»Gemahl?« hörte Richard Kahlan im Tonfall wachsender Besorgnis wiederholen.
Ihm stockte der Atem. Der Schock der Überraschung fuhr ihm mit einem derartigen Ruck in die Glieder, daß es ihn fast von den Beinen riß. Unvermittelt kehrte die Erinnerung an Du Chaillus Erzählung über das alte Gesetz ihres Volkes zurück. Die schauderhaften Folgerungen ließen ihn unsicher wanken.
Damals hatte er ihre hartnäckigen Beteuerungen als unsinnige Überzeugungen oder vielleicht als Mißverständnis über ihre Vergangenheit abgetan; jetzt war dieses alte Gespenst unerwartet zurückgekehrt und verfolgte ihn.
»Gemahl?« wiederholte Kahlan, ein wenig lauter diesmal, mit mehr Nachdruck.
Du Chaillus dunkle Augen wandten sich Kahlan zu, als sei es ihr lästig, den Blick von Richard abzuwenden. »Sehr richtig. Gemahl. Ich bin Du Chaillu, Weib des Caharin, Gemahlin von Richard, dem Sucher.« Du Chaillu strich mit der Hand über ihren ausgeprägten Bauch. »Ich trage sein Kind.«
»Überlaß das mir, Mutter Konfessor«, rief Cara. Die bedrohliche Entschlossenheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Diesmal werde ich mich der Angelegenheit annehmen.«
Cara riß Chandalen das Messer aus dem Gürtel und stürzte sich auf die Frau.
Richard war schneller. Blitzartig drehte er sich zu Cara herum und stieß ihr die Fingerspitzen gegen die Brust. Damit bremste er nicht nur ihren Vorwärtsdrang, sondern stieß sie sogar noch drei Schritte weit zurück. Er hatte schon genug Probleme, auch ohne daß sie noch weitere hinzufügte. Er schubste sie drei weitere Schritte zurück, dann noch einmal drei, fort von der Gruppe von Personen.
Richard entwand ihr das Messer. »So, und jetzt hört mir zu. Ihr habt nicht die geringste Ahnung, was es mit dieser Frau auf sich hat.«
»Ich weiß…«
»Ihr wißt gar nichts! Hört zu! Ihr geht immer bis zum Äußersten. Sie ist nicht Nadine. Sie ist ein völlig anderer Fall als Nadine!«
Endlich brach seine stumme Wut aus ihm heraus. Mit einem Aufschrei entfesselten Zorns schleuderte Richard das Messer in den Erdboden. Die Wucht trieb es unter die Grasnarbe und vergrub es vollständig im Erdreich der Ebene.
Kahlan legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Beruhige dich doch, Richard. Was hat das zu bedeuten? Was wird hier gespielt?«
Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Die Zähne fest aufeinandergebissen, sah er sich um und erblickte die noch immer knienden Männer.
»Jiaan, ihr übrigen – erhebt euch von den Knien! Steht auf!«
Die Männer erhoben sich augenblicklich; Du Chaillu wartete geduldig, ohne sich zu rühren. Chandalen und seine Männer traten zurück. Die Schlammenschen hatten ihm den Namen Richard mit dem Zorn gegeben und waren daher nicht überrascht, schienen es aber trotzdem für das beste zu halten, sich ein Stück zurückzuziehen.
Chandalen und seine Männer konnten unmöglich wissen, daß sein Zorn jenem Zauber galt, der einen von ihnen getötet hatte – höchstwahrscheinlich sogar zwei, wie ihm jetzt klar wurde – und sicher noch weitere töten würde.
Kahlan musterte ihn besorgt. »Beruhige dich, Richard, und reiß dich zusammen. Wer sind diese Leute?«
Er schien weder seinen Atem beruhigen zu können noch sein Herz. Weder vermochte er seine geballten Fäuste zu entkrampfen, noch seine rasenden Gedanken zu zähmen. Alles schien ins Wanken geraten zu sein und sich seiner Kontrolle zu entziehen. Längst begraben geglaubte Ängste schienen sich befreit zu haben, neu entflammt zu sein und von ihm Besitz ergreifen zu wollen. Er hätte es früher merken müssen. Er verwünschte sich, weil er es übersehen hatte.
Es mußte doch einen Weg geben, dem ein Ende zu machen. Er mußte nachdenken. Statt sich vor ungeschehenen Dingen zu ängstigen, mußte er sich überlegen, wie man sie verhindern konnte.
Ihm wurde klar, daß das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Jetzt mußte er einen Ausweg suchen.
Kahlan blickte ihm erhobenen Hauptes in die Augen. »Antworte mir, Richard. Wer sind diese Leute?«
Aus Wut und Verzweiflung preßte er sich eine Hand auf die Stirn. »Die Baka Ban Mana. Das bedeutet ›die ohne Meister‹.«
»Wir haben jetzt einen Caharin, wir sind nicht mehr die Baka Ban Mana«, meinte Du Chaillu, die nicht weit entfernt stand. »Jetzt sind wir die Baka Tau Mana.«
Ohne Du Chaillus Erklärung richtig zu begreifen, wandte Kahlan ihre Aufmerksamkeit wieder Richard zu. Mittlerweile hatte ihre Stimme einen rasiermesserscharfen Unterton. »Wieso behauptet sie, du seist ihr Gemahl?«
Er hatte sich gedanklich bereits so weit in eine völlig andere Richtung entfernt, daß er sich einen Augenblick konzentrieren mußte, um Kahlans Frage zu begreifen. Sie schien sich der Folgen nicht bewußt zu sein. Angesichts der sich drohend vor ihnen auftürmenden Zukunft kam Richard Kahlans Frage so belanglos vor, als entstammte sie einer längst vergangenen Zeit.
Er versuchte ihre Besorgnis mit einer ungeduldigen Handbewegung abzutun. »Es ist nicht, wie du denkst, Kahlan.«
Sie benetzte ihre Lippen und atmete tief durch. »Schön.« Sie sah ihn fest aus ihren grünen Augen an. »Warum erklärst du es mir dann nicht einfach?«
Das war gar keine richtige Frage. Stattdessen stellte Richard eine. »Begreifst du nicht?« Er deutete, von seiner Ungeduld überwältigt, auf Du Chaillu. »Es ist das alte Gesetz! Nach dem alten Gesetz ist sie meine Gemahlin, zumindest glaubt sie das.«
Richard preßte die Fingerspitzen gegen seine Schläfen. Ihm dröhnte der Kopf.
»Wir stecken in gewaltigen Schwierigkeiten«, murmelte er.
»Ihr jedenfalls«, warf Cara ein.
»Cara«, meinte Kahlan zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, »es reicht.« Sie wandte sich wieder an ihn. »Wovon redest du überhaupt, Richard? Was wird hier gespielt?«
Berichte aus Kolos Tagebuch schossen ihm durch den Kopf.
Er schien seine Gedanken nicht klar genug ordnen zu können, um all die durcheinanderwirbelnden Tatsachen in Worte zu fassen. Die Welt brach auseinander, und sie stellte ihm die Fragen von gestern. Er sah, wie die Gefahr sich in aller Deutlichkeit bedrohlich vor ihnen auftürmte, und konnte nicht verstehen, wieso nicht auch Kahlan die drohende Gefahr erkannte.
»Siehst du denn nicht?«
Wie von Sinnen ging Richards Verstand die vagen Möglichkeiten durch, während er zu entscheiden versuchte, was er als nächstes tun sollte. Die Zeit lief ihnen davon. Er wußte nicht einmal, wieviel ihnen noch blieb.
»Ich sehe, daß Ihr sie geschwängert habt«, meinte Cara.
Richard bedachte die Mord-Sith mit einem wütenden Funkeln. »Habt Ihr nach allem, was wir durchgemacht haben, eine so schlechte Meinung von mir, Cara?«
Cara wirkte verbittert; sie verschränkte die Arme und wandte sich ab.
»Rechnet doch nach«, forderte Kahlan Cara auf. »Als diese Frau schwanger wurde, dürfte Richard als Gefangener der Mord-Sith weit weg im Palast des Volkes in D’Hara gewesen sein.«
Im Gegensatz zu Richard, der den Strafer aus Hochachtung für jene beiden Frauen trug, die gestorben waren, während sie sie beschützt hatten, trug Kahlan den Strafer Dennas, jener Mord-Sith, die Richard auf Geheiß Darken Rahls gefangengenommen und fast zu Tode gefoltert hatte. Denna hatte beschlossen, Richard zu ihrem Gefährten zu erwählen, hatte jedoch nie durchblicken lassen, daß es sich dabei um eine Ehe handelte. Für Denna war es lediglich eine weitere Möglichkeit gewesen, ihn zu erniedrigen und zu foltern.
Am Ende verzieh Richard Denna, was sie ihm angetan hatte. Denna, die wußte, daß er sie töten würde, um fliehen zu können, vermachte ihm ihren Strafer mit der Bitte, sich stets daran zu erinnern, daß sie im Leben nicht immer nur eine Mord-Sith gewesen war. Sie bat ihn, ihren letzten Atemzug mit ihr zu teilen. Durch Denna hatte Richard gelernt, diese Frauen zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen, weswegen er als einziger je den Mord-Sith hatte entkommen können.
Richard war überrascht, daß Kahlan bereits ›nachgerechnet‹ hatte. Er hatte nicht erwartet, daß sie an ihm zweifeln würde, doch da hatte er sich getäuscht. Sie schien ihm seine Gedanken an den Augen abzulesen.
»Man tut das einfach, ohne nachzudenken«, meinte sie leise. »In Ordnung? Bitte, Richard, sag mir, was hier gespielt wird.«
»Du bist die Konfessor. Du weißt, wie unterschiedlich die Übereinkünfte sein können, durch die bei den verschiedenen Völkern die Ehe geregelt wird. Außer dir haben alle Konfessoren ihre Gefährten stets aus ganz eigenen Gründen erwählt – Gründen, die nichts mit Liebe zu tun hatten – und sie anschließend vor der Hochzeit mit ihrer Kraft überwältigt. Der Mann hatte keinerlei Einfluß darauf.«
Der Mann, den eine Konfessor sich zum Gemahl aussuchte, wurde fast ausschließlich wegen seines Wertes als Zuchtvieh ausgewählt. Da sie den Erwählten gegen seinen Willen mit ihrer Kraft zerstören würde, stand eine Liebesheirat für eine Konfessor von vornherein außer Frage. Eine Konfessor erwählte einen Mann aufgrund der Eigenschaften, die dieser an die gemeinsame Tochter weitergeben würde.
»In meiner Heimat«, fuhr Richard fort, »wurden die Ehepartner der Kinder häufig von den Eltern ausgewählt. Gewöhnlich kam ein Vater eines schönen Tages dann zu seinem Kind und meinte: ›Dies wird dein Ehemann werden‹ oder ›Dies wird deine Ehefrau werden.‹ Andere Völker, andere Sitten und Gesetze.«
Kahlan warf Du Chaillu einen verstohlenen Blick zu. Zweimal hielt ihr Blick dabei inne, einmal auf Du Chaillus Gesicht, das andere Mal auf ihrem Bauch.
Als Kahlan ihn wieder ansah, hatte ihr Blick eine unmenschliche Härte angenommen. »Dann erkläre mir ihre Gesetze.«
Richard glaubte nicht, daß Kahlan merkte, wie sie den dunklen Stein an der feinen, goldenen Kette befingerte, den Shota ihr zum Geschenk gemacht hatte.
»Dies ist mein Geschenk an Euch beide. Ich tue dies aus Liebe zu Euch, und für niemanden sonst. Solange Ihr ihn tragt, werdet Ihr keine Kinder gebären. Genießt Euer Zusammensein und Eure Liebe. Jetzt habt Ihr beide einander, so wie Ihr es Euch immer gewünscht habt.
Vergeßt nie meine Worte – nehmt es niemals ab, wenn Ihr zusammen seid. Ich werde nicht zulassen, daß ein aus dieser Vereinigung hervorgegangenes männliches Kind überlebt. Das ist nicht als Drohung gemeint, sondern als Versprechen. Mißachtet Ihr meine Bitte, bekommt Ihr die Folgen meines Versprechens zu spüren.«
Anschließend hatte die Hexe Richard in die Augen geblickt und gesagt: »Besser, Ihr bekämpft den Hüter der Unterwelt als mich.«
Shotas reich verzierter Thron war mit der Haut eines erfahrenen Zauberers überzogen, der sich ihr in den Weg gestellt hatte. Richard wußte wenig über sein Geburtsrecht der Gabe. Er glaubte nicht unbedingt Shotas Behauptung, ihr Kind würde ein Satan werden, den man auf die Welt losließ, fürs erste jedoch hatten Kahlan und er beschlossen, die Warnung der Hexe ernst zu nehmen; etwas anderes blieb ihnen kaum übrig.
Kahlans Finger auf seiner Wange bewogen ihn, sie anzusehen, und erinnerten ihn daran, daß sie noch immer eine Antwort verlangte.
Richard war bemüht, seine Worte zu mäßigen. »Du Chaillu stammt aus der Alten Welt, von der anderen Seite des Tales der Verlorenen. Ich half ihr, als Schwester Verna mich in die Alte Welt hinüberbrachte.
Ein anderes Volk, die Majendie, hatte Du Chaillu gefangengenommen und wollte sie opfern. Sie wurde monatelang gefangengehalten, die Männer mißbrauchten sie zu ihrem Vergnügen.
Da ich die Gabe besitze, erwarteten die Majendie, ich würde ihnen als Gegenleistung für die Durchquerung ihres Landes bei dem Menschenopfer behilflich sein. Es ist Teil ihres Glaubens, daß ein mit der Gabe Gesegneter ihnen bei dem Opfer hilft. Stattdessen befreite ich Du Chaillu in der Hoffnung, sie würde uns, da wir das Land der Majendie nicht mehr durchqueren konnten, durch die unwegsamen Sümpfe führen.«
»Ich stellte Männer zur Verfügung, die Richard und die Hexe sicher durch die Sümpfe zu dem großen, steinernen Hexenhaus brachten«, sagte Du Chaillu, als würde das irgend etwas erhellen.
Kahlan machte ein verständnisloses Gesicht, als sie die Erklärung hörte. »Hexe? Was für eine Hexe?«
»Sie meint Schwester Verna und den Palast der Propheten«, erläuterte Richard. »Sie hat Schwester Verna und mich nicht etwa deswegen geführt, weil ich Du Chaillu befreit, sondern weil ich eine uralte Prophezeiung erfüllt hatte.«
Du Chaillu bezog an Richards Seite Stellung, als sei dies ihr gutes Recht. »Wie es in dem alten Gesetz steht, kam Richard zu uns, tanzte mit den Seelen und bewies dadurch, daß er der Caharin und damit mein Gemahl ist.«
Fast konnte Richard sehen, wie sich Kahlans Nackenhaare sträubten. »Was soll das heißen?«
Richard öffnete nach Worten suchend den Mund. Du Chaillu reckte ihr Kinn vor und antwortete an seiner Statt.
»Ich bin die Seelenfrau der Baka Tau Mana, gleichzeitig bin ich die Hüterin unserer Gesetze. In der Verkündigung heißt es, der Caharin werde seine Ankunft verkünden, indem er mit den Seelen tanzt und das Blut von dreißig Baka Ban Mana vergießt, ein Kunststück, das niemand außer dem Erwählten zu vollbringen vermag, und auch dann nur mit Hilfe der Seelen.
Es heißt, wenn dies geschieht, würden wir kein freies Volk mehr sein, sondern wären seinem Willen unterworfen. Wir unterliegen seiner Herrschaft.
Dafür haben unsere Meister der Klinge ihr ganzes Leben lang geübt. Sie hatten die Ehre, den Caharin auszubilden, damit er die Seele der Finsternis bekämpfen kann. Das war der Beweis, daß Richard der Caharin ist, der gekommen war, uns wieder in unser Land zu führen, so wie es die Altvorderen versprochen haben.«
Eine sanfte Brise fuhr in Du Chaillus dichtes Haar. Ihre dunklen Augen ließen keinerlei innere Erregung erkennen, eine solche verriet jedoch ihre kaum merklich gebrochene Stimme. »Er hat die dreißig getötet, wie in dem alten Gesetz festgeschrieben. Die dreißig sind für unser Volk von nun an Legende.«
»Ich hatte keine andere Wahl.« Richard brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. »Sie hätten mich sonst getötet. Ich bat sie aufzuhören. Ich flehte Du Chaillu an, sie zurückzuhalten. Ich habe ihr nicht das Leben gerettet, nur um am Ende diese Menschen töten zu müssen. Letztendlich war es Notwehr.«
Kahlan bedachte Du Chaillu mit einem langen, harten Blick, bevor sie sich wieder an Richard wandte. »Sie wurde gefangengehalten, und du hast ihr das Leben gerettet und sie zu ihrem Volk zurückgebracht.« Richard nickte. »Und dann hat sie ihr Volk aufgefordert, es solle versuchen, dich zu töten? Das war ihr Dank?«
»Es steckte noch mehr dahinter.« Es behagte Richard gar nicht, das Vorgehen dieser Menschen verteidigen zu müssen – ein Vorgehen, das zu einem gewaltigen Blutvergießen geführt hatte. Er hatte den Übelkeit erregenden Gestank noch immer in der Nase, doch ungeachtet der schmerzlichen Erinnerungen versuchte Richard es zu erklären, in Worten, die Kahlan verstehen würde. »Was sie getan hatten, war eine Art Gottesurteil, eine Prüfung auf Leben und Tod. Ich war dadurch gezwungen, zu lernen, wie man die Magie des Schwertes auf eine Weise einsetzt, die ich zuvor niemals für möglich gehalten hätte. Um zu überleben, mußte ich mich der Erfahrungen jener Menschen bedienen, die das Schwert vor mir benutzt hatten.«
»Was soll das heißen? Wie konntest du dich ihrer Erfahrungen bedienen?«
»Die Magie des Schwertes der Wahrheit bewahrt die Essenz des Kampfeswissens all jener auf, die das Schwert zuvor in Händen gehalten haben – sowohl der Guten als auch der Bösen. Ich kam dahinter, wie man dieses Können für sich nutzt, indem ich die Seelen des Schwertes in Gedanken zu mir sprechen ließ. Allerdings war in der Hitze des Gefechtes nicht immer Zeit, das Wissen in Form von Worten aufzunehmen.
Manchmal erschien mir daher die Information, die ich benötigte, in Form von Bildern – von Symbolen. Es entstand eine entscheidende Verbindung, die mir verstehen half, warum man mir in den Prophezeiungen den Namen fuer grissa ost drauka gegeben hatte: Bringer des Todes.«
Richard berührte das Amulett auf seiner Brust. Der Rubin verkörperte einen Blutstropfen. Die ihn umgebenden Linien waren eine symbolische Darstellung des Tanzes. Für einen Kriegszauberer barg dies eine Bedeutung.
»Dies«, meinte Richard leise, »dies ist der Tanz mit den Toten. Doch das habe ich damals erst verstanden, bei Du Chaillu und ihren dreißig Kämpfern.
In den Prophezeiungen heißt es, ich würde sie eines Tages aufsuchen. Die Prophezeiungen und ihre alten Gesetze besagen, sie müßten mir beibringen, mit den Seelen derer zu tanzen, die das Schwert früher bereits in Händen gehalten hatten. Ich bezweifle, ob sie voll und ganz begriffen haben, wie ihre Prüfung dies bewirken sollte, sie wußten nur, daß sie ihrer Pflicht nachkommen mußten und daß ich, vorausgesetzt ich wäre der Richtige, überleben würde.
Ich brauchte dieses Wissen, um Darken Rahl Widerstand leisten und ihn in die Unterwelt zurückjagen zu können. Erinnerst du dich noch, wie ich ihn während der Versammlung bei den Schlammenschen anrief, wie er in diese Welt entkam und mich die Schwestern anschließend gefangennahmen?«
»Selbstverständlich«, meinte Kahlan. »Sie zwangen dich also zu einem Kampf auf Leben und Tod gegen eine ungeheuer große Übermacht, damit du deine innere Kraft, deine Gabe, unter Beweis stellen konntest. Und infolgedessen hast du dreißig ihrer Meister der Klinge getötet?«
»Genau so war es. Damit hatten sie die Prophezeiung erfüllt.« Er wechselte einen langen Blick mit seiner – zumindest in seinem Herzen – einzig wahren Gemahlin. »Du weißt, wie grausam Prophezeiungen sein können.«
Endlich wandte Kahlan den Blick ab und nickte, gefangen in ihren eigenen schmerzhaften Erinnerungen. Prophezeiungen hatten ihnen viel Ungemach bereitet und sie vor zahllose schwere Prüfungen gestellt. Eine dieser Prüfungen war seine zweite Frau, Nadine, gewesen, die ihm die Prophezeiungen aufgezwungen hatten.
Du Chaillu reckte das Kinn in die Höhe. »Fünf von denen, die der Caharin tötete, waren meine Ehemänner und die Väter meiner Kinder.«
»Ihre fünf Ehemänner … Gütige Seelen.«
Richard feuerte einen Blick auf Du Chaillu. »Das war nicht gerade hilfreich.«
»Soll das heißen, die Tötung ihrer Ehemänner zwingt dich aufgrund ihres Gesetzes dazu, ihr Gemahl zu werden?«
»Nein. Das geschah nicht, weil ich ihre fünf Ehemänner getötet hatte, sondern weil der Sieg über die dreißig Kämpfer bewies, daß ich ihr Caharin war. Du Chaillu ist ihre Seelenfrau, und den alten Gesetzen zufolge soll die Seelenfrau Gemahlin des Caharin sein. Ich hätte das früher bedenken müssen.«
»Offensichtlich«, fauchte Kahlan ihn an.
»Versteh doch, ich weiß, wie sich das anhören muß – ich weiß, es klingt alles vollkommen unlogisch…«
»Nein, schon gut. Ich verstehe.« Ihre frostige Miene ging in einen Ausdruck zorniger Verletztheit über. »Also hast du den Ehrenmann gespielt und sie geheiratet. Natürlich. Erscheint mir vollkommen logisch.« Sie beugte sich näher. »Und anschließend warst du so beschäftigt, daß du ganz vergessen hast, mir vor unserer Hochzeit davon zu erzählen. Natürlich. Ich verstehe schon. Wer hätte anders gehandelt? Schließlich kann man nicht verlangen, daß ein Mann sich all der Ehefrauen erinnert, die er überall zurückläßt.« Sie verschränkte die Arme und wandte sich ab. »Wie konntest du nur, Richard…«
»Nein! So war es nicht. Ich habe niemals meine Einwilligung gegeben. Niemals. Es fand keine Trauungszeremonie statt. Niemand hat irgendwelche Formeln gesprochen. Ich habe mich zu keiner Zeit erhoben, um einen Schwur zu leisten. Verstehst du denn nicht? Wir wurden nicht getraut! Und danach ist so viel passiert. Tut mir leid, daß ich vergessen habe, dir davon zu erzählen, aber ich kam gar nicht auf die Idee, weil ich es damals als unsinnigen Glauben eines vereinzelten Volkes abgetan habe. Damals war mir das alles nicht wichtig. Sie glaubt ganz einfach, weil ich diese Männer in Notwehr getötet habe, macht mich das zu ihrem Gemahl.«
»Tut es auch«, warf Du Chaillu ein.
Kahlan sah kurz zu Du Chaillu hinüber, während sie seine Worte kühl einer genauen Betrachtung unterzog. »Dann hast du also wirklich nie im eigentlichen Sinn des Wortes eingewilligt, sie zu ehelichen?«
Richard warf die Hände in die Höhe. »Das versuche ich dir doch die ganz Zeit zu erklären. Es handelt sich schlicht um einen Glauben der Baka Ban Mana.«
»Baka Tau Mana«, verbesserte Du Chaillu.
Richard achtete nicht auf sie, sondern beugte sich ganz nahe zu Kahlan. »Tut mir leid, aber könnten wir vielleicht später darüber reden? Möglicherweise haben wir es mit einem ernsten Problem zu tun.« Sie zog eine Braue hoch. Er verbesserte sich. »Mit einem weiteren ernsthaften Problem.«
Sie bedachte ihn mit einem nachsichtigen Stirnrunzeln. Er wandte sich ab, zupfte einen Grashalm ab und dachte darüber nach, wie wahrscheinlich ein Problem war, das größer war als Kahlans Zorn.
»Du bist in Magie bewandert. Ich will damit sagen, du bist in Aydindril bei dem Zauberer aufgewachsen, der dich ausgebildet hat, und du hast Bücher in der Burg der Zauberer studiert. Du bist die Mutter Konfessor.«
»Ich verfüge nicht im üblichen Sinne über die Gabe«, wandte Kahlan ein, »nicht so wie ein Zauberer oder eine Hexenmeisterin – meine Kraft ist anderer Natur –, aber du hast Recht, ich kenne mich mit Magie aus. Als Konfessor mußte ich in vielen der unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Magie unterrichtet werden.«
»Dann beantworte mir folgende Frage, angenommen, die Magie verlangt nach einer bestimmten Bedingung. Kann diese Bedingung von einer nicht eindeutig definierten Regel erfüllt werden, ohne daß das darin geforderte Ritual tatsächlich stattfindet?«
»Ja, natürlich. Man nennt das den Spiegeleffekt.«
»Den Spiegeleffekt. Und wie funktioniert das?«
Kahlan wickelte eine lange, nasse Locke um ihren Finger und nahm sich der Frage an. »Angenommen, ein Zimmer hat nur ein einziges Fenster, so daß das Sonnenlicht niemals in eine bestimmte Ecke fällt. Kann man das Sonnenlicht dazu bewegen, in eine Ecke zu leuchten, in die es normalerweise nicht fällt?«
»Da es Spiegeleffekt genannt wird, schätze ich, man benutzt dazu einen Spiegel.«
»Richtig.« Kahlan ließ die Locke los und hob einen Finger. »Obwohl das Sonnenlicht selbst nie in die Ecke hineinscheinen könnte, kann man es dennoch mit Hilfe eines Spiegels an eine Stelle lenken, an die es normalerweise nicht fiele. Magie funktioniert manchmal ganz ähnlich. Selbstverständlich ist Magie erheblich komplizierter, aber so läßt es sich am einfachsten erklären.
Und sei es nur aufgrund eines uralten Gesetzes, das eine längst vergessene Bedingung erfüllt – der Bann kann diese Bedingung dahingehend ablenken, daß sie die verborgenen Voraussetzungen der betreffenden Magie erfüllt. Ganz ähnlich dem Wasser, das sich stets allein seinen Pegel sucht, so sucht auch ein Bann seine Lösung selbst – innerhalb der Gesetze seiner Natur.«
»Das hatte ich befürchtet«, brummte Richard.
Er tippte sich mit dem Grashalm gegen die Zähne und heftete den Blick auf die Blitze, die unheilverkündend in den weit entfernten Wolken zuckten.
»Die betreffende Magie stammt aus der Zeit der uralten Verfügung über den Caharin«, sagte er endlich. »Darin liegt das Problem.«
Kahlan packte seinen Arm und drehte ihn zu sich um. »Aber Zedd meinte…«
»Er hat uns angelogen. Ich bin darauf reingefallen.« Verzweifelt schleuderte Richard den Grashalm von sich. Zedd hatte das Erste Gesetz der Magie angewandt – die Menschen glaubten eine Lüge, entweder weil sie sie für wahr hielten oder weil sie fürchteten, sie könnte wahr sein – und hatte sie in die Irre geführt.
»Ich wollte ihm glauben«, brummte Richard vor sich hin. »Und er hat mich reingelegt.«
»Worüber sprecht Ihr?« wollte Cara wissen.
Richard seufzte schwer, niedergeschlagen. Er war in mehr als einer Hinsicht unvorsichtig gewesen. »Zedd. Die ganze Geschichte über den Lauer war erfunden.«
Cara schnitt eine Grimasse. »Warum hätte er das tun sollen?«
»Weil er uns aus irgendeinem Grund darüber im Unklaren lassen wollte, daß die in den Grußformeln genannten Chimären auf freiem Fuße sind.«
Er konnte nicht fassen, daß er so töricht gewesen war, Du Chaillu völlig zu vergessen. Kahlan war zurecht verärgert. Bei genauem Hinsehen war seine Erklärung erbärmlich unzureichend. Und er war angeblich Lord Rahl? An den die Menschen glaubten, dem sie folgen sollten?
Kahlan rieb mit den Fingerspitzen über die Falten auf ihrer Stirn. »Gehen wir der Sache auf den Grund, Richard. Es kann doch nicht sein…«
»Zedd meinte, du müßtest meine dritte Frau sein, um die Chimären in diese Welt zu rufen.«
»Unter anderem«, beharrte sie. »Er sagte, unter anderem.«
Richard hob erschöpft einen Finger. »Du Chaillu.« Er hob einen zweiten. »Nadine.« Einen dritten. »Du. Du bist meine dritte Frau. Wenigstens im Prinzip.«
»Ich sehe das vielleicht nicht so, die Zauberer aber, die diesen Bann ausgesprochen haben, dürfte es kaum interessieren, wie ich die Sache betrachten möchte. Sie haben eine Magie bewirkt, die durch das Auslösen einer vorgeschriebenen Folge von Bedingungen in Gang gesetzt worden sein dürfte.«
Kahlan gab einen langmütigen, schweren Seufzer von sich. »Einen wichtigen Umstand hast du außer acht gelassen. Als ich die drei Grußformeln aufsagte, waren wir noch gar nicht verheiratet. Ich war noch nicht deine zweite, erst recht nicht deine dritte Frau.«
»Als ich gezwungen war, Nadine zu heiraten, um mir Einlaß in den Tempel der Vier Winde zu verschaffen, und man dich gleichzeitig zwang, Drefan zu heiraten, haben wir uns im Herzen einander versprochen. Aufgrund dieses Gelübdes wurden wir in diesem Augenblick, an diesem Ort getraut – jedenfalls, soweit es die Seelen anbelangt. Ann hat selbst bestätigt, daß es sich genauso verhalten hat.«
»Du hast es gerade selbst gesagt, manchmal bedient sich Magie solch zweideutiger Voraussetzungen. Die formalen Voraussetzungen wurden, ganz unabhängig von unserem Empfinden, erfüllt – die Voraussetzungen einer uralten Magie, heraufbeschworen von Zauberern zur Zeit des Großen Krieges, als die Prophezeiung über den Caharin und das alte Gesetz schriftlich festgehalten wurden.«
»Aber…«
Richard fuchtelte energisch mit den Händen. »Es tut mir leid, Kahlan, daß ich törichterweise nicht nachgedacht habe, aber wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen – die in den Grußformeln genannten Chimären sind auf freiem Fuß.«