19

Snip setzte sich ins Gras und schlug die Beine übereinander. Die kühlen Ziegelsteine an seinem schweißnassen Rücken waren ein angenehmes Gefühl. Tiefer sog er die lieblich duftende Nachtluft ein, die durch die offenen Fenster wehenden Wohlgerüche von schmorendem Fleisch, den sauberen Geruch des Apfelholzstoßes. Sie würden Überstunden machen müssen, um das Durcheinander nach dem Fest fortzuräumen, daher hatte man ihnen eine willkommene Ruhepause gewährt.

Morley reichte ihm die Flasche. Bevor sie sich ordentlich vollaufen lassen konnten, würde es spät werden, aber wenigstens eine Kostprobe konnten sie sich gönnen. Snip nahm einen kräftigen Schluck. Bevor er den Schnaps jedoch hinunterschlucken konnte, fing er heftig an zu husten, wodurch er den größten Teil wieder ausspuckte.

Morley lachte. »Hab doch gesagt, das Zeug ist stark.«

Snip wischte sich mit der Rückseite seines Ärmels über das Kinn. »Wohl wahr. Woher hast du das Zeug? Es ist gut.«

Snip hatte noch nie etwas so Starkes getrunken, das beim Hinunterrinnen derart brannte. Er hatte gehört, angeblich sei das Zeug gut, wenn es brannte. Sollte sich ihm je die Gelegenheit bieten, hatte man ihm erzählt, wäre er ein Narr, so etwas Gutes auszuschlagen. Er mußte abermals husten. Der hintere Teil seiner Nase, tief in seinem Rachen, brannte fürchterlich.

Morley beugte sich zu ihm. »Irgendein wichtiger Kerl hat es zurückgehen lassen. Hat behauptet, es sei ein übles Gesöff. Wollte sich vor aller Augen wichtig machen. Pete, der Mundschenk, hat das Zeug zurückgebracht und weggestellt. Als er sich eine andere Flasche schnappte und damit nach draußen lief, habe ich mir das Zeug gegriffen und unters Hemd geschoben, bevor jemand etwas mitbekommen hat.«

Snip war den Wein gewöhnt, den sie beim Abräumen abstauben konnten. Gewöhnlich leerte er fast leere Fässer und Flaschen, sammelte den Bodensatz und das, was übrig blieb. Den seltenen Schnaps hatte er noch nicht in die Finger bekommen.

Morley tippte gegen den Flaschenboden und hielt Snip die Flasche schräg an die Lippen. Snip trank, vorsichtig geworden, einen Schluck, den er ohne auszuspucken hinunterbekam. Sein Magen fühlte sich an wie ein brodelnder Kessel. Morley nickte anerkennend. Snip setzte ein stolzes, selbstgefälliges Grinsen auf.

Durch die weit entfernten, offenen Fenster hörte er im Versammlungssaal all die Gäste, die auf den Beginn des Festes warteten, miteinander sprechen und lachen. Snip spürte die Wirkung des Schnapses bereits. Später, nach dem Aufräumen, würden sie sich dann so richtig betrinken können.

Snip rieb sich die Gänsehaut an seinen Armen. Die Musik, die aus den Fenstern wehte, brachte ihn in Stimmung. Musik hatte immer diese Wirkung auf ihn, sie gab ihm das Gefühl, einfach aufstehen und etwas tun zu können. Was, wußte er nicht, irgendwas jedenfalls. Etwas Gewaltiges.

Morley streckte die Hand aus, und Snip reichte ihm die Flasche. Er sah zu, wie sich Morleys Adamsapfel mit jedem Schluck auf und ab bewegte. Die Musik wurde gefühlvoller, steigerte aufgeregt das Tempo. Sie ließ ihn, zusätzlich zur Wirkung des Schnapses, erschaudern.

Ein ganzes Stück hinter Morley erblickte Snip einen großen Menschen, der den Pfad entlang auf sie zukam. Die Person bewegte sich zielstrebig voran, nicht so, als mache sie einen Spaziergang, sondern als habe sie ein festes Ziel. Im gelblichen Licht, das aus allen Fenstern fiel, sah Snip die silberne Scheide blinken. Er sah die edlen Züge und die elegante Körperhaltung.

Dalton Campbell! Er kam geradewegs auf sie zu.

Snip stieß seinen Freund mit dem Ellenbogen an und stand auf. Er stellte sich fest auf die Füße und zog seine Jacke zurecht. Die Vorderseite war feucht vom Schnaps, den er ausgehustet hatte. Rasch strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Er stieß Morley mit dem Fuß an und machte ihm mit dem Daumen ein Zeichen, aufzustehen.

Dalton Campbell umrundete den Holzstoß und hielt weiter auf sie zu. Der große Anderier schien genau zu wissen, wohin er wollte. Wenn die beiden, Snip und Morley, Alkohol klauten und sich zu zweit heimlich davonstahlen, verrieten sie nie jemandem, wohin sie gingen.

»Snip, Morley«, rief Dalton Campbell im Näherkommen.

»'n abend, Meister Campbell«, antwortete Snip und hob die Hand zum Gruß.

Snip vermutete, bei all dem Licht aus den Fenstern war es wohl keine große Schwierigkeit, etwas zu erkennen. Morley war zweifellos deutlich zu erkennen, Snip sah, wie er die Flasche hinter seinem Rücken versteckte. Wahrscheinlich hatte der Adjutant des Ministers sie von einem Fenster aus beobachtet, als sie nach draußen zum Holzstoß gegangen waren.

»'n abend, Meister Campbell«, sagte nun auch Morley Dalton Campbell betrachtete sie von Kopf bis Fuß, als inspizierte er Soldaten. Er streckte seine Hand aus.

»Darf ich?«

Morley zuckte zusammen, holte dann aber doch die Flasche hinter seinem Rücken hervor und reichte sie ihm. »Wir hatten bloß … das heißt…«

Dalton Campbell nahm einen ordentlichen Schluck.

»Ahh«, machte er, als er Morley die Flasche zurückgab. »Ihr zwei könnt euch glücklich schätzen, eine so gute, noch dazu fast volle Flasche Schnaps euer eigen zu nennen.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. »Ich störe hoffentlich nicht.«

Sowohl Snip als auch Morley schüttelten heftig den Kopf. Sie waren verblüfft, daß Dalton Campbell aus ihrer Flasche trank, zumal er sie anschließend zurückgegeben hatte.

»Gewiß nicht, Sir, Meister Campbell«, erwiderte Morley.

»Na schön«, meinte Campbell. »Ich habe euch beide gesucht, denn ich habe da ein kleines Problem.«

Snip beugte sich ein Stück vor und senkte die Stimme. »Ein Problem, Meister Campbell? Können wir Euch vielleicht irgendwie helfen?«

Campbell sah erst Snip in die Augen, dann Morley. »Tja, um ganz ehrlich zu sein, genau aus diesem Grund habe ich euch gesucht. Seht ihr, ich dachte, vielleicht wollt ihr beide eine Gelegenheit, euch zu beweisen – und mir zu zeigen, daß ihr die Fähigkeiten besitzt, die ich mir von euch erhoffe. Ich könnte mich selber darum kümmern, dachte aber, ihr beide würdet euch über eine Gelegenheit freuen, etwas Sinnvolles zu tun.«

Snip fühlte sich, als hätten die Guten Seelen höchstpersönlich bei ihm angefragt, ob er ein gutes Werk tun wolle.

Morley stellte die Flasche ab und drückte seine Schultern durch wie ein Soldat, der die Grundstellung einnimmt. »Ja, Sir, Meister Campbell, über eine solche Gelegenheit würde ich mich ganz bestimmt freuen.«

Snip richtete sich auf. »Ich auch, Meister Campbell. Ein Wort von Euch, und wir beide beweisen Euch gerne, daß wir Männer sind, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.«

»Gut … sehr gut«, sagte er, sie musternd. Er zog das Schweigen noch ein wenig in die Länge, bevor er erneut das Wort ergriff. »Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, sogar um eine sehr wichtige. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, sie einem anderen anzuvertrauen, einem Mann mit mehr Erfahrung, beschloß dann aber, euch beiden Gelegenheit zu geben, mir zu beweisen, daß man euch vertrauen kann.«

»Was immer Ihr verlangt, Meister Campbell«, antwortete Snip, und es war ihm ernst damit. »Ihr braucht es bloß zu sagen.«

Snip zitterte vor Aufregung, endlich die Gelegenheit zu erhalten, Dalton Campbell seine Fähigkeiten zu beweisen. Die Musik schien ihn ganz mit dem Verlangen zu erfüllen, etwas Bedeutendes zu tun.

»Der Herrscher fühlt sich nicht gesund«, begann Campbell.

»Das ist schrecklich«, meinte Morley.

»Das tut uns leid«, fügte Snip hinzu.

»Ja, bedauerlich, andererseits ist er schon alt, Minister Chanboor dagegen ist noch jung und voller Tatendrang. Er wird zweifellos zum Herrscher ernannt werden, was wahrscheinlich nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Die meisten Direktoren sind hier, um geschäftliche Dinge mit uns zu besprechen – geschäftliche Dinge, die den Herrscherthron betreffen. Sie sondieren sozusagen das Terrain, solange sie noch die Muße dazu haben, und wollen gewisse Dinge über den Minister in Erfahrung bringen. Soeben sind sie dabei, seinen Charakter zu prüfen, um festzustellen, was für eine Art Mann er ist. Um festzustellen, ob er ein Mann ist, dem sie den Rücken stärken können, wenn die Zeit gekommen ist.«

Snip warf Morley einen kurzen Blick zu und sah, daß dieser seine aufgerissenen Augen auf Campbell geheftet hatte. Snip mochte kaum glauben, daß er so wichtige Neuigkeiten von einem so bedeutenden Mann erfuhr – schließlich waren sie bloß Hakenier. Er dagegen war der Adjutant des Ministers, ein bedeutender Anderier, der sie über Angelegenheiten von allerhöchster Wichtigkeit in Kenntnis setzte.

»Dem Schöpfer sei Dank«, meinte Snip leise. »Endlich erfährt unser Minister die Anerkennung, die ihm gebührt.«

»Sehr richtig«, meinte Campbell seltsam gedehnt. »Nun, die Sache ist die: Es gibt Personen, die die Ernennung des Ministers zum Herrscher gerne verhindern würden. Diese Personen haben die Absicht, dem Minister Schaden zuzufügen.«

»Ihm Schaden zufügen?« fragte Morley, sichtlich überrascht.

»Ganz recht. Ganz bestimmt wißt ihr beide noch, wie der Herrscher beschützt werden muß und daß alles, was man zum Schutz des Herrschers unternimmt, einer Tugend gleichkommt?«

»Klar, Sir«, antwortete Morley.

»Klar, Sir«, wiederholte Snip mechanisch. »Und jetzt, da der Minister Herrscher werden wird, sollte er ganz genauso beschützt werden.«

»Sehr gut, Snip.«

Snip strahlte vor Stolz. Er wünschte nur, der Alkohol würde es ihm nicht so schwer machen, die Augen auf einen Punkt zu konzentrieren.

»Meister Campbell«, bestätigte Morley, »wir wären Euch gerne behilflich und würden Euch gerne unsere Fähigkeiten beweisen. Wir sind bereit.«

»Ganz recht, Sir, das sind wir, bestimmt«, fügte Snip hinzu.

»Nun, dann sollt ihr beide eure Chance bekommen. Gelingt es euch, alles richtig zu machen und, was auch geschieht, kein Wort darüber zu verlieren – und damit meine ich, bis ins Grab –, wird es mich freuen, daß mein Vertrauen in euch berechtigt war.«

»Bis ins Grab«, wiederholte Snip. »Klar, Sir, das schaffen wir.«

Snip vernahm ein seltsam metallisches Geräusch. Zu seinem Entsetzen erkannte er, daß sich eine Schwertspitze unter seinem Kinn befand.

»Sollte sich jedoch einer von euch als meines Vertrauens nicht würdig erweisen, wäre ich überaus enttäuscht, denn dann geriete der Minister in Gefahr. Versteht ihr das? Ich werde nicht zulassen, daß jemand, dem ich vertraue, mich im Stich läßt. Oder den zukünftigen Herrscher. Habt ihr beide das begriffen?«

»Ja, Sir!« brüllte Snip beinahe.

Die Schwertspitze schnellte zu Morleys Kehle hinüber, verharrte dort. »Ja, Sir!« wiederholte er.

»Habt ihr irgend jemandem verraten, wo ihr heute abend einen trinken wollt?«

»Nein, Sir«, antworteten Morley und Snip wie aus einem Mund.

»Und doch wußte ich, wo ich euch finden würde.« Der große Anderier zog eine Braue hoch. »Denkt immer daran, wenn ihr jemals auf die Idee verfallen solltet, ihr könntet euch vor mir verstecken. Macht ihr mir Ärger, werde ich euch finden, egal wo ihr euch rumtreibt.«

»Meister Campbell«, meinte Snip, nachdem er hatte schlucken müssen, »sagt uns einfach, wie wir helfen können, und wir werden es tun. Ihr könnt uns vertrauen. Wir werden Euch nicht im Stich lassen – das schwöre ich.«

Morley nickte. »Das stimmt. Snip spricht die Wahrheit.« Dalton Campbell schob sein Schwert in die Scheide zurück und lächelte. »Ich bin bereits jetzt stolz auf euch beide, ihr werdet es hier noch weit bringen. Ich weiß einfach, ihr werdet euch meines Vertrauens würdig erweisen.«

»Jawohl, Sir«, meinte Snip. »Ihr könnt auf uns zählen.« Dalton Campbell legte Snip die eine Hand auf die Schulter, die andere Morley. »Also gut. Dann hört jetzt genau zu. «


»Da kommt sie«, flüsterte Morley Snip ins Ohr.

Snip blickte in die Richtung, in die sein Freund zeigte, und nickte. Morley entfernte sich und trat in den dunklen Schatten des offenen Lieferanteneingangs, während Snip hinter ein paar Fässern in Deckung ging, die neben der Laderampe aufgestapelt standen. Snip mußte daran denken, wie er Brownie vorhin mit dem Metzgerkarren auf der anderen Straßenseite hatte stehen sehen. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen.

Auf dem Weg hierher hatten sie darüber gesprochen, und Morley hatte die Sache ganz genauso gesehen. So sehr ihm beim Gedanken daran auch das Herz klopfte, er würde auf keinen Fall zulassen, daß Meister Campbells Vertrauen in ihn enttäuscht wurde. Morley dachte genauso.

Die Musik, die aus den offenen Fenstern auf der anderen Seite des Rasens schallte – Streicher, Bläser und eine Harfe –, erfüllte ihn mit Entschlossenheit und ließ seine Brust vor Stolz schwellen, daß er von Dalton Campbell auserwählt worden war.

Der Minister – der zukünftige Herrscher – mußte beschützt werden.

Ruhig und mit leisen Schritten stieg sie die vier Stufen zur Laderampe hinauf. Sie sah sich im schwachen Licht um, reckte den Hals und spähte in die tiefen Schatten. Snip schluckte, als er bemerkte, wie gut sie aussah. Sie war älter, aber zweifellos ein Blickfang. Noch nie hatte er eine anderische Dame so ausgiebig angestarrt wie sie.

Morley verstellte seine Stimme, damit sie tiefer und älter klang.

»Claudine Winthrop?«

Sie drehte sich erwartungsvoll zu Snips Freund um, der in dem dunklen Toreingang stand. »Ich bin Claudine Winthrop«, antwortete sie flüsternd. »Dann habt Ihr meine Nachricht also erhalten?«

»Ja«, antwortete Morley.

»Dem Schöpfer sei Dank. Direktor Linscott, ich muß unbedingt mit Euch über Minister Chanboor sprechen. Er beteuert, die Kultur Anderiths hochzuhalten, dabei gibt er das schlechteste Vorbild ab, das man sich auf seinem – oder irgendeinem anderen – Posten vorstellen kann. Bevor Ihr ihn als zukünftigen Herrscher in Betracht zieht, müßt Ihr unbedingt von seiner Verdorbenheit erfahren. Das Schwein hat mich mit Gewalt genommen – mich vergewaltigt. Aber das ist erst der Anfang, es kommt noch schlimmer. Um Eures Volkes willen, Ihr müßt mich anhören.«

Snip beobachtete, wie sie dastand, während das sanfte gelbliche Licht aus den Fenstern auf ihr hübsches Gesicht fiel. Dalton Campbell hatte nichts davon erwähnt, daß sie so hübsch aussah. Sie war natürlich älter und gehörte daher nicht zu den Frauen, die er normalerweise für hübsch halten würde. Es überraschte ihn, daß er eine so alte Frau – sie sah aus wie beinahe dreißig – anziehend fand. Langsam, lautlos, atmete er durch und versuchte, seinen Entschluß zu festigen. Trotzdem, er konnte nicht anders, er mußte ihr Kleid anstarren, ober besser, jene Partien, die es nicht bedeckte.

Snip rief sich die beiden Frauen ins Gedächtnis, die sich im Treppenhaus über solche Kleider unterhalten hatten, wie Claudine Winthrop in diesem Augenblick eines trug. Noch nie hatte Snip die Brüste einer Frau in dieser Deutlichkeit gesehen. Die Art, wie sie sich hoben, wenn sie die Hände rang, ließ ihm fast die Augen aus dem Kopf treten.

»Wollt Ihr nicht ins Freie treten?« flüsterte sie in die Dunkelheit hinein, wo Morley lauerte. »Bitte. Ich fürchte mich.«

Mit einem Schlag wurde Snip bewußt, daß er seine Rolle einzunehmen hatte. Mit behutsamen Schritten, damit sie ihn nicht kommen hörte, schlich er hinter den Fässern hervor.

Der Magen schien sich ihm zusammenzuschnüren; er mußte sich den Schweiß aus den Augen wischen, um sehen zu können. Er versuchte ruhig zu atmen, sein Herz schien allerdings einen eigenen Willen zu haben, doch ihm blieb keine andere Wahl. Aber bei den Gütigen Seelen, er war mehr als verängstigt.

»Direktor Linscott?« rief sie leise in Morleys Richtung.

Snip packte sie an den Ellenbogen und bog ihr die Arme auf den Rücken. Sie erschrak. Er war überrascht, wie wenig Mühe es ihm bereitete, ihre Arme auf dem Rücken festzuhalten, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen sträubte. Sie war durcheinander und verdutzt. Als Morley sah, daß Snip sie in seiner Gewalt hatte, sprang er aus den Schatten hervor.

Bevor sie groß schreien konnte, verpaßte ihr Morley einen Schlag in die Magengrube. Der mächtige Hieb hätte sowohl sie als auch Snip beinahe von den Beinen gerissen.

Claudine Winthrop krümmte sich und spie Erbrochenes über die gesamte Laderampe. Snip ließ ihre Arme los, sie verschränkte sie vor dem Unterleib und fiel, sich heftig übergebend, auf die Knie. Sowohl er als auch Morley wichen zurück, als es über Rampe und Kleid spritzte, waren aber nicht gewillt, sich mehr als eine Armeslänge von ihr zu entfernen.

Nach einigen längeren Krämpfen richtete sie sich wieder auf. Sie schien fertig zu sein und versuchte, keuchend nach Atem ringend, wieder auf die Beine zu kommen. Morley half ihr hoch und wirbelte sie herum. Er packte zu und bog ihr die Arme auf den Rücken.

Snip wußte, das war seine Chance, sich zu beweisen. Dies war seine Chance, den Minister zu beschützen. Dies war die Gelegenheit, Dalton Campbell stolz auf ihn zu machen.

Snip boxte sie in den Magen, so fest er sich traute.

Außer seinen Freunden hatte er noch nie jemanden geboxt, und das war nur zum Spaß gewesen. Noch nie so wie hier, nicht ernsthaft, nicht, um absichtlich jemanden zu verletzen. Ihre Taille war schmal und nachgiebig.

Ihm wurde übel. Ihm war, als müßte er sich ebenfalls übergeben. Genau so hatten sich seine hakenischen Vorfahren aufgeführt. Genau aus diesem Grund waren sie so schrecklich. So wie er.

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen versuchte sie ein ums andere Mal, Luft zu holen, was ihr aber nicht zu gelingen schien. Verzweifelt rang sie nach Atem, während sie ihn mit den Augen fixierte wie ein Schwein seinen Schlächter. Genau wie ihre anderischen Vorfahren die seinen angestarrt hatten.

»Wir sollen dir etwas ausrichten«, meinte Snip.

Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Snip das Reden übernahm. Morley konnte sich nicht so gut merken, was sie Claudine Winthrop ausrichten sollten. Snip hatte schon immer das bessere Gedächtnis gehabt.

Schließlich gelang es ihr, wieder zu Atem zu kommen. Snip ging mit gebeugtem Oberkörper auf sie los und landete drei Treffer. Schnell. Hart. Wutentbrannt.

»Hörst du mir auch gut zu?« knurrte er.

»Du kleiner hakenischer Bastard…«

Snip schlug mit voller Wucht zu. Der mächtige Schlag tat ihm an der Faust weh, selbst Morley wankte einen Schritt nach hinten. Sie hing vornübergebeugt in Morleys Griff und erbrach sich, trocken würgend. Snip hatte sie ins Gesicht schlagen, ihr die Zähne einschlagen wollen, Dalton Campbell hatte ihnen jedoch unmißverständlich zu verstehen gegeben, sie nur dort zu schlagen, wo man nichts davon sehen konnte.

»An deiner Stelle würde ich ihn nicht nochmal so nennen.« Morley packte eine Hand voll ihrer Haare und riß brutal hoch. Das gewaltsame Hochbiegen bewirkte, daß ihre Brüste aus dem Ausschnitt sprangen. Snip erstarrte. Er spielte kurz mit dem Gedanken, die Vorderseite ihres Kleides wieder hochzuziehen. Morley beugte sich über ihre Schulter, um selbst einen Blick darauf zu werfen. Er sah Snip feixend an.

Sie blickte an sich herunter und gewahrte das Malheur. Daraufhin legte sie resigniert den Kopf in den Nacken und schloß die Augen.

»Bitte«, sagte sie, nach Atem ringend, »tut mir nicht mehr weh, ja?«

»Bist du bereit, uns zuzuhören?«

Sie nickte. »Ja, Sir.«

Das überraschte Snip noch mehr als der Anblick ihrer nackten Brüste. Sein Lebtag hatte ihn noch nie jemand mit ›Sir‹ angeredet. Die beiden bescheidenen Worte klangen so fremd in seinen Ohren, daß er einfach dastand und sie anstarrte. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie sich über ihn lustig machen wollte. Ihr Gesichtsausdruck, als sie ihm schließlich in die Augen sah, verriet ihm, daß dem nicht so war.

Die Musik erfüllte ihn mit gänzlich ungekannten Gefühlen. Noch nie war er wichtig gewesen, noch nie hatte ihn jemand ›Sir‹ genannt. Noch am Morgen hatte man ihn ›Schnapp‹ gerufen. Und jetzt redete eine Anderierin ihn mit ›Sir‹ an. Und alles wegen Dalton Campbell.

Snip versetzte ihr einen weiteren Hieb in die Magengrube. Einfach so, weil ihm danach war.

»Bitte, Sir!« greinte sie. »So hört doch auf, bitte! Sagt mir, was Ihr wollt. Ich werde es tun. Wenn Ihr mich wollt, werde ich mich bereitwillig fügen – nur tut mir bitte nicht mehr weh. Bitte, Sir.«

Obwohl sein Tun ihn nach wie vor mit einem Übelkeit erregenden Gefühl des Ekels erfüllte, das ihm schwer im Magen lag, kam Snip sich wichtiger vor als je zuvor. Sie, eine Anderierin, stand mit entblößten Brüsten vor ihm und nannte ihn ›Sir‹.

»Jetzt hör zu, du dreckiges kleines Miststück.«

»Ja, Sir«, wimmerte sie. »Ich verspreche es. Ich werde zuhören. Was immer Ihr sagt.«

Sie wirkte so erbärmlich, so hilflos. Wenn vor nicht mal einer Stunde eine Anderierin, vielleicht sogar diese Claudine Winthrop, von ihm verlangt hätte, auf die Knie zu fallen und den Fußboden mit seiner Zunge sauber zuschlecken, er wäre der Aufforderung zitternd nachgekommen. Nie hätte er sich träumen lassen, wie einfach es sein würde. Ein paar Schläge, und sie flehte darum, tun zu dürfen, was er verlangte. Nie hätte er gedacht, wie einfach es sein würde, bedeutend zu sein und die Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.

Snip fiel ein, was Dalton Campbell ihm zu sagen aufgetragen hatte.

»Du bist vor dem Minister herumstolziert, stimmt’s? Du hast ihm Andeutungen gemacht, hab ich recht?«

Er ließ keinen Zweifel daran, daß es im Grunde keine Frage war. »Ja, Sir.«

»Solltest du jemals wieder auf die Idee kommen, herumzuerzählen, der Minister hätte dich vergewaltigt, wird dir das leid tun. So etwas zu behaupten ist Verrat. Kapiert? Verrat. Darauf steht der Tod. Man wird dich nicht mal wiedererkennen, wenn man deine Leiche findet. Hast du das kapiert, Miststück? Man wird deine Zunge an einen Baum genagelt finden. Es ist eine Lüge, daß der Minister dich vergewaltigt hat. Eine dreckige, verräterische Lüge. Sag so was nochmal, und man wird dafür sorgen, daß du eines qualvollen Todes stirbst.«

»Ja, Sir«, schluchzte sie. »Ich werde nie wieder lügen. Ich möchte mich entschuldigen. Bitte, werdet Ihr mir verzeihen? Ich werde niemals wieder lügen, das verspreche ich.«

»Du hast dich vor dem Minister produziert und ihm eindeutige Angebote gemacht. Aber es ist unter der Würde des Ministers, sich auf eine Affäre mit dir oder irgendeiner anderen Frau einzulassen. Er hat dich abgewiesen. Er hat dich nicht haben wollen.«

»Ja, Sir.«

»Es ist nichts Unschickliches geschehen. Kapiert? Der Minister hat weder mit dir noch mit einer anderen je etwas Unschickliches getan.«

»Ja, Sir«, greinte sie mit einem langgezogenen Schluchzer und ließ den Kopf hängen.

Snip zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihr die Augen ab. Selbst in dem schwachen Licht konnte er erkennen, daß ihre Schminke nach all dem Gereihere und Geheule ein wüstes Durcheinander war.

»Hör jetzt auf mit dem Geflenne, du verschmierst dir völlig das Gesicht. Am besten gehst du auf dein Zimmer und machst dich zurecht, bevor du auf das Fest zurückkehrst.«

Schniefend versuchte sie, ihre Tränen zu unterdrücken. »Ich kann jetzt nicht mehr auf das Fest zurück. Mein Kleid ist ruiniert. Ich kann unmöglich zurück.«

»Doch, du kannst und du wirst. Mach dein Gesicht zurecht und zieh dir ein anderes Kleid an. Du wirst zurückgehen. Noch ein einziger Patzer, und du bekommst den Stahl dieses Schwertes zu spüren.«

Sie riß vor Angst die Augen auf. »Wer…«

»Spielt keine Rolle. Das ist für dich ohne jede Bedeutung. Für dich zählt nur, daß du begriffen hast und weißt, was geschieht, wenn du noch einmal solche Lügen verbreitest.«

Sie nickte. »Ich habe verstanden.«

»Sir!« fuhr Snip sie an. »Ich habe verstanden, Sir.«

Sie drängte nach hinten gegen Morley. »Ich habe verstanden, Sir. Ja, Sir, ehrlich, ich habe verstanden.«

»Gut«, meinte Snip.

Sie blickte an sich herab. Ihre Unterlippe bebte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Bitte, Sir, könnte ich mein Kleid in Ordnung bringen?«

»Wenn ich mit Reden fertig bin.«

»Ja, Sir.«

»Du bist draußen spazierengegangen. Du hast mit niemandem gesprochen. Kapiert? Mit niemandem. Von jetzt an hältst du einfach den Mund über den Minister, oder du bekommst ein Schwert in den Rachen, sobald du ihn das nächste Mal aufmachst. Hast du das alles begriffen?«

»Ja, Sir.«

»Na schön.« Snip fuchtelte mit der Hand. »Dann mach endlich und zieh dein Kleid wieder hoch.«

Morley schielte ihr lüstern über die Schulter, während sie sich richtete. Snip fand nicht, daß das Kleid mit seinem tiefen Ausschnitt im angezogenen Zustand weniger offenherzig war, aber zweifellos genoß er es, dabeizustehen und ihr beim Anziehen zuzusehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dergleichen jemals zu Gesicht zu bekommen, schon gar nicht bei einer Anderierin.

Nach der Art, wie sie sich keuchend aufrichtete, mußte Morley irgend etwas hinter ihr, oben unter dem Kleid, angestellt haben. Snip hätte ebenfalls gerne etwas angestellt, doch dann fiel ihm Dalton Campbell ein.

Snip packte Claudine Winthrop am Arm und zerrte sie ein paar Schritte vor. »So, und jetzt verschwinde, los.«

Sie warf Morley kurz einen verstohlenen Blick zu, dann sah sie Snip wieder an. »Ja, Sir. Danke.« Sie machte einen hastigen Knicks. »Vielen Dank, Sir.«

Ohne ein weiteres Wort raffte sie ihr Kleid, eilte die Stufen hinunter und rannte über den Rasen in die Nacht.

»Wieso hast du sie weggeschickt?« wollte Morley wissen. Er stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wir hätten uns mit ihr amüsieren können. Sie hätte alles getan, was wir wollen. Und nachdem ich gesehen hatte, was sie zu bieten hat, hätte ich gewollt.«

Snip beugte sich zu seinem verstimmten Freund hinüber. »Weil Meister Campbell nichts davon gesagt hat, wir könnten irgendwas dergleichen tun, deshalb. Wir haben Meister Campbell einen Gefallen getan, das ist alles. Mehr nicht.«

Morley machte ein unzufriedenes Gesicht. »Schon möglich.« Er blickte zum Holzstoß hinüber. »Wir haben noch immer eine ganze Menge zu trinken.«

Snip mußte an den verängstigten Ausdruck in Claudine Winthrops Gesicht denken. Er mußte daran denken, wie sie geheult und geschluchzt hatte. Natürlich wußte er, daß Hakenierinnen weinten, aber daß Anderierinnen weinten, hatte Snip bis dahin nicht einmal für möglich gehalten.

Der Minister war Anderier, Snip vermutete daher, daß er nie etwas wirklich falsch machen könnte. Bestimmt hatte sie das alles mit ihrem tief ausgeschnittenen Kleid und ihrem Verhalten ihm gegenüber provoziert. Snip hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sich viele Frauen ihm gegenüber aufspielten. Als hätten sie Spaß daran, wenn er sie nähme.

Er mußte daran denken, wie Beata weinend auf dem Fußboden gehockt hatte. Er mußte an den erbärmlichen Ausdruck auf Beatas Gesicht dort oben denken, als der Minister sie herausgeworfen hatte, nachdem er mit ihr fertig war.

Und Snip mußte daran denken, wie sie ihn geschlagen hatte. Das alles überstieg sein Begriffsvermögen. Im Augenblick wollte Snip nichts weiter, als sich bis zur Besinnungslosigkeit vollaufen zu lassen.

»Du hast recht. Gehen wir und genehmigen wir uns einen. Wir haben eine Menge zu feiern. Heute abend sind wir zu bedeutenden Männern geworden.«

Den Arm über die Schulter des anderen gelegt, schlugen sie den Weg zu der Stelle ein, wo ihre Flasche wartete.

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