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So begründet er selber seine Überlegungen auch fand, Richard hatte nicht den Eindruck, daß Kahlan überzeugt war. Sie schien nicht einmal der Vernunft zugänglich zu sein, sie wirkte einfach nur verärgert.

»Hast du Zedd von … ihr erzählt?« Aufgebracht deutete Kahlan mit einer Handbewegung auf Du Chaillu. »Hast du? Du muß ihm doch irgend etwas erzählt haben.«

Er konnte ihr nachempfinden, wie sie sich fühlte. Er würde auch nicht gerne erfahren wollen, daß sie bereits mit einem anderen verheiratet war, von dem zu erzählen sie aus Nachlässigkeit vergessen hatte – ganz gleich, wie unschuldig sie daran sein mochte –, selbst wenn ihr Verhältnis zu diesem Mann so unbedeutend war wie offensichtlich seines zu Du Chaillu.

Immerhin, hier ging es um etwas erheblich Wichtigeres als um irgendeine gewundene Klausel, die Du Chaillu zu seiner ersten Frau machte. Es ging um etwas extrem Gefährliches, das mußte Kahlan begreifen. Sie mußte erkennen, daß sie in großen Schwierigkeiten steckten.

Sie hatten bereits wertvolle Zeit vergeudet. Er betete zu den Guten Seelen, daß er Kahlan dazu bringen konnte, die Wahrheit dessen zu erkennen, was er ihr erzählte, ohne ihr bis in die letzte Einzelheit erklären zu müssen, woher er wußte, daß es stimmte.

»Wie ich bereits sagte, Kahlan, bis eben wußte ich selbst nicht einmal mehr davon, denn damals war ich der Ansicht, die Ehe sei nicht rechtskräftig, daher war mir auch nicht bewußt, sie könnte irgendeinen Einfluß auf all dies haben. Außerdem, wann hätte ich Zedd davon erzählen sollen? Juni starb, bevor wir Gelegenheit hatten, uns eingehend mit ihm zu unterhalten, und kurz darauf hat Zedd sich diese Geschichte über den Lauer ausgedacht und uns mit diesem sinnlosen Auftrag losgeschickt.«

»Woher wußte er dann davon? Um uns hereinzulegen, hätte er es erst einmal wissen müssen. Woher wußte Zedd, daß ich tatsächlich deine dritte Frau bin – wenn auch nur aufgrund irgendeines…« Sie ballte die Fäuste »… dummen, alten Gesetzes, das du schlauerweise vergessen hast?«

Richard warf die Hände in die Höhe. »Wenn es nachts regnet, muß man die Wolken nicht sehen, um zu wissen, daß Wassertropfen vom Himmel fallen. Sobald Zedd etwas sicher weiß und er überzeugt ist, daß es Ärger bedeutet, schert er sich nicht mehr um das Woher, sondern überlegt, wie er die undichte Stelle im Dach stopfen kann.«

Sie nahm den Nasenrücken zwischen die Zeigefinger und atmete ein. »Vielleicht glaubt er tatsächlich, was er uns über den Lauer erzählt hat.« Kahlan bedachte Richards erste Frau mit einem kühlen Blick. »Vielleicht glaubt er es, weil es die Wahrheit ist.«

Richard schüttelte den Kopf. »Wir müssen der Sache ins Auge sehen. Wenn wir uns vor der Wahrheit verschließen und auf eine Lüge hoffen, machen wir alles nur noch schlimmer. Die ersten Menschen sterben bereits.«

»Junis Tod beweist nicht, daß die Chimären aus den Grußformeln bereits auf freiem Fuß sind.«

»Es geht nicht allein um Juni. Die Anwesenheit der Chimären war auch der Grund dafür, daß das Baby tot geboren wurde.«

»Was?!«

Kahlan fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durchs Haar. Richard hatte Verständnis für ihre Überzeugung, der Lauer sei dafür verantwortlich und nicht die Chimären, denn im Gegensatz zu den Chimären hatte sie für den Lauer eine Erklärung. Doch Wunschdenken allein reichte nicht aus.

»Erst vergißt du, daß du bereits eine andere Frau hast, und dann flüchtest du dich in irgendeine wilde Phantasie. Wie kommst du nur zu einer solchen Schlußfolgerung, Richard?«

»Weil die Chimären durch ihre Anwesenheit in dieser Welt auf irgendeine Weise die Magie vernichten. Und die Schlammenschen verfügen über Magie.«

Obwohl die Schlammenschen ein einfaches Leben in aller Abgeschiedenheit führten, unterschieden sie sich von allen anderen Völkern; sie allein besaßen die Fähigkeit, ihre Ahnenseelen in einer Versammlung herbeizurufen und mit den Toten in Verbindung zu treten. Sie selbst waren zwar der Ansicht, keine Magie zu besitzen, trotzdem konnten allein die Schlammenschen ihre Ahnen von jenseits des äußeren Kreises der Huldigung herbeirufen und sie durch die Grenze des Schleiers in den inneren Kreis des Lebens geleiten, wenn auch nur für kurze Zeit.

Sollte die Imperiale Ordnung den Krieg gewinnen, würden die Schlammenschen wie so viele andere mit der Zeit hingemetzelt werden, nur weil sie Magie besaßen. Jetzt, da die Chimären auf freiem Fuß waren, würden sie vermutlich nicht mehr lange genug leben, um sich gegen diese Möglichkeit zur Wehr zu setzen.

Richard bemerkte Chandalen, der nicht weit entfernt aufmerksam lauschte. »Die Schlammenschen besitzen die einzigartige magische Fähigkeit, eine Versammlung einzuberufen. Jeder von ihnen wird mit dieser Fähigkeit, mit dieser Magie, geboren; das macht sie für die Chimären angreifbar. Zedd erklärte, was ich auch in Kolos Tagebuch bestätigt fand, daß die Schwachen zuerst betroffen sind.« Besorgnis milderte Richards Tonfall. »Was könnte schwächer sein als ein ungeborenes Kind?«

Kahlan, die Hand auf dem Stein an ihrer Halskette, wich seinem Blick aus; sie schien ihren Zorn hinter Nachsicht und Verständnis verbergen zu wollen.

»Ich spüre meine Kraft noch – genau wie immer. Wie du schon sagtest, wenn die Chimären tatsächlich auf freiem Fuß sind, wären sie für das Schwinden der Magie verantwortlich. Nur haben wir dafür keinerlei Beweis. Meinst du nicht, ich wüßte, wenn es so wäre? Hältst du mich für so erbärmlich unerfahren, was die Einschätzung meiner eigenen Kraft betrifft? Wir dürfen keine übereilten Schlüsse ziehen, Richard. Es kommt immer wieder vor, daß Neugeborene sterben. Das ist kein Beweis für das Schwinden der Magie.«

Richard wandte sich an Cara. Sie stand nicht weit entfernt und hörte zu, während sie das Grasland, die Jäger der Schlammenschen und ganz besonders die Baka Tau Mana im Auge behielt.

»Cara, seit wann ist Euer Strafer wirkungslos?« fragte er.

Cara schien allen Mut zu verlieren. Hätte er sie geohrfeigt, sie hätte kaum bestürzter aussehen können. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort hervor.

Sie schob ihr Kinn nach vorn und besann sich eines Besseren, als eine solche Niederlage einzugestehen. »Wie kommt Ihr darauf, Lord Rahl, ich könnte…«

»Ihr habt Chandalens Messer gezogen. Mir ist zuvor noch nie aufgefallen, daß Ihr eine andere Waffe Eurem Strafer vorgezogen hättet. Keine Mord-Sith würde das tun. Seit wann, Cara?«

Sie benetzte ihre Lippen. Sich geschlagen gebend, schloß sie die Augen und wandte sich ab.

»Während der letzten Tage hatte ich zum ersten Mal Mühe, Euch zu spüren. Ich selber fühle mich nicht anders als zuvor, nur bereitet es mir zunehmend Schwierigkeiten, zu spüren, wo Ihr Euch befindet. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, doch offenkundig werden die Bande mit jedem Tag schwächer. Der Strafer erhält seine Energie über die Bande zu unserem Lord Rahl.«

Sobald die Mord-Sith sich innerhalb einer angemessenen Entfernung befanden, konnten sie aufgrund der Bande stets genau sagen, wo er sich befand. Es mußte überaus verwirrend sein, wenn dieses Gespür plötzlich verlorenging.

Cara räusperte sich, den Blick unverwandt auf die Gewitterwolken in der Ferne gerichtet. In ihren blauen Augen glitzerten Tränen.

»Der Strafer fühlt sich völlig leblos an.«

Nur eine Mord-Sith würde sich über den Verlust einer Magie grämen, die ihr bei jeder Berührung Schmerzen zufügte, das lag im Wesen dieser Frauen und ihrer uneingeschränkten Pflichtverbundenheit.

Cara sah sich nach ihm um, während die Leidenschaft in ihr Gesicht zurückkehrte. »Aber ich stehe noch immer in Eurer Pflicht und werde tun, was ich muß, um Euch zu schützen. Für die Mord-Sith ändert sich nichts dadurch.«

»Und die d’Haranische Armee?« meinte Richard leise, als er über das wachsende Ausmaß ihrer Schwierigkeiten nachdachte. Das d’Haranische Volk war über diese Bande einem bestimmten Ziel verpflichtet. »Jagang ist auf dem Weg hierher. Ohne Armee…«

Die Bande waren eine sehr alte Magie, die er, als mit der Gabe gesegneter Rahl, geerbt hatte. Diese Bande waren als Schutz vor den Traumwandlern geschaffen worden. Ohne sie…

Selbst wenn Kahlan der Ansicht war, der Lauer und nicht die Chimären seien an allem schuld – Zedd hatte ihnen erklärt, auch er werde ein Schwinden der Magie bewirken. Was immer Zedd sich ausgedacht haben mochte, um sie zu täuschen, es mußte in enger Beziehung zur Wahrheit stehen, soviel war Richard klar.

In beiden Fällen würde Kahlan nicht umhin kommen, sich einzugestehen, daß der sterbende Baum der Magie bestenfalls noch faulige Früchte trug. Sie legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

»Möglicherweise spürt die Armee die Bande nicht mehr so wie früher, Richard, aber man ist dir dort auch noch auf andere Art verbunden. Die meisten Menschen in den Midlands erkennen die Mutter Konfessor als ihre Führerin an, ohne ihr über irgendwelche Bande verpflichtet zu sein. Auf dieselbe Weise erkennen dich die Soldaten an, denn sie glauben an dich. Sie haben dir bewiesen, wie wertvoll sie sind, und du hast ihnen deinen Wert ebenfalls bewiesen.«

»Die Mutter Konfessor hat recht«, sagte Cara. »Die Armee wird Euch treu ergeben bleiben, denn Ihr seid ihr Führer. Ihr wahrer Führer. Sie glauben an Euch – genau wie ich.«

Richard ließ langsam die Luft aus seinen Lungen entweichen. »Ich weiß das zu schätzen, Cara, wirklich, aber…«

»Ihr seid Lord Rahl. Ihr seid die Magie gegen die Magie. Wir sind der Stahl gegen den Stahl. Und daran wird sich auch nichts ändern.«

»Eben darum geht es. Ich kann nicht die Magie gegen die Magie sein. Selbst wenn der Lauer und nicht die Chimären die Ursache dafür wären – die Magie würde nicht mehr funktionieren.«

Cara zuckte mit den Achseln. »Dann werden wir uns einen Weg ausdenken, wie sie funktioniert. Ihr seid Lord Rahl, das ist Eure Aufgabe.«

»Richard«, wandte Kahlan ein, »laut Zedds Bekunden haben die Schwestern der Finsternis den Lauer heraufbeschworen, und das bewirkt das Schwinden der Magie. Du hast nicht den geringsten Beweis, daß stattdessen in Wirklichkeit die Chimären schuld an allem sind. Uns bleibt nichts anderes übrig, als einfach Zedds Bitte zu erfüllen, damit er der Magie der Schwestern entgegenwirken kann. Sobald wir Aydindril erreichen, wird alles wieder in Ordnung kommen.«

Richard konnte sich immer noch nicht überwinden, es ihr zu erzählen. »Ich wünschte, es wäre, wie du sagst, Kahlan, aber leider ist dem nicht so«, meinte er einfach.

In ihrer dünnen Schicht aus Geduld zeigten sich die ersten Risse. »Wieso beharrst du darauf, die Chimären seien schuld, obwohl Zedd uns erzählt, es sei der Lauer?«

Richard beugte sich zu ihr. »Denk doch einmal nach. Offenbar hat meine Großmutter – Zedds Frau – ihrer kleinen Tochter, meiner Mutter, eine Geschichte über eine Katze namens Lauer erzählt. Mir hat sie nur ein einziges Mal davon erzählt, doch das kann Zedd nicht wissen. Es gehörte, genau wie die hundert anderen tröstlichen Bemerkungen, wie all die Redensarten oder Geschichten, mit denen sie mir ein Lächeln entlocken wollte, zu den vielen kleinen Dingen, die mir meine Mutter eben manchmal erzählte, als ich noch klein war. Zedd gegenüber habe ich nie etwas davon erwähnt.

Aus einem bestimmten Grund wollte Zedd nicht, daß ich die Wahrheit erfahre. Wahrscheinlich kam ihm dieser ›Lauer‹ einfach als erstes in den Sinn, weil er irgendwann einmal eine Katze dieses Namens hatte. Gib zu, erscheint dir der Name ›Lauer‹ nicht ein wenig eigenartig, wenn du darüber nachdenkst?«

Kahlan verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ihr Gesicht verriet, daß sie ihm widerstrebend Recht gab.

»Ich dachte, ich sei die einzige, die so denkt.« Sie nahm all ihre Entschlossenheit zusammen. »Aber das beweist im Grunde gar nichts. Es könnte Zufall sein.«

Richard wußte, daß es die Chimären waren. So, wie er gespürt hatte, daß das Huhn keines war, und er sich gewünscht hatte, Kahlan würde ihm glauben, so wünschte er sich von ganzem Herzen, sie würde ihm in diesem Punkt vertrauen.

»Was sind diese Wesen eigentlich, diese Chimären, die in den Grußformeln genannt werden?« fragte Cara.

Richard kehrte den anderen den Rücken zu und heftete den Blick auf den Horizont. Viel wußte er nicht über sie, aber was er wußte, ließ ihm beinahe die Haare zu Berge stehen.

»Die Menschen aus der Alten Welt wollten der Magie ein Ende bereiten, ganz so wie Jagang heute – vermutlich sogar aus denselben Gründen – um einfacher mit Hilfe des Schwertes herrschen zu können. Die Menschen aus der Neuen Welt dagegen wollten, daß die Magie weiterlebt. Um zu obsiegen, schufen die Zauberer auf beiden Seiten unvorstellbar grauenerregende Waffen, in der verzweifelten Hoffnung, den Krieg damit beenden zu können.

Viele dieser Waffen – die Mriswith, zum Beispiel – wurden aus Menschen erschaffen, indem man einer Person mit Hilfe von Subtraktiver Magie bestimmte Eigenschaften entriß um ihr dann mit Hilfe von Additiver Magie eine andere gewünschte Eigenschaft oder Fähigkeit einzupflanzen. In wieder anderen Fällen setzte man einfach zusätzlich eine gewünschte Eigenschaft ein.

Meiner Ansicht nach handelt es sich bei den Traumwandlern um solche Personen, Personen, denen man eine Eigenschaft eingesetzt hat, Personen, die von den Zauberern offenkundig als Waffe gedacht waren. Jagang ist der Nachkomme dieser Traumwandler aus der Zeit des Großen Krieges. Und nun hat man dieser Waffe die Führung eines Krieges anvertraut.

Im Gegensatz zu Jagang, der nichts weiter will, als unserer Magie ein Ende zu machen, damit er seine Magie gegen uns einsetzen kann, versuchten die Menschen während des Großen Krieges, die Magie tatsächlich vollkommen auszumerzen. Alle Magie. Genau das war die Aufgabe der Chimären – die Magie aus der Welt des Lebendigen zu entwenden. Sie wurden aus der Unterwelt – aus der Welt der Toten des Hüters – heraufbeschworen.

Wie Zedd erklärte, kann ein solches aus der Unterwelt heraufbeschworenes Wesen, ist es erst einmal entfesselt, nicht nur der Magie ein Ende machen, sondern auch das Leben an sich auslöschen.«

»Er hat auch behauptet, er und Ann würden sich dessen annehmen«, wandte Kahlan ein.

Richard sah über seine Schulter. »Wieso hat er uns dann angelogen? Warum hat er uns nicht vertraut? Wenn er wirklich dafür sorgen kann, warum erzählt er uns dann nicht einfach die Wahrheit?« Er schüttelte den Kopf. »Da ist noch etwas anderes im Spiel.«

Du Chaillu, die lange geschwiegen hatte, verschränkte ungeduldig die Arme. »Unsere Meister der Klinge werden diese dreckigen, widerlichen…«

»Still.« Richard legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Kein Wort mehr, Du Chaillu. Das verstehst du nicht. Du machst dir keine Vorstellung, wie viele Scherereien du auslösen könntest.«

Als Richard sicher war, daß Du Chaillu auch weiter schweigen würde, kehrte er allen den Rücken zu und blickte in den aufklarenden Himmel im Nordosten, Richtung Aydindril. Er war die Diskussionen leid, wußte er doch, daß die Chimären befreit waren. Er mußte überlegen, was man gegen sie unternehmen konnte! Es gab Dinge, die er unbedingt in Erfahrung bringen mußte!

Er erinnerte sich, wie er auf der verzweifelten Suche nach weiteren Informationen in Kolos Tagebuch auf Passagen gestoßen war, in denen Kolo sich unter einer Vielzahl von anderen Dingen auch über die Chimären aus den Grußformeln ausgelassen hatte. Ständig waren Zauberer damit beschäftigt gewesen, Nachrichten und Berichte zur Burg der Zauberer in Aydindril zurückzusenden, nicht nur, um die Chimären betreffende Informationen weiterzugeben, sondern auch, um über eine Reihe anderer beängstigender und möglicherweise katastrophaler Geschehnisse zu berichten, die sich damals ereigneten.

Kolo ließ sich über diese Mitteilungen aus, zumindest über jene, die er für interessant, wichtig oder bemerkenswert hielt, ohne jedoch vollständig Rechenschaft über sie abzulegen. Offenbar sah er keinen Grund, sie in seinem privaten Tagebuch in voller Länge wiederzugeben. Richard bezweifelte, ob Kolo wollte, daß sein Tagebuch je gelesen wurde. Kolo hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die einschlägige Information einer Nachricht kurz anzudeuten und anschließend einen Kommentar zu dem in Frage stehenden Problem abzugeben, daher waren die Informationen, die Richard über die Berichte zu lesen bekam, enttäuschend unzureichend – und einseitig.

Als Kolo es dann mit der Angst bekam, wurden seine Informationen ausführlicher, fast als wollte er sein Tagebuch dazu benutzen, ein Problem bis zur Lösung zu durchdenken. Während einer bestimmten Phase versetzten ihn die Berichte über die Chimären aus den Grußformeln in Angst und Schrecken. An mehreren Stellen schrieb Kolo nieder, was er den Berichten entnommen hatte, fast als wollte er seine Angst rechtfertigen und die Gründe für seine Besorgnis für sich selbst noch einmal hervorheben.

Wie Richard sich erinnerte, erwähnte Kolo jenen Zauberer, den man ausgesandt hatte, um sich der Chimären anzunehmen. Ander irgendwas – der vollständige Name war ihm entfallen.

Zauberer Ander trug den stolzen Beinamen ›der Berg‹. Offenbar war er ein Mann von kräftiger Statur. Kolo mochte den Mann jedoch nicht sonderlich und bezeichnete ihn spöttisch als ›moralischen Maulwurfshügel‹. Richard entnahm Kolos Tagebuch, daß Ander offenbar eine hohe Meinung von sich selber hatte.

Noch deutlicher erinnerte sich Richard an eine Passage, in der Kolo seiner Empörung darüber Ausdruck verlieh, daß die Menschen es immer häufiger versäumten, das Fünfte Gesetz der Magie korrekt anzuwenden: Achte darauf, was Menschen tun, nicht was sie sagen, denn Taten verraten jede Lüge.

Offenbar war Kolo erzürnt, als er niederkritzelte, durch Nichtbeachtung der Gesamtheit ihres Tuns versäumten es die Menschen, das Fünfte Gesetz der Magie auf Zauberer Ander anzuwenden. Hätten sie dies getan, so beklagte er sich, hätten sie leicht herausfinden können, daß dieser Mann sich in Wahrheit nur sich selbst verbunden fühlte, nicht aber dem Wohl seines Volkes.

»Ihr habt immer noch nicht erklärt, was diese Chimären sind«, warf Cara ein.

Richard spürte, wie die Brise beharrlich an seinen Haaren und an seinem goldenen Umhang zerrte, als wollte sie ihn drängen, weiterzugehen. Nur wußte er nicht, wohin. Hie und da stiegen Käfer über dem feuchten Gras auf und zogen in der Luft ihre Kreise. Weit drüben im Osten, vor dem Hintergrund der sich auftürmenden Unwetterwolken, zogen Gänse als dunkle Punkte in einer wellenförmigen V-Formation dahin, Richtung Norden.

Seit das Thema bei der Hochzeit aufgekommen war, hatte Richard keinen ernsthaften Gedanken an die Chimären verschwendet. Zedd hatte ihre Besorgnis als unbegründet abgetan, außerdem waren Richard andere Dinge durch den Kopf gegangen.

Später jedoch, nachdem besagtes Huhn vor dem Seelenhaus getötet und Juni ermordet worden war und ihm das Hühnerwesen jedesmal eine Gänsehaut bereitete, sobald es sich in seiner Nähe zeigte, und nachdem Zedd ihm einige ergänzende Informationen gegeben hatte, hatte ein wachsendes Gefühl des Unbehagens Richard bewogen, sich so gut es irgend ging an alles zu erinnern, was mit den Chimären in Zusammenhang stand. Damals hatte er Kolos Tagebuch nach Lösungen zu anderen Problemen durchforstet und nicht ausdrücklich auf Hinweise geachtet, die die Chimären betrafen, doch dank seiner fast niemals nachlassenden Konzentration und einer manchmal geradezu tranceähnlichen Anstrengung war ihm vieles im Gedächtnis geblieben.

»Bei den Chimären handelt es sich um Wesen, die in der Unterwelt entstanden sind. Um ihnen den Zugang in die Welt des Lebendigen zu ermöglichen, muß die Huldigung durchbrochen werden. Da sie aus der Unterwelt stammen, werden sie ausschließlich durch die Subtraktive Seite heraufbeschworen und erzeugen durch ihre Anwesenheit in dieser Welt ein Ungleichgewicht. Magie jedoch verlangt nach Ausgewogenheit. Da sie vollkommen subtraktiv sind, benötigen sie für ihr Hiersein Additive Magie, um in dieser Erscheinungsform überhaupt existieren zu können, denn das Sein selbst ist eine Form Additiver Kraft. Darum entziehen die Chimären dieser Welt Magie, solange sie sich hier aufhalten.«

Cara, nach außen hin nie mit einer Begabung für Magie gesegnet, schien seine Antwort mehr denn je zu verwirren. Richard fand ihre Verwirrung verständlich, wußte er doch selbst nicht viel über Magie und begriff selber kaum, was er ihr gerade erklärt hatte. Er war nicht einmal sicher, ob es überhaupt genau zutraf.

»Aber wie stellen sie das an?« fragte sie.

»Man könnte sich die Welt des Lebendigen als eine Art Wasserfaß vorstellen. Die Chimären sind ein Loch in diesem Faß, das soeben entkorkt wurde, um das Wasser abfließen zu lassen. Ist alles Wasser abgeflossen, trocknet das Faß aus, die Dauben schrumpfen, und es ist nicht mehr dasselbe Behältnis, das es einst war. Man könnte behaupten, es sei eine tote Hülse, die nur vage an ihre vorherige Existenz erinnert.

Genau wie jenes Loch im Faß entziehen die Chimären der Welt des Lebendigen allein durch ihre Anwesenheit Magie, andererseits aber wurden sie, um in diese Welt gerufen werden zu können, als Wesen erschaffen. Sie verfügen über eine eigene Natur. Sie können töten.

Da es sich um Geschöpfe der Magie handelt, können sie nach Belieben die äußere Gestalt jenes Geschöpfes annehmen, das sie töten – wie zum Beispiel des Huhns. Dennoch bleibt ihnen die Kraft dessen, was sie in Wahrheit sind, erhalten. Als ich das Huhn mit einem Pfeil tötete, verließ die Chimäre dessen Phantomkörper; das echte Huhn hatte von Anfang an tot hinter der Mauer gelegen. Die Chimäre hat seine äußere Erscheinungsform lediglich als Modell benutzt, als Verkleidung – um uns in die Irre zu führen.«

Caras Gesicht nahm einen für sie ungewohnt besorgten Ausdruck an. »Wollt Ihr mir erzählen« – sie ließ den Blick über die Umstehenden wandern – »daß jeder hier eine Chimäre sein könnte?«

»Nach meinem Dafürhalten sind es durch einen Zauber heraufbeschworene Geschöpfe, die keine Seele besitzen, daher können sie auch nicht die äußere Erscheinungsform einer Person annehmen – lediglich die von Tieren. Laut Zedd ist das Gegenteil richtig; Jagang besitzt eine Seele und kann nur deswegen in den Verstand eines Menschen eindringen, weil dafür eine Seele erforderlich ist.

Als die Zauberer aus Menschen diese Waffen schufen, besaßen die von ihnen geschaffenen Wesen noch Seelen. Auf diese Weise waren sie, wenigstens in gewissem Umfang, noch zu kontrollieren. Die Chimären dagegen konnten, nachdem sie erst einmal hier waren, nicht mehr im Zaum gehalten werden. Das war einer der Gründe für ihre Gefährlichkeit. Es ist, als wollte man einem Blitz vernünftig zureden.«

»Also schön« – Cara hob einen Finger, als wollte sie sich etwas merken – »Menschen können sie also nicht sein. Das ist gut.« Sie deutete in den Himmel. »Könnte denn einer dieser Wiesenstärlinge eine Chimäre sein?«

Richard hob den Kopf und warf einen flüchtigen Blick auf die vorüberflatternden, gelbbrüstigen Vögel. »Vermutlich. Wenn sie ein Huhn sein können, dann können sie bestimmt auch jedes andere Tier töten und dessen Gestalt annehmen. Das wäre aber gar nicht erforderlich.« Richard zeigte auf den feuchten Untergrund. »Ebensogut könnten sie sich in der Pfütze zu Euren Füßen verstecken. Einige von ihnen haben offenbar eine Vorliebe für Wasser.«

Cara warf einen Blick auf die Pfütze und trat einen Schritt zurück.

»Soll das heißen, die Chimäre, die Juni getötet hat, hat sich im Wasser verborgen? Und ihm aufgelauert?«

Nach einem Blick zu Chandalen hinüber räumte Richard mit einem kurzen Nicken ein, dies sei seine Überzeugung.

»Chimären verstecken sich oder lauern an dunklen Orten«, fuhr er fort. »Irgendwie bewegen sie sich am Rand der Dinge entlang, wie zum Beispiel an Felsspalten, oder am Rand von Wasser. Das vermute ich zumindest; nach Kolos Worten schleichen sie an den Grenzen entlang, dort, wo zwei Dinge aufeinandertreffen. Manche verstecken sich im Feuer und können sich von den Funken forttragen lassen.«

Als er aus den Augenwinkeln zu Kahlan hinübersah, mußte er daran denken, wie das Haus der Toten – in dem Junis Leichnam gelegen hatte – in Flammen aufgegangen war. »Werden sie gereizt oder geärgert, brennen sie ein Haus manchmal einfach aus Gehässigkeit nieder.

Es hieß, einige seien von solcher Schönheit, daß ihr Anblick einem den Atem raubt – und zwar für immer. Solange man nicht ihre Aufmerksamkeit erregt, sind sie nur schwer zu erkennen. In Kolos Tagebuch klang das so, als würden sie sich, sobald ein Opfer sie erblickt, teilweise nach dem Verlangen dieses Opfers formen, und dieses Verlangen sei unwiderstehlich. Offenbar ist das die Methode, mit der sie Menschen in den Tod locken.

Vielleicht ist es das, was Juni widerfahren ist. Vielleicht hat er etwas so Schönes gesehen, daß er seine Waffen und sein Urteilsvermögen, ja sogar seinen gesunden Menschenverstand aufgab und der Chimäre bis ins Wasser folgte, wo er dann ertrank.

Andere wiederum sehnen sich nach Aufmerksamkeit und haben es gerne, wenn man sie vergöttert. Vermutlich teilen sie des Hüters Gier nach Verehrung, da sie ebenfalls aus der Unterwelt stammen. Es hieß, einige von ihnen beschützten ihre kritiklosen Bewunderer sogar, was jedoch ein gefährlicher Balanceakt sei. Laut Kolo lullt es sie ein. Hört man jedoch auf, sie zu verehren, wenden sie sich gegen einen.

Am meisten Freude bereitet ihnen die Jagd, der sie niemals müde werden. Sie machen Jagd auf Menschen und kennen dabei kein Erbarmen. Vor allem töten sie gerne mit Feuer.

Die vollständige Übersetzung ihres Namens aus dem Hoch-D’Haran bedeutet ungefähr ›die Chimären des Verderbens‹, oder auch die ›Chimären des Todes‹.«

Du Chaillu runzelte schweigend die Stirn. Die meiste Zeit über gelang es den Meistern der Klinge der Baka Tau Mana, einen unbekümmerten, zurückhaltenden und entspannten Eindruck zu erwecken, dennoch hatte sich eine Unruhe in ihr Verhalten eingeschlichen, die für Richard unübersehbar war.

»Wie auch immer«, meinte Cara seufzend, »ich denke, wir können uns jetzt ein ungefähres Bild machen.«

Schließlich ergriff Chandalen, der aufmerksam zugehört hatte, das Wort. »Aber du bist anderer Ansicht, Mutter Konfessor? Du glaubst, was Zedd gesagt hat, daß es sich nicht um diese Chimären des Todes handelt?«

Kahlans und Richards Blicke kreuzten sich, bevor sie das Wort an Chandalen richtete. Sie klang nicht erbost.

»Zedds Erklärung des Problems ist in vielerlei Hinsicht ähnlich und könnte die Vorfälle daher ebenso leicht erklären, doch gerade weil sie ähnlich ist, wird das Problem dadurch nicht geringer. Nach seinen Worten liegt der entscheidende Unterschied darin, daß wir der schwierigen Situation gleich nach unserem Eintreffen in Aydindril ein Ende machen können. Auch wenn es mir widerstrebt, ich behaupte nach wie vor, Zedd hat recht. Ich glaube nicht, daß es sich um diese Chimären handelt.«

»Ich wünschte wirklich, es wäre so. Nun sobald wir Aydindril erreichen, könnten wir dem entgegenwirken«, meinte Richard. »Trotzdem handelt es sich um die Chimären. Ich könnte mir vorstellen, Zedd wollte uns einfach in Sicherheit wissen, während er sich um die Lösung des Problems kümmert, wie man die Chimären wieder in die Unterwelt zurücktreiben kann.«

»Lord Rahl ist die Magie gegen die Magie«, sagte Cara, an Kahlan gewandt. »Er versteht sich sicherlich am besten auf diese Dinge. Wenn er der Meinung ist, es sind die Chimären, dann sind es auch die Chimären.«

Kahlan warf sich mit einem verzweifelten Seufzer das lange Haar über die Schulter.

»Das redest du dir doch nur ein, Richard. Du sprichst davon, als sei es die Wahrheit, und schon beginnst du, Cara ebenso zu überzeugen wie dich selbst. Du glaubst, es stimmt, und schon schenkst du der Sache mehr Glauben, als sie tatsächlich verdient.«

Offenbar wollte sie an das Erste Gesetz der Magie erinnern und unterstellte ihm, er sei einer Lüge aufgesessen.

Richard versuchte die glühende Entschlossenheit einzuschätzen, die sich so überdeutlich in ihren grünen Augen zeigte. Er war auf ihre Hilfe angewiesen; allein konnte er sich dem Problem nicht stellen.

Schließlich entschied er, daß ihm nichts anderes übrig blieb. Er bat alle zu warten, legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie ein Stück fort, bis er sicher war, daß die anderen nicht mithören konnten.

Er war darauf angewiesen, daß sie ihm glaubte; er hatte längst keine andere Wahl mehr.

Er mußte es ihr erzählen.

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