Snip eilte durch den schlecht beleuchteten Korridor. Rowley hatte ihm erklärt, es sei wichtig. Morleys nackte Füße patschten über den Holzfußboden, für Snip mittlerweile ein eigenartiges Geräusch. Es hatte eine Weile gedauert, bis Snip, der nie Stiefel getragen hatte, sich an ihren Klang gewöhnt hatte. Jetzt fand er das Geräusch nackter Füße sonderbar. Sogar mehr als sonderbar. Das Geräusch erinnerte ihn an sein Dasein als barfüßiger Küchenbursche, und an diesen Teil seines Lebens wurde er nur ungern erinnert.
Bote zu sein war, als sei ein Traum in Erfüllung gegangen.
Durch die offenen Fenster wehten die Klänge der Musik auf dem Fest herein. Die Frau mit der Harfe spielte und sang. Snip mochte den reinen Klang ihrer Stimme sehr, wenn sie zu ihrer Harfe sang.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, um was es geht?«
»Nein«, meinte Snip. »Aber ich glaube nicht, dass wir zu dieser späten Stunde noch eine Nachricht überbringen sollen. Erst recht nicht, wenn gerade ein Fest gefeiert wird.«
»Hoffentlich dauert es nicht lange.«
Snip wusste, was Morley meinte. Sie hatten eben erst angefangen, sich zu betrinken. Morley hatte eine fast volle Flasche Rum aufgetrieben, und jetzt freuten sie sich darauf, sich besinnungslos betrinken zu können. Nicht nur das, Morley hatte überdies ein Mädchen aus der Wäscherei dabei, das er kannte, und das gemeint hatte, es wolle sich mit ihnen zusammen betrinken. Snip bekam Herzklopfen, wenn er daran dachte, was das bedeutete.
Davon und von der simplen Tatsache abgesehen, dass er sich gerne voll laufen ließ, wollte er auch seine Unterredung mit Beata vergessen.
Im Vorzimmer war niemand, der Raum strahlte eine vollkommene Ruhe aus. Rowley hatte sie nicht zurückbegleitet, daher waren sie nur zu zweit. Dalton Campbell, der langsam mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf und ab ging, erblickte sie und winkte sie herein.
»Da seid ihr beiden ja. Gut.«
»Was können wir für Euch tun, Meister Campbell?«, fragte Snip.
Das eigentliche Büro wurde von Lampen erhellt, die ihm eine gewisse Wärme verliehen. Das Fenster stand offen, und die leichten Vorhänge wehten in einer sanften Brise hin und her. Die Schlachtstandarten raschelten leicht im Durchzug.
Dalton Campbell seufzte. »Wir stecken in Schwierigkeiten. Schwierigkeiten wegen Claudine Winthrop.«
»Was für Schwierigkeiten denn?«, fragte Snip. »Können wir irgend etwas tun, um sie aus der Welt zu schaffen?«
Der Adjutant des Ministers wischte sich mit der Hand übers Kinn.
»Ihr seid gesehen worden.«
Snip spürte, wie ihm eine eiskalte Welle der Angst kribbelnd den Rücken hinaufkroch. »Gesehen? Wie meint Ihr das?«
»Nun, du erinnerst dich bestimmt, wie du mir erzählt hast, du hättest eine Kutsche halten hören, woraufhin ihr alle zu diesem Teich geflohen seid, um euch ins Wasser zu werfen.«
Snip musste schlucken. »Ja, und weiter, Sir?«
Dalton Campbell seufzte abermals. Er trommelte mit einem Finger gegen den Schreibtisch, während er zu überlegen schien, wie er es in Worte kleiden sollte.
»Nun, es war der Kutscher, der die Leiche fand. Er machte kehrt, um die Stadtwache zu holen.«
»Aber Meister Campbell, das habt Ihr uns doch schon gesagt«, warf Morley ein.
»Gewiss. Nun, soeben erfahre ich, er habe seinem Begleiter vor seiner Umkehr aufgetragen, zurückzubleiben. Der Mann ist eurer Spur durch das Weizenfeld gefolgt. Bis zu dem Teich.«
»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Snip. »Soll das heißen, er hat uns alle gesehen, wie wir dort geschwommen sind und uns gewaschen haben?«
»Euch beide jedenfalls. Soeben hat er mir eure Namen genannt. Snip und Morley, sagte er – aus der Küche des Anwesens.«
Snips Herz pochte unkontrolliert. Er versuchte nachzudenken, doch die Panik schlug ihm schneller über dem Kopf zusammen, als er sie unterdrücken konnte. Ob er einen guten Grund hatte oder nicht, man würde ihn in jedem Fall hinrichten.
»Aber wieso hat der Mann nicht schon früher etwas gesagt, wenn er uns tatsächlich gesehen hat?«
»Was? Oh. Vermutlich hat ihm der Anblick der Leiche und all dies einen Schock versetzt, daher hat er…« Dalton Campbell machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Versteht doch, wir haben keine Zeit, über längst geschehene Dinge zu diskutieren. Daran können wir jetzt nichts mehr ändern.«
Der hoch gewachsene Anderier zog eine Lade auf. »Mir ist überaus unwohl bei der Geschichte. Ich weiß, ihr zwei habt gute Arbeit für mich geleistet – für Anderith. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen – ihr seid gesehen worden.«
Er entnahm der Lade einen schweren ledernen Beutel und ließ ihn klirrend auf den Schreibtisch fallen.
»Und was wird jetzt aus uns?«, wollte Morley wissen. Seine Augen hatten die Größe von Goldsouvereigns. Snip wusste, wie seinem Freund zumute war. Ihm zitterten selbst die Knie, wenn er sich seine Hinrichtung vorzustellen versuchte.
Ein neuer Schrecken stieg ihm die Kehle hoch, dass er fast aufgeschrien hätte. Er musste daran denken, wie Franca ihm von dem Mob erzählt hatte, der ihr einen Strick um den Hals gelegt und sie daran hochgezogen hatte, um unter ihr ein Feuer anzurichten, während sie zu ersticken drohte und ihre Füße ins Leere traten. Nur dass Snip keine Magie besaß, die ihm helfen würde zu fliehen. Er hob die Hand und fühlte schon den derben Strick um seinen Hals.
Dalton Campbell schob den Lederbeutel über den Schreibtisch. »Ich möchte, dass ihr dies nehmt.«
Snip musste sich zusammenreißen, um zu begreifen, was Dalton Campbell gesagt hatte. »Was ist das?«
»Größtenteils Silber, ein paar Goldstücke sind auch darunter. Wie gesagt, mir ist überaus unwohl bei der Geschichte. Ihr wart beide eine große Hilfe und habt mir bewiesen, dass man euch trauen kann. Jetzt jedoch, da euch jemand gesehen hat, der euch als diejenigen identifizieren kann, die … man würde euch für die Ermordung Claudine Winthrops hinrichten.«
»Aber Ihr könntet ihnen doch erklären…«
»Ich kann ihnen überhaupt nichts erklären, denn ich bin in erster Linie Bertrand Chanboor und der Zukunft Anderiths verpflichtet. Der Herrscher ist erkrankt, jeden Tag kann Bertrand Chanboor zum neuen Herrscher berufen werden. Ich kann wegen dieser Claudine Winthrop nicht das ganze Land im Chaos versinken lassen. Ihr beide seid so etwas wie Soldaten im Krieg. Im Krieg gehen gute Leute verloren. Außerdem würde mir jetzt, da die Gefühlsausbrüche über diese Geschichte so hohe Wellen schlagen, ohnehin niemand zuhören. Eine aufgebrachte Menschenmenge würde euch fortschleifen und…«
Snip glaubte in Ohnmacht zu fallen. Sein Atem ging so schnell, dass er kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren. »Ihr glaubt, wir sollen hingerichtet werden?«
Dalton Campbell schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was? Nein.« Er versetzte dem Lederbeutel abermals einen Stoß. »Wie gesagt, dies ist eine Menge Geld. Nehmt es. Flieht. Begreift ihr nicht? Ihr müsst von hier verschwinden, oder man wird euch hinrichten, bevor das nächste Mal die Sonne untergeht.«
»Aber wohin sollen wir denn gehen?«, wollte Morley wissen.
Dalton Campbell machte eine fahrige Bewegung Richtung Fenster. »Fort. Weit weg. Weit genug, dass man euch niemals findet.«
»Aber könnte man die Sache nicht irgendwie in Ordnung bringen, damit die Leute wissen, dass wir nur getan haben, was getan werden musste…«
»Und die Vergewaltigung Beatas? Beata hättet ihr doch nicht zu vergewaltigen brauchen.«
»Was?«, entfuhr es Snip gedehnt. »Das würde ich nie – ich schwöre, so etwas würde ich niemals tun. Bitte, Meister Campbell, das würde ich niemals tun.«
»Was du tun würdest oder nicht, spielt keine Rolle. Soweit es die Leute betrifft, die hinter euch her sind, hast du es getan. Sie werden nicht einfach innehalten, nur damit ich sie zur Vernunft bringen kann. Sie werden erst gar nicht auf mich hören. Sie werden denken, dieselben Leute, die Claudine vergewaltigt und getötet haben, haben auch Beata vergewaltigt. Sie werden euch keinen Glauben schenken, nicht, wenn ein Mann euch als die Mörder Claudine Winthrops identifizieren kann. Ob ihr Beata vergewaltigt habt oder nicht, ist dabei ohne Belang. Der Mann, der euch gesehen hat, ist Anderier.«
»Die Leute, die hinter uns her sind?« Morley wischte sich mit zittriger Hand durch sein bleiches Gesicht. »Soll das heißen, es sind bereits Leute hinter uns her?«
Dalton Campbell nickte. »Bleibt ihr hier, wird man euch für beide Verbrechen hinrichten. Eure einzige Chance ist die Flucht – und zwar schnell. Weil ihr zwei so verlässliche Männer für mich gewesen seid und euch so beherzt für die anderische Kultur eingesetzt habt, wollte ich euch warnen, damit ihr wenigstens eine Chance habt zu entkommen. Ich überlasse euch meine gesamten Ersparnisse, damit ihr fliehen könnt.«
»Eure Ersparnisse?« Snip schüttelte den Kopf. »Aber nein, Sir, Eure Ersparnisse können wir unmöglich annehmen, Meister Campbell. Ihr habt eine Frau und…«
»Ich bestehe darauf. Falls nötig, werde ich es euch befehlen. Ich werde nur dann nachts ruhig schlafen können, wenn ich weiß, dass ich euch wenigstens auf diese bescheidene Weise helfen konnte. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um meine Männer zu unterstützen. Dies ist das Mindeste, was ich für euch zwei tapferen Burschen tun kann.«
Er deutete auf den Lederbeutel. »Nehmt es. Teilt es zwischen euch auf. Benutzt es, um weit von hier fortzukommen. Fangt ein neues Leben an.«
»Ein neues Leben?«
»Ganz recht«, sagte Meister Campbell. »Ihr könntet euch sogar Schwerter davon kaufen.«
Morley blinzelte erstaunt. »Schwerter?«
»Natürlich. Dort liegt genug, dass jeder von euch sich ein Dutzend Schwerter kaufen könnte. Wenn ihr in ein anderes Land geht, wird euch niemand für Hakenier halten, so wie hier. An vielen Orten wärt ihr freie Männer und könntet euch Schwerter beschaffen. Fangt ein neues Leben an. Eine neue Arbeit, alles. Mit einer solchen Summe könntet ihr nette Frauen kennen lernen und ihnen den Hof machen, wie es sich gehört.«
»Aber wir haben Fairfield doch noch nie verlassen«, wandte Morley, den Tränen nahe, ein.
Dalton Campbell legte die Hände auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihnen vor. »Wenn ihr hierbleibt, werdet ihr hingerichtet. Den Wachen sind eure Namen bekannt, zweifellos suchen sie bereits nach euch, während wir uns hier unterhalten. Vermutlich sind sie euch dicht auf den Fersen. Ich bete zum Schöpfer, dass sie euch nicht haben hier heraufkommen sehen. Nehmt das Geld und flieht, wenn ihr weiterleben wollt. Fangt ein ganz neues Leben an.«
Snip riskierte einen schnellen Blick über seine Schulter. Er sah oder hörte niemanden, trotzdem konnte man sie jeden Augenblick eingeholt haben. Er wusste nicht, was er tun sollte, eins aber wusste er: Sie mussten Dalton Campbeils Rat befolgen und fliehen.
Snip nahm den Lederbeutel vom Schreibtisch. »Ihr seid der gütigste Mann, dem ich je begegnet bin, Meister Campbell. Ich hätte gerne den Rest meines Lebens für Euch gearbeitet. Vielen Dank für Eure Warnung, dass man uns auf den Fersen ist, und für den Vorsprung, den Ihr uns gebt.«
Dalton Campbell streckte die Hand aus. Snip hatte noch nie einem Anderier die Hand gegeben, aber es war ein gutes Gefühl. Er kam sich vor wie ein Mann. Dalton Campbell gab auch Morley die Hand.
»Viel Glück euch beiden. Ich würde euch raten, ein paar Pferde zu beschaffen. Ihr solltet sie kaufen und nicht stehlen, sonst bringt sie das auf eure Spur. Ich weiß, es wird nicht einfach werden, aber versucht ganz normal aufzutreten, um nicht den Argwohn der Leute zu erwecken.
Geht vorsichtig mit dem Geld um, werft es nicht für Prostituierte oder Rum zum Fenster hinaus, sonst ist es ausgegeben, bevor ihr euch verseht. Wenn es dazu kommt, wird man euch fassen, und ihr werdet nicht mehr lange genug leben, um an den Krankheiten zu sterben, die ihr euch bei den Prostituierten geholt habt.
Wenn ihr im Umgang mit dem Geld euren Verstand gebraucht und sparsam damit umgeht, wird es euch ein paar Jahre lang gute Dienste leisten, sodass ihr ein neues Leben anfangen könnt, wo immer es euch gefällt.«
Snip streckte den Arm vor und schüttelte ihm abermals die Hand. »Vielen Dank für all die guten Ratschläge, Meister Campbell. Wir werden Euren Rat befolgen. Wir werden uns Pferde kaufen und fliehen. Macht Euch um uns keine Sorgen. Morley und ich haben schon einmal auf der Straße gelebt. Wir wissen, wie wir vermeiden können, von Anderiern angegriffen zu werden, die uns etwas antun wollen.«
Dalton Campbell setzte ein Lächeln auf. »Da ist wohl etwas dran. Möge also der Schöpfer über euch wachen.«
Als Dalton auf das Fest zurückkehrte, fand er Teresa, auf seinem Platz sitzend, in eine angeregte Unterhaltung mit dem Minister vertieft vor. Ihr fröhlich helles Lachen übertönte das allgemeine Stimmengewirr, das Bertrands vergnügtes Lachen mit einem Bass unterlegte. Hildemara, Stein und die Kaufleute am anderen Tafelende waren in ihre eigene getuschelte Unterhaltung versunken.
Lächelnd ergriff Teresa Daltons Hand. »Da bist du ja, Liebling. Kannst du wenigstens jetzt bei uns bleiben? Bitte, ja? Bertrand, Ihr müsst Dalton sagen, dass er zu viel arbeitet. Gelegentlich muss er auch mal etwas essen.«
»Aber ja, Dalton, Ihr arbeitet härter als jeder Mann, dem ich bisher begegnet bin. Eure Gemahlin ist erschreckend einsam ohne Euch. Ich habe mir größte Mühe gegeben, sie zu unterhalten, leider interessiert sie sich nicht für meine Geschichten, das hat sie mir überaus höflich zu verstehen gegeben. Dabei möchte sie mir doch nur erklären, was für ein tüchtiger Mann Ihr seid, als wüsste ich das nicht längst.«
Während sie auf ihren Platz zurückkehrte, forderten Bertrand und Teresa ihn auf, wieder Platz zu nehmen. Dalton bat seine Frau mit erhobenem Finger inständig noch um einen Augenblick Geduld. Er ging um sie herum, legte einen Arm dem Minister, den anderen seiner Frau um die Schultern und beugte sich zwischen die beiden. Die beiden neigten die Köpfe nach innen.
»Soeben erhielt ich neue Informationen, die meinen Verdacht bestätigen. Wie sich herausstellte, waren die ersten Berichte über das Verbrechen übertrieben. Claudine Winthrop wurde in Wirklichkeit von nur zwei Männern ermordet.« Er reichte dem Minister ein zusammengefaltetes, mit einem Wachssiegel verschlossenes Stück Papier. »Hier sind ihre Namen.«
Bertrand nahm das Papier entgegen, während das Lächeln auf dem Gesicht seiner Gemahlin zusehends breiter wurde.
»Und jetzt hört mir bitte aufmerksam zu«, fügte Dalton hinzu. »Ich war ihnen bereits dicht auf den Fersen. Bevor es mir jedoch gelang, sie zu verhaften, stahlen sie einen erheblichen Betrag von den Küchengeldern und ergriffen die Flucht. Eine umfassende Fahndung ist bereits im Gang.«
Eine Braue fragend hochgezogen, blickte er von einem Gesicht zum anderen, um sich zu vergewissern, ob sie verstanden, dass er nicht grundlos eine Geschichte erfand. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass ihnen die verborgene Bedeutung hinter seinen Worten nicht entgangen war.
»Morgen, so es Euch beliebt, verkündet Ihr die Namen der Männer auf diesem Stück Papier. Sie arbeiten in der Küche. Sie haben Claudine Winthrop vergewaltigt und ermordet. Außerdem haben sie ein hakenisches Mädchen vergewaltigt, das für den Metzger Inger arbeitet. Und jetzt haben sie die Küchengelder gestohlen und sind geflohen.«
»Aber wird sich das hakenische Mädchen nicht dazu äußern müssen?«, fragte Bertrand, besorgt, sie könnte abstreiten, es seien diese beiden gewesen, und, wenn man sie zu einer Aussage zwang, statt dessen ihn beschuldigen.
»Unglücklicherweise war die Qual zu viel für sie, und sie ist fortgelaufen. Wohin, wissen wir nicht, wahrscheinlich zu entfernten Verwandten, jedenfalls wird sie nicht wiederkommen. Der Stadtwache ist ihr Name bekannt; sollte sie je versuchen, zurückzukommen, werde ich als Erster davon erfahren und mich persönlich um ihre Befragung kümmern.«
»Dann wird sie also nicht hier sein, um der Verurteilung der Mörder zu widersprechen.« Der finstere Ausdruck kehrte auf Hildemaras Gesicht zurück. »Warum sollten wir ihnen eine Nacht Vorsprung lassen, damit sie fliehen können? Das ist doch unsinnig. Die Leute werden eine Hinrichtung sehen wollen. Eine öffentliche Hinrichtung. Wir könnten ihnen ein ziemliches Spektakel bieten. Es gibt nichts Besseres als eine öffentliche Hinrichtung, um das Volk zufrieden zu stellen.«
Dalton atmete nachsichtig durch. »Die Leute werden wissen wollen, wer es getan hat. Bertrand wird ihnen die Namen geben. Damit wäre in aller Augen bewiesen, dass das Büro des Ministers die Mörder gefunden hat. Ihre Flucht vor der öffentlichen Verkündigung ihrer Namen ist nur ein weiterer Beweis für ihre Schuld.«
Jetzt war es an Dalton, die Stirn zu runzeln. »Alles, was darüber hinausgeht, könnte uns Ärger seitens der Mutter Konfessor einhandeln. Das wäre Ärger, der unsere Kontrollmöglichkeiten überstiege.
Eine Hinrichtung würde keinem erkennbaren Zweck dienen und birgt womöglich große Risiken. Die Menschen werden zufrieden sein, wenn sie wissen, wir haben das Verbrechen gelöst, und die Verbrecher weilen nicht mehr unter ihnen. Weiteres würde jetzt, da wir auf der Schwelle zu den Herrschergemächern stehen, alles aufs Spiel setzen.«
Hildemara wollte Einwände erheben.
»Der Mann hat Recht«, entschied Bertrand mit Nachdruck.
Sie ließ sich erweichen. »Schon möglich.«
»Ich werde morgen eine Bekanntmachung verlesen, mit Edwin Winthrop an meiner Seite, vorausgesetzt, sein Gesundheitszustand lässt es zu«, meinte Bertrand. »Sehr gut, Dalton. Sehr gut, fürwahr. Dafür habt Ihr Euch eine Belohnung verdient.«
Endlich lächelte auch Dalton. »Oh, auch das habe ich bereits ganz genau durchdacht, Minister.«
Bertrands durchtriebenes, nach innen gekehrtes Lachen kehrte zurück. »Zweifellos, Dalton. Zweifellos.« Das Kichern ging in ein aus dem Bauch kommendes Lachen über, das sogar seine Frau ansteckte.
Snip musste sich die Tränen aus den Augen wischen, als er und Morley durch die Flure des Anwesens eilten. Sie gingen, so schnell sie konnten, ohne zu rennen, immer an Daltons Worte denkend, sie sollten versuchen, sich normal zu verhalten. Sahen sie eine Wache, änderten sie rasch ihre Route, um nicht von nahem gesehen zu werden. Von weitem war Snip nichts weiter als irgendein Bote, und Morley ein auf dem Anwesen beschäftigter Arbeiter.
Aber wenn sie einer Wache begegneten und diese sie anzuhalten versuchte, würden sie davonrennen müssen. Glücklicherweise übertönte der Lärm des Festes das Geräusch ihrer Füße auf dem Holzfußboden.
Snip hatte einen Einfall, der ihnen bei ihrer Flucht hilfreich sein könnte. Ohne Erklärung zupfte er Morley am Ärmel und drängte ihn, ihm zu folgen. Snip führte sie ins Treppenhaus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannten sie bis in das darunterliegende Stockwerk.
Snip bog zweimal um die Ecke und hatte wenig später den gewünschten Raum gefunden. Es war niemand dort. Die beiden schlüpften, eine Lampe in der Hand haltend, hinein und schlossen die Tür.
»Bist du verrückt, Snip, uns hier einzuschließen? Wir könnten längst auf halbem Weg nach Fairfield sein.«
Snip benetzte sich die Lippen. »Nach wem suchen sie, Morley?«
»Nach uns!«
»Nein, ich meine, nach wem glauben sie ihrer Meinung nach zu suchen? Nach einem Boten und einem Küchenjungen, richtig?«
Morley, der immer wieder zur Tür blickte, kratzte sich am Kopf. »Kann schon sein.«
»Nun, das hier ist die Rüstkammer des Anwesens – wo ein Teil der Botentrachten untergebracht ist. Bevor eine Näherin mir meine Uniform angepasst hat, bekam ich eine von hier unten, die ich tragen sollte, bis sie mit meiner fertig war.«
»Na ja, wenn du deine Uniform hast, was sollen wir dann…«
»Zieh dich aus.«
»Warum denn das?«
Snip entfuhr ein verzweifeltes Knurren. »Sie suchen einen Boten und einen Küchenjungen, Morley Wenn du dir eine Botentracht anziehst, sind wir zwei Boten.«
Morleys Brauen schossen in die Höhe. »Oh! Keine schlechte Idee.«
In Windeseile hatte Morley seine verdreckten Küchenjungenlumpen abgelegt. Snip hielt die Lampe vor sich und suchte in den Regalen nach den Uniformen für die Boten des Adjutanten des Ministers. Er warf Morley ein Paar dunkelbraune Hosen zu.
»Passen die?«
Morley schlüpfte in die Beine und zog sie hoch. »Geht so.«
Snip zog ein weißes Hemd mit Rüschenkragen heraus. »Und wie steht es hiermit?«
Snip sah zu, wie Morley es zuzuknöpfen versuchte. Es war zu klein und passte nicht über Morleys breite Schultern.
»Leg es wieder zusammen«, meinte Snip und machte sich auf die Suche nach einem anderen.
Morley warf das Hemd beiseite. »Warum so viele Umstände?«
»Heb es auf und falte es wieder zusammen. Willst du, dass man uns schnappt? Es soll nicht so aussehen, als wären wir hier unten gewesen. Wenn niemand weiß, dass Kleidung gestohlen wurde, können wir leichter fliehen.«
»Ach so«, sagte Morley. Er hob das Hemd vom Fußboden auf und ging daran, es mit seinen groben Händen zusammenzulegen.
Snip reichte ihm ein anderes, das nur ein kleines bisschen zu groß war. Kurz darauf entdeckte Snip ein Ärmelwams, auf das ein ineinander verschlungenes Füllhornmuster genäht war. Die Säume waren mit dem unverwechselbaren schwarzbraunen, zopfartigen Weizenährenband von Daltons Boten abgesetzt.
Morley schob seine Arme in die Ärmel; es saß wie angegossen.
»Wie sehe ich aus?«
Snip hielt die Lampe in die Höhe. Er stieß ein leises Pfeifen aus. Sein Freund war erheblich kräftiger gebaut als er. In der Botenuniform hatte Morley beinahe etwas Edles. Snip hatte seinen Freund nie für gut aussehend gehalten, doch jetzt sah er wirklich prächtig aus.
»Morley, du siehst besser aus als Rowley«
Morley grinste. »Tatsächlich?« Das Grinsen erlosch. »Machen wir, dass wir hier rauskommen.«
Snip deutete auf seine Füße. »Stiefel. Du brauchst Stiefel, sonst siehst du albern aus. Hier, zieh die Strümpfe über, sonst läufst du dir Blasen.«
Morley zog die Strümpfe über, dann setzte er sich auf den Fußboden und hielt sich die Sohlen der Stiefel unter die Füße, bis er ein passendes Paar gefunden hatte. Snip hieß ihn all seine alten Kleidungsstücke einsammeln, damit niemand merkte, dass sie dort gewesen waren und einen Botenanzug gestohlen hatten, selbst wenn dessen Fehlen bemerkt werden sollte – in der Kammer lagerten eine Menge Botentrachten, und sie war zu unaufgeräumt, als dass man auf Anhieb hätte feststellen können, ob ein Anzug fehlte.
Als sie Stiefelschritte auf dem Flur hörten, blies Snip die Lampe aus. Er und Morley standen wie erstarrt im Dunkeln. Sie waren zu verängstigt, um zu atmen. Die Stiefelschritte kamen näher. Snip hätte am liebsten die Flucht ergriffen, doch dafür hätten sie zur Tür hinauslaufen müssen, und genau dort befanden sich die Männer.
Männer. Er stellte fest, dass es die Stiefelschritte zweier Männer waren. Wachen. Wachen, die ihre Runde machten.
Abermals überkam Snip ein Gefühl von Panik, als er sich vorstellte, wie er vor einer jubelnden Menge hingerichtet wurde. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter.
Die Tür ging auf.
Snip konnte den Mann sehen, der, sich vor dem schwachen Licht im Flur abhebend, mit dem Türknauf in der Hand dastand. Er konnte das Schwert an der Hüfte des Mannes sehen.
Snip und Morley standen ein Stück weiter hinten in der Kammer, in einem Gang zwischen den Regalen. Das lange Lichtrechteck von der Tür fiel quer über den Boden bis kurz vor Snips Stiefel. Er hielt den Atem an und wagte nicht, auch nur einen Muskel zu rühren.
Vielleicht, überlegte er, konnte der Gardist, dessen Augen noch an die Helligkeit gewöhnt waren, die beiden nicht sehen, wie sie hier im Dunkeln standen.
Der Gardist schloss die Tür und ging mit seinem Kameraden weiter, der weitere Türen auf dem Gang öffnete. Der Klang der Schritte verhallte in der Ferne.
»Snip«, flüsterte Morley mit zittriger Stimme, »ich muss fürchterlich dringend mal wohin. Können wir jetzt von hier verschwinden? Bitte.«
Snip musste sich zusammenreißen, um seine Stimme wieder zu finden. »Klar.«
In völliger Dunkelheit steuerte er auf die Stelle zu, wo er meinte, die Tür gesehen zu haben. Das Licht im menschenleeren Flur war ein willkommener Anblick. Die beiden liefen zum nächsten Ausgang, dem Dienstbotenzugang unweit der Kammer des Brauers. Unterwegs warfen sie Morleys alte Kleider in den Lumpenbehälter in der Nähe der Anlieferrampe.
Sie hörten den alten Brauer betrunken ein Lied grölen. Morley wollte Halt machen und etwas zu trinken stehlen. Snip fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als er sich Morleys Vorschlag durch den Kopf gehen ließ. Auch er fand die Idee nicht schlecht. Einen ordentlichen Schluck hätte er in diesem Augenblick wirklich gut gebrauchen können.
»Nein«, meinte er schließlich leise. »Ich hab keine Lust, wegen eines Schlucks Schnaps hingerichtet zu werden. Wir haben reichlich Geld und können uns später etwas zu trinken kaufen. Ich will hier keine Sekunde länger bleiben als unbedingt nötig.«
Morley willigte widerstrebend ein. Sie stürzten durch den Lieferanteneingang hinaus auf die Rampe. Snip vorneweg, rannten sie die Stufen hinunter – jene Stufen, die Claudine heraufgekommen war, als er und Morley zum ersten Mal mit ihr gesprochen hatten. Hätte sie doch nur auf sie gehört und getan, was Snip ihr geraten hatte.
»Nehmen wir unsere Sachen etwa nicht mit?«, fragte Morley Snip blieb stehen und betrachtete seinen Freund, der im Schein der Fenster des Anwesens stand.
»Besitzt du irgendwas, für das es sich zu sterben lohnt?«
Morley kratzte sich hinterm Ohr. »Na ja, vermutlich nicht. Nur ein hübsch geschnitztes Steckspiel, das mir mein Vater geschenkt hat. Sonst besitze ich außer meinen anderen Kleidern praktisch nichts, und das sind eigentlich bloß Lumpen. Dieser Anzug ist besser als sie alle zusammen – meine Kleider für die Bußversammlung eingeschlossen.«
Die Bußversammlung. Snip überkam ein Gefühl der Freude, als ihm klar wurde, dass sie nie wieder eine Bußversammlung würden besuchen müssen.
»Also ich hab auch nichts, was sich mitzunehmen lohnte. In meiner Truhe liegen noch ein paar Kupfermünzen, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt in den Taschen haben. Ich würde sagen, wir gehen nach Fairfield und kaufen uns Pferde.«
Morley zog ein Gesicht. »Kannst du etwa reiten?«
Snip vergewisserte sich, dass keine Wachen in der Nähe waren. Er versetzte Morley einen leichten Stoß, damit es weiterging.
»Nein, aber ich schätze, das werden wir schnell genug lernen.«
»Schätz ich auch«, meinte Morley. »Aber lass uns zahme Pferde kaufen.«
Als sie die Straße erreichten, warfen sie beide einen letzten Blick auf das Anwesen.
»Ein Glück, dass wir von hier verschwinden«, meinte Morley. »Besonders nach dem, was heute hier passiert ist. Was bin ich froh, dass ich nicht mehr in diese Küche muss.«
Snip blickte seinen Freund stirnrunzelnd an. »Was redest du da?«
»Hast du nichts davon gehört?«
»Gehört? Was denn? Ich war in Fairfield und hab Nachrichten überbracht.«
Morley packte Snip am Arm, so dass sie gezwungen waren, keuchend stehen zu bleiben. »Von dem Feuer? Du hast nichts von dem Feuer gehört?«
»Feuer?« Snip war verwirrt. »Wovon redest du?«
Morley riss die Arme in die Höhe und erzeugte mit dem Speichel ein prasselndes Geräusch in der Kehle. Er breitete die Arme aus, offenbar, um die um sich greifenden Flammen nachzuahmen. »Plötzlich schoss es ungeheuer in die Höhe. Hat das ganze Brot verbrannt. Es wurde so heiß, dass ein Kessel geplatzt ist.«
»Nein«, meinte Snip erstaunt. »Wurde jemand verletzt?«
Morleys Gesicht verzog sich zu einem breiten, gehässigen Grinsen. »Gillie hat ziemlich schwere Verbrennungen abbekommen.« Er versetzte Snip einen Stoß in die Rippen. »Sie war gerade dabei, eine Soße zuzubereiten, als das Feuer verrückt zu spielen begann. Sie hat sich ihr hässliches Dörrpflaumengesicht verbrannt. Ihr Haar und alles brannte lichterloh.«
Morley lachte mit dem selbstzufriedenen Gefühl eines Menschen, der jahrelang auf Vergeltung gewartet hatte. »Es heißt, sie wird wahrscheinlich nicht überleben. Aber wenigstens wird sie für den Rest des Lebens entsetzliche Schmerzen haben.«
Snips Gefühle waren gemischt. Er empfand keinerlei Mitleid für Gillie, andererseits…
»Du solltest dich nicht so darüber freuen, dass eine Anderierin verletzt wurde, Morley. Das beweist bloß wieder unser hassenswertes hakenisches Wesen.«
Morley zog ein verächtliches Gesicht, und sie setzten sich abermals in Bewegung. Sie legten die gesamte Strecke rennend zurück und mussten sich dreimal in die Felder werfen, als eine Kutsche die Straße entlangkam. Sie versteckten sich entweder im Weizen oder im Zuckerrohr, je nachdem, welche Seite die beste Deckung bot. Dort blieben sie liegen und verschnauften, bis die Kutsche vorüber war.
In gewisser Hinsicht empfand Snip die Erfahrung des Fortlaufens eher als einen Akt der Befreiung denn als schreckliche Flucht. Weit weg vom Anwesen hatte er weniger Angst, gefasst zu werden. Jedenfalls nachts.
»Ich denke, wir sollten uns tagsüber verstecken«, meinte er zu Morley. »Wenigstens anfangs. Tagsüber verstecken wir uns unterwegs irgendwo, an einem Ort, wo wir sehen können, ob jemand kommt. Nachts können wir marschieren, ohne dass die Leute uns sehen, und wenn doch, werden sie nicht erkennen können, wer wir sind.«
»Aber was ist, falls uns jemand tagsüber findet, wenn wir schlafen?«
»Wir werden Wache stehen müssen. Genau wie die Soldaten. Einer von uns steht Wache, während der andere schläft.«
Morley schien Snips zwingende Argumentation für ein kleines Wunder zu halten. »Darauf wäre ich nie gekommen.«
Als sie sich den Straßen Fairfields näherten, wurden sie langsamer und gingen im Schritttempo weiter. Dort wussten sie sich ebenso sicher zu verstecken wie in den Feldern, wenn eine Kutsche die Straße entlangkam.
»Wir können uns Pferde besorgen«, meinte Snip, »und heute Nacht noch ein gutes Stück vorankommen.«
Morley dachte einen Augenblick nach. »Wie sollen wir aus Anderith herauskommen? Meister Campbell meinte, es gebe Orte, wo es keine Rolle spielt, dass wir Hakenier sind. Aber wie sollen wir an den Grenztruppen und den Dominie Dirtch vorbeikommen?«
Snip packte die Schulter von Morleys Wams und zog daran. »Wir sind Boten. Schon vergessen?«
»Na und?«
»Wir werden sagen, wir sind in offiziellen Geschäften unterwegs.«
»Boten haben offizielle Geschäfte außerhalb von Anderith?«
Snip ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen. »Nun, wer will schon das Gegenteil behaupten? Wenn wir sagen, wir seien in dringenden Geschäften unterwegs, kann uns niemand aufhalten, es sei denn, er erkundigt sich. Und das würde zu lange dauern.«
»Sie könnten verlangen, die Nachricht zu sehen.«
»Aber wir können doch niemandem geheime Nachrichten zeigen, oder? Wir werden einfach sagen, wir seien in geheimem Auftrag in ein fremdes Land unterwegs, dessen Namen wir nicht nennen können, mit einer wichtigen Nachricht, die wir niemandem zeigen dürfen.«
Morley grinste. »Ich glaube, das wird funktionieren. Ich glaube, wir schaffen es, von hier wegzukommen.«
»Darauf kannst du wetten.«
Unvermittelt riss Morley Snip zurück. »Aber wo wollen wir überhaupt hin, Snip? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?«
Diesmal war es Snip, der grinste.