmal, bei festlichen Abendessen und Feiern, scharten sie sich kichernd um ihn. Vielleicht wollten sie einfach nur höflich sein – schließlich war er ein wichtiger Mann.
Kein Mädchen verschwendete auch nur einen Gedanken darauf, zu ihm höflich zu sein, und seine Geschichten hörten sie sich auch nicht gerade gerne an. Snip nahm den Arm voll Apfelholz auf und begab sich Richtung Küche. Er selber fand die Geschichten, wie er sich betrank, ziemlich komisch, aber Mädchen interessierten sich nicht sonderlich dafür.
Wenigstens mochte Morley seine Geschichten. Morley, und auch die anderen, die ein Strohlager in dem Zimmer hatten, in dem Snip schlief. Sie erzählten sich alle gerne gegenseitig Geschichten und betranken sich dabei. In der wenigen Freizeit außerhalb der Arbeit und der Bußversammlungen gab es sonst nicht viel zu tun.
Immerhin aber hatten sie manchmal nach den Bußversammlungen, wenn ihre Arbeit erledigt war und sie nicht wieder zurückmußten, Gelegenheit, mit Mädchen zu sprechen. Für Snip jedoch – wie auch für die anderen – waren diese Bußversammlungen, auf denen sie all die entsetzlichen Dinge zu hören bekamen, ein bedrückendes Erlebnis. Manchmal, wenn es ihnen gelang, ein wenig Wein oder Bier zu stibitzen, betranken sie sich nach ihrer Rückkehr.
Snip hatte bereits ein Dutzend Armladungen ins Haus geschleppt, als Meister Drummond ihn am Ärmel festhielt und ihm ein Stück Papier in die Hand drückte.
Snip verbeugte sich, sagte »Ja, Sir« und zog los. Er konnte den Zettel nicht entziffern, aber da ein Fest anstand und er schon früher derartige Zettel überbracht hatte, nahm er an, bei den vollgeschriebenen Spalten handele es sich um Bestellungen, die die Küche geliefert bekommen wollte. Er war froh über den Botengang, denn er bedeutete keine echte Arbeit und bot ihm außerdem Gelegenheit, für eine Weile der Hitze und dem Lärm in der Küche zu entfliehen. Auch wenn er die Gerüche dort genoß und er gelegentlich einen kleinen Happen ergattern konnte – die verlockenden Speisen waren ausschließlich für die Gäste bestimmt, nicht fürs Personal. Manchmal aber wollte er einfach raus aus all dem Lärm und Durcheinander.
Der alte Braumeister, dessen dunkles anderisches Haar bis auf einen spärlichen, weiß gewordenen Rest größtenteils ausgefallen war, überflog den Zettel grunzend, den Snip ihm reichte. Anstatt Snip wieder loszuschicken, verlangte der Brauer, er solle ihm ein paar schwere Säcke mit Hopfen ins Haus schleppen. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches. Snip war nichts weiter als ein Küchenjunge, daher hatte ein jeder das Recht, ihm zu befehlen, Arbeiten für ihn zu erledigen. Er seufzte. Offenbar war dies der Preis für den gemütlichen Spaziergang, der hinter ihm lag, und für den, den er auf dem Rückweg noch vor sich hatte.
Als er durch die Dienstbotentüren, wo ein großer Teil der Güter für das Anwesen angeliefert wurde, nach draußen ging, bemerkte er, daß auf der anderen Straßenseite noch immer Brownie mit dem Metzgerkarren stand. Zu seiner Erleichterung sah er nur zehn Säcke seitlich neben der Laderampe aufgestapelt liegen, die zur Brauerei hinuntergeschleppt werden sollten. Als er mit den Säcken fertig war, ließ man ihn gehen.
Immer noch damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen, schlenderte er durch die Dienstbotenflure zurück zur Küche. Er begegnete kaum jemandem, und die wenigen waren bis auf einen alles hakenische Dienstboten, so daß er nur einmal stehenbleiben mußte, um sich zu verbeugen. Schwere Schritte hallten ihm entgegen, als er die Treppenflucht zum Hauptstockwerk und der Küche hinaufstieg. Kurz vor der Tür hielt er inne.
Er blickte den quadratischen Aufgang des Treppenschachtes hinauf bis in den dritten Stock. Die Flure waren menschenleer. Meister Drummond würde ihm glauben, wenn er ihm erklärte, der Brauer habe Säcke ins Haus geschleppt haben wollen. Immerhin war Meister Drummond mit den Vorbereitungen für das Fest am Abend beschäftigt und würde sich nicht die Mühe machen, nachzufragen, um wie viele Säcke es sich gehandelt hatte, und selbst wenn, würde er sich bestimmt nicht auch noch die Zeit nehmen, Snips Antwort nachzuprüfen.
Snip rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf, fast noch bevor ihm recht klar war, daß er beschlossen hatte, sich kurz umzusehen. Wonach und aus welchem Grund, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen.
Er war erst ein paarmal im zweiten Stock gewesen, und nur ein einziges Mal im dritten, erst letzte Woche, um Dalton Campbell, dem neuen Adjutanten des Ministers, eine Abendmahlzeit hinaufzubringen, die dieser unten in der Küche bestellt hatte. Ein anderischer Gehilfe hatte Snip aufgetragen, das Tablett mit Fleischscheiben auf dem Tisch im leeren Büro abzustellen. In den oberen Stockwerken des Westflügels, in dem sich auch die Küche befand, in der Snip arbeitete, waren eine Menge Beamtenbüros untergebracht.
Angeblich befanden sich die Büros des Ministers im dritten Stock. Den Geschichten zufolge, die Snip aufgeschnappt hatte, besaß der Minister eine ganze Flucht von Büros. Wieso er mehr als eines benötigte, vermochte Snip nicht zu erraten. Niemand hatte es ihm je erklärt.
Im ersten und zweiten Stock des Westflügels, hatte Snip erzählen hören, befand sich die reichhaltige anderische Bibliothek. Die Bibliothek war ein Hort der reichen und vorbildlichen Kultur des Landes und lockte Gelehrte und andere wichtige Persönlichkeiten auf das Anwesen. Die anderische Kultur bildete eine Quelle des Stolzes, um die alle sie beneideten, hatte man Snip beigebracht.
Der dritte Stock des Ostflügels beherbergte die Familiengemächer des Ministers. Seine Tochter, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als Snip und unscheinbar bis zur Häßlichkeit, wie Snip hatte erzählen hören, hatte irgendeine Akademie besucht. Er hatte sie nur von weitem gesehen, fand die Beschreibung jedoch zutreffend. Manchmal unterhielten sich ältere Dienstboten tuschelnd über einen anderischen Posten, der in Ketten gelegt worden war, weil die Tochter des Ministers, Marcy oder Marcie, je nachdem, wer die Geschichte gerade erzählte, ihn irgendeines Vergehens bezichtigt hatte. Snip hatte unterschiedliche Versionen gehört, angefangen damit, er habe nichts weiter getan, als ruhig im Flur Wache zu stehen, bis hin zu Spionieren und sogar Vergewaltigung.
Stimmen hallten den Treppenschacht herauf. Den Fuß bereits auf der nächsten Stufe, hielt Snip inne und lauschte, jeden Muskel angespannt und ohne sich zu rühren. Während er bewegungslos verharrte, stellte sich heraus, daß unten im ersten Stock jemand durch den Flur ging. Die Leute kamen nicht herauf.
Glücklicherweise betrat die Frau des Ministers, Lady Hildemara Chanboor, nur selten den Westflügel, in dem Snip arbeitete. Lady Chanboor war eine Anderierin, vor der sogar andere Anderier zitterten. Sie war von üblem Charakter und mit nichts und niemandem zufrieden. Sie hatte Leute aus dem Personal entlassen, weil sie beim Vorübergehen im Flur zu ihr aufgesehen hatten.
Leute, die es wissen mußten, hatten Snip erzählt, Lady Chanboor habe ein Gesicht, das zu ihrem Charakter paßte: es war häßlich. Die unglücklichen Bediensteten, die Lady Chanboor beim Vorübergehen im Flur angesehen hatten, seien Bettler geworden, hieß es.
Von den Frauen in der Küche hörte Snip, Lady Chanboor lasse sich manchmal wochenlang nicht blicken, da der Minister aus diesem oder jenem Grund seiner Gattin überdrüssig sei und ihr ein blaues Auge verpaßt habe. Andere behaupteten, sie betrinke sich ganz einfach tagelang. Eine alte Hausangestellte berichtete hinter vorgehaltener Hand, von Zeit zu Zeit mache sie sich mit einem Liebhaber aus dem Staub.
Snip langte auf der obersten Stufe an. Die Flure im dritten Stock waren menschenleer, Sonnenlicht strömte durch die mit gazeartigen Spitzen verhangenen Fenster herein und fiel auf die blanken Holzdielen. Snip blieb auf dem Absatz am oberen Treppenende stehen. In seinem Rücken hatte er auf drei Seiten Türen, auf der vierten die Treppe. Er blickte die menschenleeren Flure entlang, die nach rechts und links abgingen, und wußte nicht, ob er es wagen sollte, sie zu betreten.
Alle möglichen Leute, von Boten bis hin zu Wachtposten, konnten ihn anhalten und fragen, was er hier zu suchen hatte. Was konnte er darauf antworten? Snip wollte nicht zum Bettler werden.
So wenig er die Arbeit mochte, hatte er doch gerne etwas zu essen; ständig schien er hungrig zu sein. Das Essen war nicht so gut wie das, was den wichtigen Personen bei Hofe oder den Gästen serviert wurde, aber es war passabel, und er bekam ausreichend. Und wenn niemand hinsah, konnten er und seine Freunde sogar Wein und Bier trinken. Nein, er wollte nicht hinausgeworfen und zum Bettler gemacht werden.
Vorsichtig machte er einen Schritt in die Mitte des Treppenabsatzes. Fast hätte sein Knie nachgegeben, und er hätte ums Haar aufgeschrien, als er auf etwas Spitzes trat. Dort, unter seinem Fuß, lag eine Anstecknadel mit spiralförmigem Ende, dieselbe Anstecknadel, mit der Beata den Ausschnitt ihres Kleides verschloß.
Snip hob sie auf, unschlüssig, was das bedeuten mochte. Er konnte sie mitnehmen und ihr später wiedergeben, vielleicht freute sie sich, sie zurückzubekommen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sollte er sie dort liegenlassen, wo er sie gefunden hatte, statt jemandem, schon gar nicht Beata, erklären zu müssen, wie sie in seine Hände gekommen war. Womöglich würde sie wissen wollen, was ihm einfalle, hier heraufzukommen. Sie war eingeladen worden, nicht er. Womöglich glaubte sie, er spionierte ihr nach.
Er war gerade im Begriff, sich zu bücken, um die Nadel wieder an ihren Platz zu legen, als er in dem unter einer der großen Türen vor ihm hindurchfallenden Licht eine Schattenbewegung wahrnahm. Er neigte den Kopf zur Seite, glaubte, Beatas Stimme zu hören, war aber nicht sicher. Dann vernahm er gedämpftes Lachen.
Snip schaute abermals nach rechts und links. Niemand zu sehen. Schließlich ging er ja keinen Flur entlang; er trat bloß kurz ans andere Ende des Absatzes am oberen Treppenende. Wenn jemand fragte, konnte er sagen, er habe den Flur nur betreten wollen, um vom dritten Stock aus einen Blick auf die wunderschönen Ländereien zu werfen – um hinauszuschauen auf die Weizenfelder, die die Hauptstadt Fairfield, den Stolz Anderiths, umgaben.
Ihm erschien das glaubhaft. Man würde ihn vielleicht anbrüllen, aber bestimmt nicht gleich hinauswerfen. Nicht, weil er aus einem Fenster geschaut hatte. Bestimmt nicht.
Sein Herz klopfte; ihm zitterten die Knie. Bevor er Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, ob es töricht wäre, ein solches Risiko einzugehen, hatte er sich bereits auf Zehenspitzen an die schwere, in vier Felder unterteilte Tür herangeschlichen. Er vernahm ein Geräusch, das wie das Wimmern einer Frau klang. Aber auch ein amüsiertes Lachen und das Keuchen eines Mannes.
Im gläsernen Türknauf waren Hunderte kleiner Bläschen für immer vor der Vergänglichkeit bewahrt. Es gab kein Schloß, somit also auch kein Schlüsselloch unterhalb des reichverzierten Messingbeschlags rings um den Glasknauf. Das Gewicht auf die Finger verlagernd, ließ Snip sich leise zu Boden, bis er auf dem Bauch lag.
Je näher er dem Boden kam, und damit auch dem Spalt unter der Tür, desto besser konnte er hören. Es klang irgendwie, als sei ein Mann damit beschäftigt, sich zu verausgaben. Das amüsierte Lachen ab und an stammte von einem zweiten Mann. Snip vernahm das stoßweise, wimmernde Stöhnen einer Frau, so als hechelte sie ihrem eigenen Atem hinterher. Beata, dachte er.
Snip schmiegte seine rechte Wange auf den kalten, lackierten Eichenboden. Er schob sein Gesicht näher an den zollgroßen Spalt unter der Tür heran und erblickte, ein wenig nach links versetzt, Stuhlbeine, und davor, auf dem Fußboden ruhend, einen schwarzen, mit silbernen Nieten besetzten Stiefel; er wippte leicht auf und ab. Da man nur einen sah, hatte der Mann offenbar die Beine übereinandergeschlagen.
Snip hatte das Gefühl, als sträubten sich ihm die Haare. Er erinnerte sich ganz deutlich, den Besitzer dieses Stiefels gesehen zu haben. Es war der Mann mit dem seltsamen Übermantel, mit den Ringen und den vielen Waffen. Der Mann, der Beata eingehend gemustert hatte, als er an ihrem Karren vorübergegangen war.
Snip vermochte nicht auszumachen, woher die Geräusche stammten. Leise wälzte er seinen Körper herum und drehte das Gesicht, so daß er mit dem linken Augen unter der Tür nach rechts schauen konnte. Er schob sich näher heran, bis seine Nase die Tür berührte.
Er kniff ungläubig die Augen zusammen, und dann – entsetzt – noch einmal.
Beata lag mit dem Rücken auf dem Fußboden, ihr blaues Kleid war über ihre Hüften gerutscht. Zwischen ihren entblößten, gespreizten Beinen lag ein Mann mit nacktem Oberkörper, der sie hastig und ungestüm bearbeitete.
Schockiert von dem Anblick, sprang Snip auf und taumelte mehrere Schritte zurück. Er keuchte, seine Augen waren aufgerissen, und seine Eingeweide verdrehten sich vor Schreck. Vor Schreck, daß er Beatas bloße, gespreizte Beine gesehen hatte. Und dazwischen den Minister. Er machte kehrt und wollte, brennende Tränen in den Augen, mit offenem Mund und wie ein Karpfen auf dem Trockenen nach Luft schnappend, die Treppe hinunterstürzen.
Hallende Schritte. Jemand kam die Treppe herauf. Wie erstarrt blieb er mitten im Raum stehen, zehn Fuß von der Tür, zehn Fuß von der Treppe entfernt, und wußte nicht, was er tun sollte. Er hörte, wie die Schritte näher kamen. Hörte zwei Stimmen. Er blickte rechts und links in den Flur und versuchte zu entscheiden, ob einer vielleicht eine Fluchtmöglichkeit bot, ob es bloß Sackgassen waren, in denen er festsäße, oder ob dort Wachen standen, die ihn in Ketten legen würden.
Die beiden blieben auf dem Absatz unten stehen, es waren zwei Frauen, Anderierinnen. Sie unterhielten sich über das Fest am selben Abend, wer anwesend sein würde, wer nicht eingeladen war; wer doch. Obwohl ihre Worte kaum mehr als geflüstert waren, konnte er sie in seinem Zustand entgeisterter Bestürzung deutlich genug verstehen. Snip schlug das Herz bis zum Hals, während er in starrer Panik keuchend flehte, sie möchten die Treppe nicht bis ganz oben in den dritten Stock heraufkommen.
Die beiden begannen eine Diskussion darüber, was sie anziehen wollten, um die Aufmerksamkeit des Ministers auf sich zu lenken. Snip konnte kaum glauben, daß er eine Unterhaltung darüber belauschte, wie dicht über ihren Brustwarzen sie ihren Ausschnitt zu tragen wagten. Das Bild, das dabei in seinem Kopf entstand, wäre bis zur Verblendung angenehm gewesen, säße er nicht – kurz davor, gefaßt zu werden – an einem Ort fest, wo er nichts verloren hatte, wo er etwas sah, das er nicht hätte sehen dürfen und das ihm einen Rausschmiß oder Schlimmeres eintragen konnte. Weit Schlimmeres.
Eine der beiden Frauen schien verwegener zu sein als die andere. Die zweite erklärte, sie habe ebenfalls die Absicht aufzufallen, aber das sei auch alles. Die erste lachte amüsiert, sie wolle mehr als von dem Minister bemerkt werden, und die andere solle ganz unbesorgt sein, denn ihre Ehemänner würden belobigt werden, wenn sie zuließen, daß ihre Frauen die ganze Aufmerksamkeit des Ministers auf sich zögen.
Snip drehte sich, um ein Auge auf die Tür des Ministers zu halten. Offenbar hatte bereits jemand die Aufmerksamkeit des Ministers erregt. Beata.
Snip wagte vorsichtig einen Schritt nach links. Der Boden knarrte! Snips Ohren fühlten sich an, als würden sie immer größer. Weiter unten Gekicher über Ehemänner. Snip zog den Fuß zurück, Schweiß rann ihm in den Nacken.
Die beiden Frauen unten gingen, ins Gespräch vertieft, weiter. Er hielt den Atem an, hörte eine Tür knarren. Eine der Frauen erwähnte den Ehemann der anderen – Dalton.
Die Tür schloß sich hinter ihnen. Snip atmete auf.
Unmittelbar vor ihm wurde die Tür aufgerissen.
Der große Fremde hielt Beata am Oberarm gepackt. Sie kehrte Snip den Rücken zu, als sie aus dem Zimmer geworfen wurde. Der Mann versetzte ihr einen Stoß, als wiege sie nicht mehr als ein Federkissen. Sie landete mit einem dumpfen Schlag auf ihrem Hinterteil, nicht ahnend, daß Snip unmittelbar hinter ihr stand.
Der Fremde blickte in seine weitaufgerissenen Augen, als ginge ihn das alles nichts an. Der dichte Haarschopf des Mannes hing ihm in verfilzten Strähnen bis auf die Schultern herab. Seine Kleidung war dunkel und mit ledernen Flicken, Riemen und Gürteln übersät. Der größte Teil seiner Waffen lag im Zimmer auf dem Fußboden. Allerdings wirkte er wie ein Mann, der sie nicht nötig hatte, wie ein Mann, der imstande wäre, nahezu jedem mit seinen schwieligen Händen den Hals umzudrehen.
Als er sich wieder zum Zimmer umdrehte, mußte Snip zu seinem Entsetzen erkennen, daß der eigenartige Übermantel aus Skalps gemacht war. Deshalb sah er so aus, als wäre er mit Haarbüscheln übersät, denn er war mit Haarbüscheln übersät, mit menschlichen Haarbüscheln. In jeder Haarfarbe, von blond bis schwarz.
Der Minister rief den Mann von jenseits des Türrahmens bei seinem Namen – »Stein« – und warf ihm ein handgroßes weißes Stoffknäuel zu. Stein fing es auf und zog daraufhin Beatas Unterhosen mit zwei fleischigen Fingern auseinander, um sie zu begutachten. Er warf sie ihr in den Schoß, während sie nach Atem ringend auf dem Boden hockte und sich größte Mühe gab, nicht in Tränen auszubrechen.
Stein blickte Snip vollkommen ungerührt in die Augen und feixte. Sein Feixen schob den dichten Stoppelbart faltig zur Seite.
Er zwinkerte Snip neckisch zu. Die Gleichgültigkeit des Mannes gegenüber der Tatsache, daß noch eine weitere Person anwesend war, die Zeuge des Geschehens wurde, versetzte Snip in Erstaunen. Der Minister spähte, sich die Hosen zuknöpfend, zur Tür heraus. Auch er feixte und zog beim Hinaustreten auf den Flur die Tür hinter sich zu.
»Sollen wir jetzt der Bibliothek einen Besuch abstatten?«
Stein machte eine einladende Geste.
Beata saß mit hängendem Kopf da, während die beiden Männer sich ungezwungen miteinander plaudernd durch den Flur nach links entfernten. Das qualvolle Erlebnis schien sie am Boden zerstört und zu sehr ernüchtert zu haben, um noch den Willen aufzubringen, sich zu erheben, zu gehen und in ihr früheres Leben zurückzukehren.
Stocksteif, mit aufgerissenen Augen, den Atem anhaltend, wartete Snip ab und hoffte auf das Unmögliche – daß sie sich vielleicht nicht umdrehen würde, daß sie vielleicht verwirrt durch den anderen Flur von dannen ziehen und ihn hinter sich nicht bemerken würde.
Ihr Schluchzen nur mühsam unterdrückend, kam Beata wankend auf die Beine. Als sie sich umdrehte und Snip bemerkte, erstarrte sie vor Schreck. Er stand ebenfalls da wie gelähmt und wünschte sich mehr als alles andere, nie die Treppe heraufgestiegen zu sein, um sich umzusehen. Er hatte längst weit mehr gesehen, als ihm lieb war.
»Beata…« Er wollte sie fragen, ob sie verletzt sei. Natürlich war sie das! Er wollte sie trösten, wußte aber nicht, wie, fand nicht die richtigen Worte. Er wollte sie schützend in die Arme nehmen, fürchtete jedoch, sie könnte seine fürsorgliche Geste falsch auslegen.
Beatas Gesicht wandelte sich von Elend zu blindem Zorn. Unerwartet schoß ihre Hand vor und schlug ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, daß sein Kopf wie eine Glocke klang.
Der heftige Schlag riß seinen Kopf zur Seite, die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Er glaubte, hinten in einem Flur jemanden zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Als er versuchte, seine Orientierung wiederzuerlangen, und zurücktaumelnd nach einem Geländer tastete, berührte seine Hand statt dessen den Fußboden. Ein Knie landete neben der Hand auf dem Boden. Verschwommen nahm er Beatas blaues Kleid wahr, als sie die Stufen hinunterrannte, während das abgehackte Trippeln ihrer Schritte ein hämmerndes Echo den Treppenschacht heraufsandte.
Ein lähmender Schmerz fuhr spitz und heiß unmittelbar vor seinem klingenden Ohr in seinen Oberkiefer, auch seine Augen schmerzten. Die Härte ihres Schlages verblüffte ihn. In seiner Magengrube machte sich Übelkeit breit, er kniff die Augen zusammen und versuchte gewaltsam wieder einen klaren Blick zu bekommen.
Er erschrak, als eine Hand ihn unter dem Arm faßte; sie half ihm wieder auf die Beine. Dicht über seinem erschien Dalton Campbells Gesicht.
Im Gegensatz zu den beiden anderen Männern lächelte er nicht, sondern betrachtete Snips Augen, wie Meister Drummond einen vom Fischhändler gelieferten Heilbutt musterte. Kurz bevor er ihn ausnahm.
»Wie heißt du?«
»Snip, Sir. Ich arbeite unten in der Küche.« Der Schlag und seine Angst bewirkten, daß ihm seine Beine wie gekochte Nudeln vorkamen.
Der Mann sah zur Treppe. »Du scheinst dich aus der Küche verlaufen zu haben, meinst du nicht auch?«
»Ich hab dem Braumeister einen Zettel gebracht.« Snip hielt inne, um Luft hinunterzuwürgen und seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Ich war gerade auf dem Weg zurück in die Küche, Sir.«
Die Hand schloß sich fester um Snips Arm und zog ihn heran. »Du mußt hart arbeiten, Junge, wenn du zum Braumeister unten im Untergeschoß und dann gleich wieder hinauf zur Küche im ersten Stock gerannt bist. Ich hätte nicht den geringsten Grund, mich daran zu erinnern, dich hier im dritten Stock gesehen zu haben.« Er ließ Snips Arm los. »Vermutlich habe ich dich unten gesehen, wie du von der Brauerei in die Küche zurückgerannt bist. Ohne dich unterwegs zu verirren.«
Snips Sorge um Beata ging in die wachsende Hoffnung über, einen Rauswurf – oder Schlimmeres – zu verhindern.
»Ja, Sir. Ich war auf dem kürzesten Weg zurück in die Küche.«
Dalton Campbell drapierte die Hand über das Heft seines Schwertes. »Du warst bei der Arbeit und hast nichts gesehen, richtig?«
Snip unterdrückte sein Entsetzen. »Nein, Sir. Nicht das geringste. Ich schwöre es. Nur, daß Minister Chanboor mir zugelächelt hat. Er ist ein großer Mann, der Minister. Ich bin dankbar, daß ein so großer Mann wie er einem nutzlosen Hakenier wie mir Arbeit gibt.«
Dalton Campbells Mundwinkel zuckten gerade so weit nach oben, daß Snip glaubte, der Adjutant sei über das Gehörte erfreut. Er trommelte mit den Fingern auf den messingnen Handschutz seines Schwertes. Snip starrte auf die fürstliche Waffe und fühlte sich genötigt, das Schweigen zu brechen.
»Ich will ein nützliches und angesehenes Mitglied bei Hofe sein. Ich will hart arbeiten und mir Kost und Logis verdienen.«
Das Lächeln wurde breiter. »Das ist fürwahr gut zu wissen. Du scheinst ein tüchtiger junger Mann zu sein. Offenbar ist es dir mit deinem Wunsch ernst. Möglicherweise kann ich auf dich zählen, was meinst du?«
Snip war nicht sicher, weswegen genau man auf ihn zählen sollte, er antwortete trotzdem mit einem »Ja, Sir«, und zwar ohne Zögern.
»Du schwörst, du hast auf deinem Weg zurück in die Küche nichts gesehen. Das beweist mir, daß du ein Bursche bist, aus dem noch etwas werden kann. Vielleicht einer, dem man mehr Verantwortung übertragen könnte?«
»Verantwortung, Sir?«
In Dalton Campbells Augen blitzte eine beängstigende, nicht greifbare Intelligenz auf, derselben Art, bildete Snip sich ein, wie Mäuse sie in den Augen der Hauskatze sehen mochten.
»Manchmal brauchen wir Menschen, deren Wunsch es ist, bei Hofe aufzusteigen. Wir werden sehen. Achte aufmerksam auf die Lügen der Menschen, die den Minister in Verruf bringen wollen, dann sehen wir weiter.«
»Ja, Sir. Ich will nicht, daß jemand etwas gegen den Minister sagt. Er ist ein guter Mann, der Minister. Hoffentlich stimmen die Gerüchte, die ich gehört habe, daß wir eines Tages den Segen des Schöpfers erfahren können und Minister Chanboor Herrscher wird.«
Jetzt blieb das Lächeln des Adjutanten endgültig haften.
»Ja, ich glaube wirklich, aus dir kann noch etwas werden. Solltest du … irgendwelche den Minister betreffenden Lügen hören, wüßte ich es sehr zu schätzen, davon zu erfahren.« Er gestikulierte Richtung Treppe. »Und jetzt mach, daß du in die Küche kommst.«
»Ja, Sir. Wenn ich so was höre, komme ich sofort damit zu Euch.« Snip machte sich Richtung Treppe davon. »Ich will nicht, daß jemand Lügen über den Minister verbreitet. Das wäre nicht richtig.«
»Junger Mann – Snip, nicht wahr?«
Snip drehte sich auf der obersten Stufe um. »Richtig, Sir. Snip.«
Dalton Campbell verschränkte die Arme, drehte den Kopf und sah ihn fragend an. »Was hast du bei der Buße gelernt, wie man den Herrscher beschützen muß?«
»Den Herrscher?« Snip rieb seine Hände an der Hose. »Nun … äh … daß alles, was man tut, um den Herrscher zu beschützen, eine Tugend ist?«
»Sehr gut.« Die Arme noch immer verschränkt, beugte er sich zu Snip hinab. »Und nun, da du gehört hast, daß Minister Chanboor wahrscheinlich zum Herrscher ernannt wird …?«
Der Mann erwartete eine Antwort. Snip suchte hektisch danach. Schließlich räusperte er sich. »Nun … ich denke, wenn er zum Herrscher ernannt werden wird, daß man ihn dann vielleicht ebenso beschützen soll.«
Dalton Campbells Art zu lächeln, als er sich aufrichtete, verriet Snip, daß er die richtige Antwort getroffen hatte. »Vielleicht besitzt du tatsächlich die Fähigkeit, bei Hofe aufzusteigen.«
»Danke, Sir. Ich würde alles tun, um den Minister zu beschützen, wo er doch eines Tages Herrscher werden wird. Es ist meine Pflicht, ihn auf jede nur erdenkliche Art zu beschützen.«
»Ja…«, meinte Dalton Campbell eigenartig gedehnt. Er legte den Kopf auf die Seite, katzenhaft, und musterte Snip eingehend. »Solltest du dich als hilfreich erweisen bei … allem, was wir möglicherweise gezwungen sein werden, zum Schutz des Ministers zu unternehmen, würde dich das der Begleichung deiner Schuld ein großes Stück näherbringen.«
Snip spitzte die Ohren. »Meiner Schuld, Sir?«
»Ich sagte es Morley bereits. Wenn er sich dem Minister als nützlich erweist, könnte er sich womöglich den Titel ›Sir‹ vor seinem Namen verdienen, mitsamt einer vom Herrscher unterzeichneten Urkunde. Du scheinst ein kluger Bursche zu sein. Ich könnte mir denken, daß dich in Zukunft ähnliches erwartet.«
Snips Unterkiefer hing schlaff herab. Sich den Titel ›Sir‹ vor dem Namen zu verdienen war einer seiner Träume. Eine vom Herrscher unterzeichnete Urkunde bewies, daß ein Hakenier seine Schuld beglichen hatte, mit ›Sir‹ anzusprechen und zu respektieren war. Seine Gedanken eilten zu dem soeben Gehörten zurück.
»Morley? Der Küchenjunge Morley?«
»Ja. Hat er dir nicht erzählt, daß ich mit ihm gesprochen habe?«
Snip kratzte sich hinter einem Ohr und versuchte sich vorzustellen, daß Morley ihm solch erstaunliche Neuigkeiten vorenthalten haben sollte. »Nun, das nicht, Sir. Er hat nichts davon erwähnt. Er ist so ungefähr mein bester Freund, ich würde mich erinnern, wenn er etwas Derartiges gesagt hätte. Tut mir leid, aber er hat nichts davon erzählt.«
Dalton Campbell strich mit dem Finger über die silberne Scheide an seiner Hüfte, während er Snips Augen beobachtete. »Gut.« Er legte abermals eine Hand auf das Heft seines prachtvollen Schwertes. »Du mußt wissen, Snip, sobald ein Hakenier seine Schuld beglichen und sich den Titel ›Sir‹ vor seinem Namen verdient hat, berechtigt ihn die unterzeichnete Urkunde zum Tragen eines Schwertes.«
Snip bekam große Augen. »Wirklich? Das wußte ich gar nicht.«
Der großgewachsene Anderier verabschiedete sich mit einem würdevollen Lächeln, machte mit elegantem Schwung kehrt und entfernte sich durch den Flur. »Dann also wieder an die Arbeit, Snip. Hat mich gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Vielleicht sprechen wir uns eines Tages noch.«
Snip rannte die Stufen hinunter, bevor er noch einmal dort oben erwischt werden konnte. Verwirrende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Als er abermals an Beata dachte und an das, was geschehen war, sehnte er das Ende des Tages herbei, um sich ordentlich betrinken zu können.
Er verging vor Sorge um Beata, und doch bewunderte sie den Minister, jenen Minister, der eines Tages Herrscher werden würde und den Snip auf ihr hatte liegen sehen. Außerdem hatte sie ihn geschlagen, eine schlimme Sache für einen Hakenier, selbst gegenüber einem anderen Hakenier, wenn er auch nicht sicher war, ob sich das Verbot auf Frauen erstreckte. Doch selbst wenn nicht, würde er sich deswegen nicht weniger elend fühlen.
Aus einem unerklärlichen Grund haßte sie ihn jetzt.
Er sehnte sich danach, sich zu betrinken.