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Oben auf der Galerie stimmten Musiker ein Seemannslied an, während Zeremonienmeister lange blaue Banner in den Speisesaal hinab entrollten. Die Männerpaare, die die Banner festhielten, versetzten sie zum Rhythmus der Musik in eine wogende Bewegung, wodurch, als die auf die Banner gemalten Fischerboote über die blauen Stoffwellen zu tanzen begannen, der Effekt von Meereswellen entstand.

Während die persönlichen Diener des Herrschers seine Tafel versorgten, wirbelten Knappen in der Livree des Anwesens um die Ehrentafel des Ministers und schleppten silberne Tabletts mit dem farbenprächtig arrangierten Fischgang heran. Der Minister wählte Langustenbeine, Lachsfilet, gebratene Elritzen, Brassen sowie Aal in Safransoße aus, woraufhin der Knappe jedes Teil zwischen dem Minister und seiner Gattin plazierte, damit sie es bei Bedarf auf ihren gemeinsamen Vorlegeteller übernehmen konnten.

Minister Chanboor tunkte ein langes Stück Aal in die Safransoße und hielt es, über einen Finger drapiert, seiner Gattin hin. Liebevoll lächelnd nahm sie es mit den Spitzen ihrer langen Fingernägel von seinem Finger ab. Bevor sie es jedoch an ihre Lippen führte, legte sie es zunächst auf ihren Teller und wandte sich, als hätte eine plötzliche Neugier sie ergriffen, an Stein, um sich nach den Speisen seiner Heimat zu erkundigen. Dalton weilte erst seit kurzem auf dem Anwesen, hatte aber bereits herausgefunden, daß Lady Chanboor Aal mehr als alles andere verabscheute.

Als ihnen einer der Knappen eine Platte mit Panzerkrebsen hinhielt, gab Teresa Dalton mit einem erwartungsvollen Heben der Augenbrauen zu verstehen, sie wolle gern davon probieren. Geschickt brach der Knappe den Panzer auf, entfernte die Körpervene, löste das Fleisch heraus und füllte die darunterliegende Schale, wie von Dalton gewünscht, mit ungesüßtem Zwieback und Butter. Mit seinem Messer nahm er eine Scheibe Schildkrötenfleisch von einer Platte, die ihm ein Knappe mit tief gesenktem Kopf zwischen seinen ausgestreckten Armen reichte. Wie alle, machte auch der Knappe einen Knicks, bevor er sich tänzelnden Schritts entfernte.

Teresa rümpfte die Nase und sagte, sie wolle keinen Aal. Er selber nahm sich ein Stück, doch nur, weil der Minister ihn mit seinem Nicken und Grinsen dazu aufforderte. Anschließend beugte der Minister sich zu ihm und meinte leise: »Aal ist gut für den Aal, wenn Ihr mir folgen könnt.«

Dalton lächelte einfach und tat, als sei er für den Hinweis dankbar. Er war mit den Gedanken bei seiner Arbeit und der bevorstehenden Aufgabe, zudem beschäftigte ihn die Sorge um seinen ›Aal‹ nicht sonderlich.

Teresa kostete von ihrem mit Ingwer gewürzten Karpfen, während Dalton den gebackenen Hering mit Zucker probierte und dabei die hakenischen Knappen beobachtete, die sich wie eine einfallende Armee auf die Tafeln der Gäste stürzten. Sie trugen Servierteller mit gebratenem Hecht, Barsch und Forelle herein, mit geschmortem Neunauge, Schellfisch und Seehecht, mit geröstetem Flußbarsch, Lachs, Robbe und Stör, mit Krabben und Langusten sowie Schnecken auf glasiertem Rogen. Es folgten Terrinen mit Fischsuppe aus gewürzten Kammuscheln sowie Mandelfischeintopf, dazu farbenprächtige Soßen jeder nur erdenklichen Art. Andere Speisen wurden in einfallsreichen Präsentationen mit Soßen und in überladen wirkenden Zusammenstellungen aus einer Vielzahl von Zutaten gereicht, angefangen bei Schildkröte mit Erbsen in Zwiebelweinsoße, über Störrogen mit Knurrhahnflanken, bis hin zu einer Pastete aus Schollen und jungem Kabeljau in grüner Soße.

Der Überfluß an Speisen, die in so kunstvoll durchdachter Fülle gereicht wurden, diente nicht ausschließlich dem politischen Spektakel, in dem sich Macht und Reichtum des Ministers für Kultur offenbarte, sondern sollte auch – um den Minister vor Vorwürfen prunkvoller Ausschweifung zu schützen – eine tiefgreifende religiöse Bedeutung vermitteln. Im Grunde war dieser Überfluß ein Beweis für die Erhabenheit des Schöpfers und trotz der scheinbaren Opulenz nichts weiter als eine winzige Kostprobe seiner grenzenlosen Mildtätigkeit.

Man hatte nicht zu diesem Fest geladen, um einer Gruppe von Personen ein Vergnügen zu bereiten, sondern einen bestimmten Personenkreis herbeizitiert, um sich ihrer Anwesenheit bei diesem Fest zu versichern – ein feiner, aber entscheidender Unterschied. Daß dieses Fest nicht aus einem gesellschaftlichen Anlaß – sagen wir wegen einer Hochzeit oder zur Feier des Jahrestages irgendeines militärischen Sieges – abgehalten wurde, betonte noch seinen religiösen Charakter. Die Anwesenheit des Herrschers als Stellvertreter des Schöpfers in der Welt des Lebendigen weihte lediglich die religiösen Aspekte des Festes.

Wenn die Gäste vom Reichtum, von der Macht und der Vornehmheit des Ministers und seiner Gattin beeindruckt waren, so war dies ebenso zufällig wie zwangsläufig. Ganz zufällig bemerkte Dalton eine große Zahl von Leuten, die zwangsläufig beeindruckt waren.

Der Saal hallte wider von den immer wieder von glockenhellem Lachen unterbrochenen Gesprächen, während die Gäste am Wein nippten, lustlos von Speisen aller Art kosteten und mit verschiedenen Fingern eine Vielfalt von Soßen probierten. Die Harfenspielerin hatte die Unterhaltung der Gäste, während diese speisten, wieder aufgenommen. Der Minister aß Aal, während er sich mit seiner Frau, Stein und den beiden reichen Hintermännern am anderen Ende der Tafel unterhielt.

Dalton wischte sich die Lippen ab und beschloß, in die Bresche zu stoßen, die sich durch die entspannte Stimmung bot. Er nippte ein letztes Mal an seinem Glas, dann beugte er sich hinüber zu seiner Frau. »Hast du bei deinen Gesprächen vorhin etwas herausgefunden?«

Teresa zerteilte mit dem Messer ein Stück gebratenen Hechts, nahm ihr Stück mit den Fingern auf und tunkte es in rote Soße. Sie wußte, er sprach von Claudine. »Nichts Bestimmtes. Ich nehme aber an, das Lamm ist nicht in seinem Pferch eingesperrt.«

Teresa wußte weder, um was es bei der Sache ging, noch, daß Dalton die beiden hakenischen Jungen angeheuert hatte, um Claudine eine Lektion zu erteilen, aber sie begriff, daß Claudine vermutlich Schwierigkeiten wegen ihres Stelldicheins mit dem Minister machte. Sie sprachen zwar niemals über Einzelheiten, trotzdem war Teresa sich darüber im klaren, daß sie nicht an der Ehrentafel saß, weil Dalton das Gesetz vorwärts und rückwärts beherrschte.

Teresa senkte die Stimme. »Während ich mich mit ihr unterhielt, schien sie sich sehr für Direktor Linscott zu interessieren – du weißt schon, sie beobachtete ihn und versuchte gleichzeitig so zu tun, als tue sie es nicht, außerdem sah sie sich ständig um, weil sie sehen wollte, ob jemand mitbekam, daß sie ihn anstarrte.«

Auf ihre Beobachtungen war stets Verlaß, nie waren sie mit Vermutungen ausgeschmückt, die nicht als solche zu erkennen waren.

»Warum, glaubst du, war sie vorhin so unverschämt, den anderen Frauen zu erzählen, der Minister habe sie mit Gewalt genommen?«

»Ich denke, daß sie den anderen von dem Minister erzählt hat, sollte ihrem eigenen Schutz dienen. Vermutlich ist sie zu dem Schluß gekommen, wenn die Menschen bereits davon wissen, läuft sie nicht mehr Gefahr, zum Schweigen gebracht zu werden, damit niemand davon erfährt. Aus irgendeinem Grund jedoch wurde sie plötzlich vorsichtig. Aber wie gesagt, sie hat sich sehr für den Direktor interessiert und gleichzeitig so getan, als wäre dem nicht so.«

Teresa überließ es ihm, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Dalton beugte sich über sie und erhob sich. »Vielen Dank, mein Liebling. Wenn du mich kurz entschuldigen würdest, ich muß mich um Geschäftliches kümmern.«

Sie ergriff seine Hand. »Vergiß nicht, du hast versprochen, mich dem Herrscher vorzustellen.«

Dalton küßte sie zart auf die Wange, bevor er mit dem Minister einen flüchtigen Blick wechselte. Teresas Bemerkung bestätigte ihn nur in dem Glauben an die Klugheit seines Plans. Es stand viel auf dem Spiel. Direktor Linscott konnte überaus aufdringliche Fragen stellen. Dalton war einigermaßen sicher, daß die von den beiden Burschen überbrachte Warnung Claudine zum Schweigen gebracht hatte, wenn aber nicht, würde sie dies der Fähigkeit berauben, weiter Zwietracht zu säen. Er nickte leicht in Bertrands Richtung.

Dalton schlenderte durch den Saal, blieb an verschiedenen Tischen stehen, beugte sich über sie, begrüßte Leute, die er kannte, schnappte dort einen Scherz, hier ein Gerücht auf, hörte sich das eine oder andere Angebot an und versprach, mit einigen zusammenzukommen. Ein jeder hielt ihn für einen Beauftragten des Ministers, der die Ehrentafel verlassen hatte, um eine Runde um die Tische zu machen und dafür zu sorgen, daß jeder sein Vergnügen hatte.

Als er schließlich an seinem eigentlichen Bestimmungsort anlangte, zeigte er ein herzliches Lächeln. »Ich hoffe sehr, Claudine, es geht Euch wieder besser. Teresa schlug vor, ich solle mich nach Euch erkundigen, ob Ihr vielleicht etwas braucht – wo Edwin doch nicht hier sein kann.«

Sie ließ ihn eine einigermaßen glaubwürdige Nachahmung eines aufrichtigen Lächelns sehen. »Ihre Gattin ist überaus freundlich, Meister Campbell. Es geht mir gut, danke. Das Essen und die Gesellschaft haben mich wieder aufgerichtet. Bitte richtet Ihr aus, ich fühle mich schon sehr viel besser.«

»Es freut mich, das zu hören.« Dalton beugte sich dicht an ihr Ohr. »Ich hatte die Absicht, Edwin – und Euch – ein Angebot zu unterbreiten, es widerstrebt mir jedoch, Euch darum zu bitten, nicht nur, weil Edwin derzeit nicht in der Stadt weilt, sondern auch wegen Eures unglücklichen Sturzes. Ich möchte Euch keine Arbeit zumuten, solange Ihr dieser Angelegenheit nicht gewachsen seid, sucht mich also bitte auf, sobald Ihr wieder bei entsprechender Verfassung seid.«

Sie drehte sich und sah ihn finster an. »Danke für Euer Interesse, aber es geht mir gut. Wenn es um ein Geschäft geht, das Edwin betrifft, so würde er wollen, daß ich es mir anhöre. Wir arbeiten eng zusammen und haben in geschäftlichen Dingen keinerlei Geheimnisse voreinander. Wie Ihr sehr wohl wißt, Meister Campbell.«

Dalton wußte es nicht nur, er zählte sogar darauf. Er ging leicht in die Hocke, während sie ihren Stuhl vom Tisch abrückte, um sich aus der Gesprächsrunde am Tisch zu entfernen.

»Bitte verzeiht mir meine Vermutung. Nun, Ihr müßt wissen«, begann er, »der Minister empfindet tiefes Mitgefühl für jene Männer, die nicht imstande sind, ihre Familie auf andere Weise als durch Betteln zu ernähren. Selbst wenn es ihnen gelingt, Lebensmittel zu erbetteln, fehlt es ihren Familien nach wie vor an Kleidung, einer angemessenen Unterkunft und anderen Notwendigkeiten. Trotz der Barmherzigkeit freundlicher Anderier gehen viele Kinder mit einem quälenden Hungergefühl im Bauch zu Bett. Sowohl Hakenier als auch Anderier erleiden dieses Schicksal, und der Minister empfindet Mitleid für beide, denn er ist für sie alle verantwortlich.

Der Minister hat sich fieberhaft bemüht und endlich die letzten Feinheiten eines neuen Gesetzes ausgearbeitet, um zumindest einer Reihe von Menschen Arbeit zu geben, die ansonsten vollends ohne Hoffnung wären.«

»Das ist … das ist sehr gütig von ihm«, stammelte sie. »Bertrand Chanboor ist ein rechtschaffener Mann. Wir können von Glück reden, ihn als Minister für Kultur zu haben.«

Dalton wischte sich mit der Hand über den Mund, während sie seinem Blick auswich. »Nun, der Punkt ist folgender, des öfteren erwähnt der Minister, wie sehr er Edwin schätzt – für all die ungerühmte Arbeit, die Edwin leistet –, daher schlug ich dem Minister vor, es wäre an der Zeit, unserer Hochachtung für Edwins aufopferungsvolle Arbeit und Hingabe auf irgendeine Weise Ausdruck zu verleihen.

Der Minister gab mir inbrünstig recht und sprang sogleich auf den Vorschlag an, im Titel des neuen Gesetzes zu vermerken, daß der Abgeordnete Edwin Winthrop dieses Gesetz eingebracht habe und selbst dafür verantwortlich zeichne. Der Minister möchte darüber hinaus, daß es – Eurem Gemahl und, wegen der vielen Arbeit, die Ihr leistet, natürlich auch Euch zu Ehren – das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Beschäftigungsverhältnisse‹ genannt wird. Jeder weiß, wie weit Ihr an den Gesetzen beteiligt seid, die Edwin entwirft.«

Mittlerweile sah Claudine ihn wieder an; sie schlug sich die Hand vor die Brust.

»Aber Meister Campbell, das ist überaus großzügig, sowohl von Euch als auch von Seiten des Ministers. Ich bin völlig überrascht, und Edwin wäre es ohne Zweifel auch. Wir werden das Gesetz ganz bestimmt so schnell wie möglich prüfen, damit es möglichst umgehend in Kraft treten kann.«

Dalton verzog das Gesicht. »Nun, die Sache ist die, soeben informierte mich der Minister, er sei geradezu versessen darauf, es noch heute abend anzukündigen. Ich hatte Euch ursprünglich einen Entwurf des Gesetzes mitbringen wollen, damit Ihr und Edwin es vor der Bekanntgabe prüfen könnt, doch da jetzt sämtliche Direktoren anwesend sind, hat der Minister beschlossen, daß er nach bestem Wissen und Gewissen handeln muß – er kann es nicht länger ertragen, mit ansehen zu müssen, wie diese Männer noch einen weiteren Tag ohne Arbeit sind. Sie haben schließlich ihre Familien zu ernähren.«

Claudine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nun, ja, ich denke … ich verstehe, aber eigentlich…«

»Gut. Sehr gut. Das ist wirklich überaus zuvorkommend von Euch.«

»Aber ich sollte wenigstens einen Blick darauf werfen. Ich muß es mir wirklich ansehen. Edwin würde wollen…«

»Ja, selbstverständlich. Ich habe vollstes Verständnis und versichere Euch, Ihr werdet auf der Stelle eine Kopie erhalten – gleich als erstes morgen früh.«

»Aber was ich sagen wollte…«

»In Anbetracht der Tatsache, daß alle anwesend sind, ist der Minister fest entschlossen, es noch heute abend anzukündigen. Der Minister möchte weder das Inkrafttreten hinauszögern noch von seinem Wunsch Abstand nehmen müssen, einen solchen Markstein der Gesetzgebung mit dem Namen Winthrop zu versehen. Zudem hoffte der Minister so sehr darauf, der Herrscher würde, da er nun mal heute abend hier ist – wir alle wissen doch, wie selten seine Besuche sind –, von dem ›Winthrop-Gesetz für gerechte Beschäftigungsverhältnisse‹ erfahren, das eigens entworfen wurde, um Menschen zu helfen, die anderweitig keine Hoffnung haben. Der Herrscher kennt Edwin und wäre ohne Zweifel überaus erfreut.«

Claudine wagte einen verstohlenen Blick auf den Herrscher. Sie benetzte ihre Lippen. »Aber…«

»Wollt Ihr, daß ich den Minister bitte, das Gesetz aufzuschieben? Bitte bedenkt dabei, daß dem Herrscher dadurch die Verkündigung entginge, auch wäre der Minister sehr enttäuscht, die Gelegenheit verstreichen und jene Kinder im Stich lassen zu müssen, die darauf angewiesen sind, daß er ihnen ein besseres Leben ermöglicht. Ihr versteht doch sicher, daß dies im Grunde nur den Kindern zuliebe geschieht.«

»Gewiß. Aber um…«

»Claudine«, fiel Dalton ihr ins Wort und ergriff mit beiden Händen ihre Hand, »Ihr habt keine Kinder, ich sehe daher ein, wie schwierig es für Euch sein muß, Euch in Eltern hineinzufühlen, die verzweifelt ihre Kleinen zu ernähren versuchen, die verzweifelt nach Arbeit suchen, wo es keine gibt, aber bemüht Euch doch wenigstens zu begreifen, wie verunsichert sie sein müssen.«

Sie öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Er fuhr fort und ließ ihr einfach keine Zeit, ihren Einwand zu formulieren.

»Versucht Euch vorzustellen, was es bedeutet, wenn man als Mutter oder Vater Tag für Tag warten muß, sei es auf einen Grund zur Hoffnung, sei es darauf, daß irgendwas geschieht, damit man Arbeit findet und seinen Kindern zu essen geben kann. Könnt Ihr nicht helfen? Könnt Ihr nicht versuchen zu verstehen, wie sich eine junge Mutter dabei fühlen muß?«

Ihr Gesicht war aschfahl geworden.

»Selbstverständlich«, meinte sie schließlich leise. »Ich verstehe das, wirklich. Ich möchte helfen, und ich bin mir sicher, Edwin wird erfreut sein, zu erfahren, daß man ihn zum Schirmherrn dieses Gesetzes ernannt hat…«

Doch bevor sie weitersprechen konnte, hatte Dalton sich bereits erhoben. »Ich danke Euch, Claudine.« Er ergriff abermals ihre Hand und küßte sie. »Der Minister wird überaus erfreut sein, von Eurer Unterstützung zu erfahren – genau wie all jene Männer, die jetzt Arbeit finden werden. Ihr habt ein gutes Werk für die Kinder getan. Ganz sicher blicken die Guten Seelen in diesem Augenblick lächelnd auf Euch herab.«

Dalton war gerade an die Ehrentafel zurückgekehrt, als die Knappen abermals die Runde machten und rasch eine Schildkrötenpastete in der Mitte eines jeden Tisches plazierten. Verwundert betrachteten die Gäste die Pasteten, deren Krusten gevierteilt, aber nicht ganz durchgeschnitten waren. Teresa beugte sich stirnrunzelnd vor und bestaunte die in der Mitte der Ehrentafel, genau vor dem Minister und seiner Gemahlin, abgestellte Pastete.

»Dalton«, flüsterte sie, »die Pastete hat sich von allein bewegt.«

Dalton verkniff sich ein Lächeln. »Du irrst dich bestimmt, Teresa. Eine Pastete kann sich nicht bewegen.«

»Aber ich bin ganz sicher…«

In diesem Augenblick brach die Kruste auseinander, und ein Teil von ihr wurde angehoben. Eine Schildkröte streckte den Kopf heraus und spähte den Minister an. Eine Kralle schloß sich um den Rand, und die Schildkröte zog sich heraus, gefolgt von einer zweiten. Sämtliche Gäste im Saal lachten überrascht, sie applaudierten und verfielen in staunendes Raunen, als eine Schildkröte nach der anderen aus den Pasteten zu klettern begannen.

Selbstverständlich waren die Schildkröten nicht bei lebendigem Leib in den Pasteten gebacken worden. Man hatte diese mit einer Füllung aus getrockneten Bohnen ausgebacken. Nachdem sich eine Kruste gebildet hatte, wurde ein Loch in den Boden geschnitten, um die Bohnen zu entnehmen und die Schildkröten hineinzusetzen. Daraufhin hatte man die Krusten eingeschnitten, damit sie leicht aufzubrechen waren und die Tiere auch tatsächlich entkommen konnten.

Die Schildkrötenpasteten waren als eine der Belustigungen des Festes ein riesiger Erfolg, alle waren von dem Spektakel hingerissen. Gelegentlich wurden Schildkröten, manchmal auch Vögel, eigens für den Zweck gezüchtet, bei einem Festessen zum Vergnügen und Erstaunen der Gäste aus Pasteten hervorzuspringen.

Während Knappen mit Holzeimern die Runde um die Tische machten, um die befreiten Schildkröten einzusammeln, rief Lady Chanboor den Kämmerer herbei und bat ihn, die vor dem nächsten Gang eingeplante Unterhaltungseinlage ausfallen zu lassen. Als sie sich erhob, wurde es still im Saal.

»Verehrte Gäste, dürfte ich um Eure Aufmerksamkeit bitten.« Hildemara sah sich nach beiden Seiten des Saales um und vergewisserte sich, daß aller Augen auf sie gerichtet waren. Ihr Plisseekleid schien ein kaltes, silbriges Licht zu verströmen. »Es gilt als höchste Berufung und Pflicht, seinen in Not geratenen Mitmenschen zu helfen. An diesem Abend werden wir hoffentlich dem Vorhaben, den Kindern Anderiths zu helfen, einen Schritt näher kommen. Es ist ein kühner Schritt, ein Schritt, der Mut erfordert. Glücklicherweise haben wir ein Vorbild für diesen Mut.

Es ist mir eine große Ehre, Euch den großartigsten Mann vorzustellen, den kennenzulernen mir je vergönnt war, einen Mann der Unbescholtenheit, einen Mann, der sich unermüdlich für sein Volk einsetzt, einen Mann, der nie die Bedürfnisse jener aus dem Blick verliert, die uns am meisten brauchen, einen Mann, dem an einer besseren Zukunft mehr gelegen ist als an allem anderen, meinen Gatten, den Minister für Kultur, Bertrand Chanboor.«

Hildemara zeigte ein gewinnendes Lächeln und wandte sich applaudierend ihrem Gatten zu. Im Saal brach donnernder Beifall und begeisterter Jubel aus.

Bertrand erhob sich strahlend und legte seiner Gemahlin einen Arm um die Hüfte. Sie blickte bewundernd hoch in seine blauen Augen, er blickte liebevoll hinunter in die ihren. Der Jubel der Menschen nahm noch zu, alles war erfüllt von der Freude, mitzuerleben, daß ein so hochherziges Paar Anderith so beherzt anführte.

Als Dalton sich erhob, die Hände applaudierend über den Kopf erhoben, riß er alle von den Sitzen. Er setzte sein breitestes Lächeln auf, damit selbst der entferntest stehende Gast es noch zu erkennen vermochte, drehte sich weiterhin Beifall klatschend um, den Blick auf den Minister und seine Gemahlin geheftet.

Dalton hatte bereits für eine Anzahl von Männern gearbeitet. Manchen hatte er nicht mal trauen können, wenn sie ein Runde warfen, manche vermochten Daltons Plänen gut zu folgen, wenn er sie umriß, begriffen sie jedoch erst in vollem Umfang, wenn sie sie Gestalt annehmen sahen. Keiner von ihnen hätte Bertrand auch nur das Wasser reichen können.

Der Minister hatte Konzept und Ziel sofort verstanden, als Dalton ihm beides kurz erläuterte. Er war zweifellos in der Lage, es auszuschmücken und zu seinem eigenen zu machen. Einem so aalglatten Menschen wie Bertrand Chanboor war Dalton noch nicht begegnet.

Lächelnd, eine Hand in die Luft gereckt, nahm Bertrand den Jubel der Menge entgegen und brachte sie gleichzeitig zum Verstummen.

»Meine lieben Freunde aus Anderith«, hob er mit tiefer, aufrichtig klingender Stimme an, die dröhnend bis in den entlegensten Winkel des Saales trug, »ich möchte Euch heute abend bitten, über die Zukunft nachzudenken. Die Zeit ist mehr als reif, den Mut aufzubringen, die Günstlingswirtschaft unserer Vergangenheit dorthin zu verbannen, wo sie hingehört – in die Vergangenheit. Stattdessen müssen wir die Gedanken auf die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder richten.«

Er war gezwungen, innezuhalten und lächelnd zu nicken, als sich donnernder Applaus im Saal erhob. Er brachte die Zuhörerschaft zum Schweigen und setzte erneut an.

»Unsere Zukunft ist zum Scheitern verdammt, wenn wir zulassen, daß Neinsager unsere Phantasie beherrschen, anstatt dem uns vom Schöpfer geschenkten Geist der Möglichkeiten den nötigen Raum zu lassen, sich in höchste Höhen aufzuschwingen.«

Wieder wartete er, bis sich der ungestüme Beifall gelegt hatte. Dalton staunte, wie Bertrand es verstand, aus dem Stand derart begeisternde Worte aus dem Ärmel zu schütteln.

»Uns allen hier im Saal wurde die Verantwortung für alle Menschen Anderiths auferlegt, nicht nur für die vom Glück begünstigten. Es ist an der Zeit, daß unsere Kultur alle Menschen Anderiths einschließt, nicht nur die vom Glück begünstigten. Es wird Zeit, daß unsere Gesetze allen Menschen Anderiths dienen, nicht nur einigen wenigen.«

Dalton sprang auf, applaudierte und pfiff.

Augenblicklich folgten alle seinem Beispiel, man erhob sich und spendete jubelnd Beifall. Hildemara, immer noch das liebevolle Lächeln der hingebungsvoll umsorgenden Gemahlin im Gesicht, erhob sich, um ihrem Gatten ebenfalls zu applaudieren.

»Als ich noch jung war«, fuhr Bertrand, als die Menge sich beruhigt hatte, mit leiser Stimme fort, »war mir das Gefühl nagenden Hungers wohlbekannt. In Anderith herrschten schwere Zeiten. Mein Vater war ohne Arbeit, und ich mußte mit ansehen, wie meine Schwester sich in den Schlaf weinte, während der Hunger in ihrem Bauch sie quälte. Ich mußte mit ansehen, wie mein Vater stumm vor sich hinweinte, weil er sich schämte, keine Arbeit zu haben, weil er sich schämte, nichts gelernt zu haben.« Er hielt inne und räusperte sich. »Er war ein stolzer Mann, trotzdem hat es ihm fast das Herz gebrochen.«

Ganz nebenbei fragte sich Dalton, ob Bertrand überhaupt eine Schwester hatte.

»Auch heute gibt es unter uns stolze Männer, die bereit sind zu arbeiten, gleichzeitig gibt es genügend Arbeit, die getan werden muß. Es gibt mehrere im Bau befindliche Regierungsgebäude, weitere sind geplant. Wir lassen Straßen anlegen, damit der Handel sich ausweiten kann. Wir haben die Absicht, Brücken auf den Pässen in den Bergen errichten zu lassen. Flüsse harren der Arbeiter, die Pfeiler aufstellen sollen, um die zu jenen Straßen und Pässen führenden Brücken zu stützen.

Doch keiner dieser stolzen, arbeitswilligen Männer kommt für eine dieser Arbeiten oder für viele andere offene Stellen in Frage, weil keiner von ihnen etwas gelernt hat. Genau wie mein Vater.«

Bertrand Chanboor blickte in die Menge, die mit gespannter Aufmerksamkeit seiner Antwort harrte.

»Wir können diesen Männern Arbeit geben. Als Minister für Kultur ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Männer Arbeit bekommen, damit sie ihre Kinder ernähren können, die unser aller Zukunft sind. Ich bat die klügsten Köpfe unter uns, eine Lösung vorzutragen, und sie haben weder mich noch das Volk Anderiths im Stich gelassen. Gerne würde ich mich mit den Federn dieses brillanten neuen Erlasses schmücken, doch das kann ich leider nicht.

Diese durchdachten, neuartigen Vorschläge wurden mir von Menschen überbracht, die mich mit Stolz erfüllen, dieses Amt zu bekleiden, denn es ermöglicht mir, dieses neue Gesetz zu verkünden. In der Vergangenheit hat es immer wieder Menschen gegeben, die ihren Einfluß geltend gemacht haben, um solch aussichtsreiche Ideen in den düsteren Winkeln entlegener Kammern verkommen zu lassen. Ich werde nicht zulassen, daß diese eigensüchtigen Interessen die Hoffnung auf unserer Kinder Zukunft zunichte machen.«

Bertrand setzte eine finstere Miene auf, und seine finsteren Mienen waren dazu angetan, Menschen erbleichen und vor Angst erzittern zu lassen.

»In der Vergangenheit hat es immer wieder Menschen gegeben, die das Beste für ihresgleichen zurückbehalten und verhindert haben, daß andere sich beweisen konnten.«

Die Anspielung war unmißverständlich. Wenn es um das Verheilen der von den hakenischen Oberherren beigebrachten Wunden ging, spielte Zeit keine Rolle – diese Wunden würden stets offen und blutig bleiben. Es war recht nützlich, sie in diesem Zustand zu belassen.

Bertrands Gesicht entspannte sich und nahm wieder das vertraute, ungezwungene Lächeln an, das nach seiner finsteren Miene fast noch freundlicher wirkte. »Diese Hoffnung bietet das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Arbeitsverhältnisse‹.« Er deutete mit ausgestreckter Hand auf Claudine. »Lady Winthrop, würdet Ihr Euch bitte erheben.«

Sie blickte sich errötend um, während ihr die Menschen zulächelten. Beifall setzte ein und drängte sie, sich von ihrem Platz zu erheben. Sie wirkte wie ein bei Dämmerung hinter einem Gartenzaun gefangenes Reh. Zögernd erhob sie sich von ihrem Platz.

»Liebe Freunde, Schirmherr des neuen Gesetzes ist Lady Winthrops Gemahl Edwin, und wie viele von Euch wissen, ist Lady Winthrop seine fähige Assistentin als Abgeordneter. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Lady Winthrop bei dem neuen Gesetz ihres Gatten eine ausschlaggebende Rolle spielte. Edwin ist in Geschäften unterwegs, trotzdem möchte ich sie zu ihrer hervorragenden Arbeit in dieser Angelegenheit beglückwünschen und hoffe, daß sie unsere Wertschätzung bei seiner Rückkehr an Edwin weitergeben wird.«

Der Saal schloß sich Bertrands Beifall an und bejubelte sie und ihren abwesenden Gatten. Claudine, das Gesicht gerötet, nahm die Verehrung mit einem zurückhaltenden Lächeln entgegen. Dalton fiel auf, daß die Direktoren, die nicht wußten, was es mit dem neuen Gesetz auf sich hatte, höflich, aber zurückhaltend Beifall spendeten. Leute beugten sich zu ihr, berührten sie, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und sprachen ihr ihre Anerkennung aus, daher dauerte es eine Weile, bis alle wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, um endlich zu erfahren, was es mit dem neuen Gesetz denn nun tatsächlich auf sich hatte.

»Das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Arbeitsverhältnisse‹ erfüllt genau das, was sein Name verspricht«, erläuterte Bertrand schließlich, »es schafft gerechte und für alle offene anstelle von privilegierten und nicht jedermann offenstehenden Arbeitsverhältnissen. Angesichts der unverzichtbaren öffentlichen Vorhaben liegt viel Arbeit vor uns, wenn wir den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden wollen.«

Der Minister ließ seinen entschlossenen Blick über die Menge schweifen.

»Eine Bruderschaft jedoch hält an überholten Vorrechten fest und behindert damit den Fortschritt. Versteht mich nicht falsch, diese Männer hegen hohe Ideale und sind harte Arbeiter, es ist jedoch an der Zeit, die Türen dieser archaischen Ordnung aufzustoßen, die lediglich dem Schutz einiger weniger dient.

Das neue Gesetz soll daher jedem eine Anstellung ermöglichen, der bereit ist, sich ins Zeug zu legen – und nicht nur Angehörigen einer geschlossenen Bruderschaft der Gilde der Steinmetze.«

Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Menge. Bertrand ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken.

»Schlimmer noch, wegen dieser nach außen abgeschirmten Gilde, deren geheime und unnötig strenge Anforderungen nur wenige erfüllen, liegen die für das Volk Anderith anfallenden Kosten der durch sie ausgeführten öffentlichen Bauvorhaben erheblich höher, als würde man arbeitswillige Männer arbeiten lassen.« Der Minister schüttelte drohend seine Faust. »Diese unerhörten Kosten tragen wir alle!«

Direktor Linscott war fast violett vor unterdrücktem Zorn.

Aus Bertrands geballter Faust löste sich ein Finger, den dieser auf die Menge richtete.

»Das ungeheure Fachwissen des Steinmetzes sollte zweifellos Verwendung finden. Dank dieses neuen Gesetzes jedoch wird es darüber hinaus möglich sein, den ganz gewöhnlichen Arbeiter unter der Aufsicht der Steinmetze zu beschäftigen, deren Kinder dann keinen Hunger mehr erleiden müßten, nur weil ihre Väter arbeitslos sind.«

Zur Unterstreichung jedes einzeln angeführten Punktes schlug der Minister mit der Faust in seine Hand.

»Ich rufe die Direktoren der Gesellschaft für Kulturelle Zusammenarbeit auf, uns jetzt durch Handzeichen ihre Unterstützung für die Einstellung hungernder Menschen zu bekunden, ihre Unterstützung für die Regierung, die endlich in der Lage sein wird, Vorhaben zu einem angemessenen Preis zu Ende zu führen, indem sie arbeitswillige Menschen einstellt und nicht bloß die Mitglieder einer geheimen Gesellschaft von Steinmetzen, die ihre eigenen Wucherpreise festsetzt, für die wir alle geradestehen müssen! Ich bitte um Eure Unterstützung für die Kinder! Um Eure Unterstützung für das ›Winthrop-Gesetz für gerechte Arbeitsverhältnisse!‹«

Direktor Linscott sprang auf. »Ich protestiere gegen eine solche Abstimmung durch Handzeichen! Wir hatten noch nicht einmal Gelegenheit…«

Er verstummte, als er den Herrscher die Hand heben sah.

»Falls die anderen Direktoren uns ihre Unterstützung bekunden möchten«, sprach der Herrscher mit klarer Stimme in die Stille hinein, »dann sollten die hier Anwesenden dies wissen, damit niemand falsches Zeugnis ablegen kann vom aufrichtigen Willen eines jeden Mannes. Es kann nicht schaden, die Meinung der Direktoren einzuholen, solange sie alle anwesend sind. Eine Abstimmung per Handzeichen ist noch nicht das letzte Wort und entzieht die Angelegenheit, bevor sie zum Gesetz wird, keinesfalls der Diskussion.«

Die Ungeduld des Herrschers hatte den Minister soeben unbewußt vor der Notwendigkeit bewahrt, eine Abstimmung zu erzwingen. Es war zwar richtig, daß eine Abstimmung das Gesetz nicht endgültig machen würde, ein sich durch die Gilden und sämtliche anderen Berufsstände ziehender Riß hätte in diesem Fall jedoch genau dies zur Folge.

Dalton mußte nicht lange auf das Handzeichen der anderen Direktoren warten. Für die Gilden kam das durch den Minister verkündete Gesetz einem Todesurteil gleich, und der Minister hatte sie alle soeben das Aufblinken der Henkersaxt sehen lassen.

Den Grund würden sie zwar niemals erfahren, dennoch war allen Direktoren klar, daß man es auf einen aus ihren Reihen abgesehen hatte. Nur vier der Direktoren waren Gildenmeister, trotzdem waren die anderen nicht weniger angreifbar. Möglicherweise kürzte man den Geldverleihern den erlaubten Zins oder verbot diesen sogar ganz, möglicherweise änderte man den Kaufleuten ihre Handelspräferenzen und -wege, möglicherweise setzte man die Gebühren der Rechtsbeistände und Anwälte per Gesetz auf eine Höhe fest, die sich sogar Bettler leisten konnten. Kein Stand war vor einem neuen Gesetz sicher, hatten die ihm Angehörigen erst einmal das Mißfallen des Ministers erregt.

Verweigerten die anderen Direktoren in dieser Angelegenheit dem Minister ihre Unterstützung, konnte sich die Klinge gegen ihre Gilde oder ihren Stand richten. Der Minister hatte eine öffentliche Abstimmung per Handzeichen und keine Geheimabstimmung gefordert, was darauf hindeutete, daß sich die Axt nicht auf sie niedersenken würde, vorausgesetzt, sie spielten mit.

Claudine sank auf ihren Stuhl. Ihr war die Bedeutung ebenfalls bewußt. Früher war es Männern nur dann erlaubt, den Beruf des Steinmetzes auszuüben, wenn sie Mitglied der Steinmetzgilde waren. Die Gilde legte Ausbildung, Vorgaben und Preise fest, schlichtete in Streitfällen, teilte die Arbeiter je nach Bedarf den verschiedenen Aufträgen zu, kümmerte sich um verletzte oder erkrankte Mitglieder und unterstützte die Witwen derer, die in Ausübung ihres Berufes ums Leben gekommen waren. Erlaubte man ungelernten Arbeitern, als Steinmetze zu arbeiten, gingen den Gildenmitgliedern ihre Löhne als gelernte Kräfte verloren. Es wäre das Ende der Steinmetzgilde.

Für Linscott wäre es das Ende seiner Laufbahn. Für den Verlust ihres Schutzes durch das Gildengesetz unter seiner Aufsicht als Direktor würden die Steinmetze ihn innerhalb eines Tages seines Amtes entheben. Von nun an würden die Ungelernten arbeiten, und Linscott wäre ein Verstoßener.

Und selbstverständlich würden die Bauvorhaben des Landes am Ende teurer werden. Ungelernte Arbeiter waren schließlich ungelernt. Wer seinen Preis hatte, aber wußte, was er tat, war letzten Endes billiger, und die Arbeit wurde korrekt ausgeführt.

Einer der Direktoren hob die Hand und bekundete damit seine formlose, nach allen praktischen Erwägungen aber endgültige Zustimmung zu dem Gesetz. Die anderen verfolgten das Heben dieser Hand wie einen Pfeil, der sich in die Brust eines Mannes senkt, um sein Herz zu durchbohren. Dieser Mann war Linscott. Niemand war gewillt, sein Schicksal zu teilen. Eine nach der anderen gingen die Hände der Direktoren in die Höhe, bis es elf an der Zahl waren.

Linscott bedachte Claudine mit einem mörderischen Blick, dann verließ er erhobenen Hauptes das Fest. Claudine senkte ihr aschfahles Gesicht.

Dalton begann, den Direktoren zu applaudieren. Der Beifall riß alle aus dem düsteren Drama, und die Menschen fielen nach und nach in seinen Beifall ein. Wer in Claudines Nähe saß, ging dazu über, ihr zu gratulieren und zu erklären, welches Wunder sie und ihr Gatte für die Kinder Anderiths vollbracht hätten. Erste Stimmen wurden laut, die sich über den Eigensinn der Steinmetze empörten. Bald hatte sich eine Schlange aus dankbaren Menschen gebildet, um an ihr vorbeizudefilieren und sich namentlich auf die Seite des Ministers für Kultur und dessen Mut zur Gerechtigkeit zu schlagen.

Claudine schüttelte allen die Hand, brachte aber nur ein blasses Lächeln zustande.

Direktor Linscott würde sich wahrscheinlich nie wieder anhören wollen, was Claudine Winthrop ihm mitzuteilen hatte.

Stein sah herüber und bedachte Dalton mit einem verschlagenen Grinsen. Hildemara schickte ein selbstzufriedenes Feixen in seine Richtung, und ihr Gatte gab Dalton einen Klaps auf den Rücken.

Als alle wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, setzte die Harfenspielerin soeben an, mit gespreizten Fingern einen Akkord anzuschlagen, als der Herrscher abermals die Hand erhob. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als er das Wort ergriff.

»Ich denke, wir sollten die Gelegenheit ergreifen und vor dem nächsten Gang hören, was dieser weitgereiste Gentleman uns mitzuteilen hat.«

Der Herrscher hatte sichtlich Mühe, wach zu bleiben, und wollte Stein sprechen hören, bevor er einnickte. Der Minister erhob sich abermals, um das Wort an den Saal zu richten.

»Liebe Freunde, wie Ihr vielleicht wißt, herrscht ein Krieg, der im Begriff ist, sich auszuweiten. Jede Seite verfügt über Argumente, weshalb wir uns ihr anschließen sollten. Anderith hat keinen anderen Wunsch als Frieden. Wir haben nicht das geringste Verlangen, mit ansehen zu müssen, wie unsere jungen Männer und Frauen in einem unnötigen Kampf verbluten. Unser Land bekleidet insofern eine Sonderstellung, als es unter dem Schutz der Dominie Dirtch steht, weswegen wir keine Gewalt von außen fürchten müssen. Allerdings spielen auch noch andere Erwägungen eine Rolle, von denen eine nicht unbedeutende der Handel mit der Welt jenseits unserer Grenzen ist.

Wir haben die Absicht, uns anzuhören, was Lord Rahl von D’Hara und die Mutter Konfessor zu sagen haben. Sie haben gelobt, sich zu vermählen, wie Ihr zweifellos von den aus Aydindril zurückgekehrten Diplomaten gehört habt. Damit schlösse sich D’Hara den Midlands an, wodurch eine ungeheure Macht entstünde. Wir harren voller Respekt ihrer Angebote.

Heute abend jedoch werden wir uns anhören, was die Imperiale Ordnung uns mitzuteilen wünscht. Kaiser Jagang hat einen Abgesandten aus der Alten Welt jenseits des Tales der Verlorenen geschickt, das jetzt, zum ersten Mal seit Jahrtausenden, wieder für die Durchreise geöffnet wurde.« Bertrand streckte seine Hand aus. »Darf ich Euch den Fürsprecher des Kaisers vorstellen, Meister Stein.«

Die Menschen spendeten höflich Beifall, der jedoch erstarb, als Stein, eine eindrucksvolle, furchteinflößende und faszinierende Gestalt, sich erhob. Er hakte seine Daumen hinter seinen leeren Waffengurt.

»Wir sind in einen Kampf um unsere Zukunft verwickelt, der ganz jener Auseinandersetzung ähnelt, deren Zeuge Ihr soeben wart, wenn auch in weitaus größerem Maßstab.«

Stein nahm einen kleinen Laib harten Brotes in die Hand. Er zerdrückte ihn zwischen seinen riesigen Händen, bis er zerbröckelte. »Wir, die Rasse der Menschheit, und das schließt auch das redliche Volk der Anderier ein, werden langsam zerdrückt. Man wirft uns Prügel zwischen die Beine. Man nimmt uns die Luft zum Atmen. Man versagt uns unsere Bestimmung, man enthält uns unsere Zukunft vor, das Leben selbst.

So wie es bei Euch Männer ohne Arbeit gibt, weil eigennützige Gilden über das Leben anderer herrschen, ihnen Arbeit verweigern und damit die Ernährung ihrer Kinder, so herrscht bei uns über alles die Magie.«

Im Saal entstand ein Summen, als sich allgemeines Getuschel erhob. Die Menschen waren verwirrt und ein kleines bißchen besorgt. Manch einer verabscheute Magie, viele aber respektierten sie.

»Magie nimmt Euch die Entscheidung über Euer Schicksal ab«, fuhr Stein fort. »Die, die Magie besitzen, herrschen über Euch, ohne daß Ihr dem aus freien Stücken zugestimmt hättet. Sie besitzen die Macht und halten Euch in ihrem Griff. Die, die Magie besitzen, sprechen Banne aus, um denen zu schaden, die ihren Neid geweckt haben. Die, die Magie besitzen, fügen unschuldigen Menschen Leid zu, vor denen sie sich fürchten, die ihnen mißfallen, die sie beneiden, oder ganz einfach, um die Massen in Schach zu halten. Die, die Magie besitzen, herrschen über Euch, ob Euch das gefällt oder nicht. Der Geist der Menschheit könnte erblühen, gäbe es keine Magie. Es ist an der Zeit, daß gewöhnliche Menschen entscheiden, was geschehen soll, ohne daß die Magie ihren Schatten über diese Entscheidungen und Euer aller Zukunft wirft.«

Stein hielt seinen Übermantel seitlich in die Höhe. »Dies sind die Skalps von Menschen mit der Gabe der Magie. Ich habe jeden einzelnen von ihnen eigenhändig getötet und so jede dieser Hexen daran gehindert, das Leben normaler Menschen zu verbiegen.

Die Menschen sollten den Schöpfer fürchten, nicht irgendeine Hexenmeisterin, irgendeinen Zauberer. Wir sollten den Schöpfer verehren und niemanden sonst.«

Ein erstes Raunen der Zustimmung wurde laut.

»Die Imperiale Ordnung wird der Magie in dieser Welt ebenso ein Ende machen, wie wir die Magie vernichtet haben, die die Menschen in der Alten und der Neuen Welt über Jahrtausende voneinander trennte. Die Imperiale Ordnung wird obsiegen. Der Mensch wird sein Schicksal selber in die Hand nehmen. Auch ohne Euer Zutun werden ständig immer weniger Menschen mit der Gabe geboren, denn selbst der Schöpfer in seiner nahezu grenzenlosen Langmut wird ihrer Schlechtigkeit müde. Die alte Religion der Magie erlischt. Somit hat der Schöpfer selbst dem Menschen ein Zeichen gesetzt, sich von der Magie loszusagen.«

Abermals ging ein zustimmendes Raunen durch den Saal.

»Wir haben nicht die Absicht, gegen das Volk von Anderith zu kämpfen. Auch wollen wir Euch nicht gegen Euren Willen zwingen, zu den Waffen zu greifen und Euch uns anzuschließen. Aber wir sind fest entschlossen, die von diesem Bastard aus D’Hara angeführten Streitmächte der Magie zu vernichten. Wer immer sich ihm anschließt, wird durch unsere Klinge fallen, genau wie die mit Magie« – bei diesen Worten hielt er erneut seinen Übermantel in die Höhe – »durch meine Klinge gefallen sind.«

Sein Finger glitt langsam über die Menge hinweg, während er mit der anderen Hand weiterhin seinen Übermantel hochhielt. »So wie ich diese mit der Gabe gesegneten Hexen getötet habe, die mich angegriffen haben, so werden wir jeden töten, der sich uns entgegenstellt. Darüber hinaus verfügen wir noch über andere, wirksamere Mittel als die Klinge, um der Magie ein Ende zu bereiten. So wie wir die Magie gestürzt haben, die uns voneinander trennte, so werden wir auch der Magie insgesamt ein Ende machen. Das Zeitalter des Menschen steht uns bevor.«

Der Minister hob beiläufig eine Hand. »Und was verlangt die Imperiale Ordnung nun von uns, wenn nicht die Schwerter unserer mächtigen Armee?«

»Ihr habt Kaiser Jagangs Wort. Solltet Ihr Euch den Streitkräften nicht anschließen, die gegen die, die Magie besitzen, kämpfen, werden wir Euch nicht angreifen. Wir haben keinen anderen Wunsch, als mit Euch Handel zu treiben, so wie Ihr mit anderen Völkern Handel treibt.«

»Tja«, meinte der Minister, für die Menge den Part des Skeptikers übernehmend, »wir haben bereits Abmachungen getroffen, einen großen Teil unserer Waren den Midlands zu überlassen.«

Stein lächelte. »Wir zahlen das Doppelte des höchsten Preises, den irgend jemand sonst bietet.«

Der Herrscher hob seine Hand und brachte damit sogar das Tuscheln zum Verstummen. »In welchem Umfang wärt Ihr am Kauf der Erzeugnisse Anderiths interessiert?«

Steins Blick wanderte über die Menge. »In vollem Umfang. Wir sind eine gewaltige Streitmacht. Ihr braucht die Klingen nicht zu heben, um in diesem Krieg zu kämpfen, das Kämpfen übernehmen wir, aber wenn Ihr uns Eure Güter überlaßt, werdet Ihr in Sicherheit sein, und Euer Land wird reicher werden, als Ihr Euch dies je erhofft oder erträumt habt.«

Der Herrscher erhob sich und blickte prüfend in den Saal. »Ich danke Euch für die Worte des Kaisers, Meister Stein. Wir werden gewiß noch weitere Einzelheiten hören wollen. Fürs erste jedoch haben Eure Worte uns eine Menge zum Nachdenken gegeben.« Seine Hand strich über die Menge hinweg. »Das Fest möge weitergehen.«

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