36

Wenn Snip den Kopf senkte, konnte er Meister Spinks Beine und Füße beobachten, während dieser zwischen den Bänken hin und her lief und seine Stiefel auf den Dielenboden pochten. Überall im Klassenzimmer weinten vereinzelt Leute leise schniefend vor sich hin, vor allem die älteren Frauen.

Snip konnte es ihnen nicht verdenken, auch er war während der Bußversammlungen manchmal in Tränen aufgelöst. Die Lektionen, die sie lernten, waren notwendig, wenn sie ihr schändliches hakenisches Wesen bekämpfen wollten – soviel verstand er, aber es machte das Zuhören trotzdem nicht einfacher.

Wenn Meister Spink seine Strafpredigten hielt, zog Snip es vor, auf den Fußboden zu starren, um nicht aus Versehen den Blick des Mannes zu kreuzen. Es galt als unverschämt, den Blick eines Anderiers zu kreuzen, während dieser einen über die Schrecknisse unterrichtete, die seinen Vorfahren von denen Snips angetan worden waren.

»Und so geschah es«, fuhr Meister Spink fort, »dass die hakenischen Horden durch einen Zufall auf jenes arme Bauerndorf stießen. Die Männer, außer sich vor Sorge um ihre Familien, hatten sich mit den anderen einfachen anderischen Männern von den Farmen und aus den Dörfern in der Umgegend versammelt. In einem gemeinsamen Gebet flehten sie den Schöpfer an, ihr Versuch, die blutrünstigen Eindringlinge zurückzuwerfen, möge erfolgreich sein.

In ihrer Verzweiflung hatten sie den Hakeniern bereits fast alle ihre Lebensmittel sowie ihr gesamtes Vieh als Friedensopfer dargebracht. Sie hatten Boten ausgesandt, um ihre Opfergabe zu erläutern und zu erklären, dass sie keinen Krieg wollten, doch keiner dieser tapferen Boten war je zurückgekehrt.

Daher schmiedeten diese Männer einen einfachen Plan. Sie beschlossen, zu einer kleinen Anhöhe zu ziehen und dort ihre Waffen über den Köpfen zu schwenken, selbstverständlich nur, um ihre Stärke zu demonstrieren und nicht etwa als Aufforderung zum Kampf, sondern in dem verzweifelten Bemühen, die Hakenier dazu zu bringen, ihre Dörfer zu verschonen. Diese Männer waren Farmer, keine Krieger, und die Waffen, die sie schwenkten, waren einfaches Farmgerät. Sie wollten nicht kämpfen, sie wollten Frieden.

Und da standen sie nun, die Männer, von denen ich euch berichtet habe – Shelby, Willan, Camden, Edgar, Newton, Kenway und all die anderen –, all die guten und rechtschaffenen Männer, die ihr kennen gelernt habt im Laufe der letzten Wochen, in denen ich euch von ihren Geschichten erzählt habe, von ihren Liebschaften, ihrem Leben, ihren Hoffnungen, ihren einfachen und bescheidenen Träumen. Dort oben auf der Anhöhe standen sie und hofften nichts weiter, als von den hakenischen Rohlingen verschont zu werden. Dort standen sie und schwenkten ihre Werkzeuge – ihre Äxte, ihre Hacken, ihre Sicheln, Heugabeln und Dreschflegel –, schwenkten sie durch die Luft in der Hoffnung, die Frauen und Kinder, die ihr ebenfalls kennen gelernt habt, vor Schaden zu bewahren.«

Das rhythmische Pochen von Meister Spinks Stiefeln kam Snip immer näher.

»Die hakenische Armee beschloss, diese einfachen Männer nicht zu verschonen. Stattdessen richteten die Hakenier ihre Dominie Dirtch lachend und johlend auf diese friedfertigen anderischen Männer.«

Einige der Mädchen stöhnten auf. Andere stimmten lautes Wehklagen an. Snip verspürte ein quälendes Angstgefühl im Bauch und hatte einen Kloß in der Kehle. Er musste selber schniefen, als er sich ihren grauenhaften Tod vorstellte. Diese Männer auf der Anhöhe waren ihm ans Herz gewachsen. Er kannte die Namen ihrer Frauen, die Namen ihrer Eltern und Kinder.

»Und während diese mörderischen hakenischen Bastarde in ihren eleganten, prunkvollen Uniformen« – Snip sah, wie die Stiefel genau neben seinem Platz am Ende der Bank in der Nähe des Mittelganges Halt machten –, »lachend dastanden und jubelten, erschallten die Dominie Dirtch in ihrer entsetzlichen Grausamkeit und rissen diesen Männern das Fleisch von den Knochen.«

Snip spürte den finster starrenden Blick von Meister Spink in seinem Nacken, als die Frauen und viele der Männer ihrem Gram lauthals schluchzend Luft machten.

»Das Jammergeschrei dieser armen anderischen Bauernjungen erhob sich in den anderischen Himmel. Es war ihr letzter Schrei in diesem Leben, während ihre Körper von den vortrefflich gekleideten, spottenden hakenischen Horden mit ihrer grausam dahinmetzelnden Waffe, den Dominie Dirtch, in Stücke gerissen wurden.«

Eine der älteren Frauen schrie vor Entsetzen auf. Meister Spink stand immer noch über Snip. In diesem Augenblick war Snip nicht mehr ganz so stolz auf seine Botenkleidung wie eben noch, als die anderen erstaunt tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt hatten, während er sich auf seinen Platz setzte.

»Ich sehe, du trägst jetzt eine elegante, neue Uniform, Snip«, meinte Meister Spink mit einer Stimme, die Snip das Blut gefrieren ließ.

Snip wusste, man erwartete eine Erklärung von ihm.

»Ja, Sir. Meister Campbell war so freundlich, mir eine Stelle als Bote zu verschaffen, obwohl ich nur ein einfacher hakenischer Küchenjunge war. Auf sein Geheiß soll ich diese Uniform tragen, damit alle Hakenier sehen, dass wir es mit anderischer Hilfe zu etwas Besserem bringen können. Außerdem möchte er, dass die Boten ein gutes Licht auf sein Büro werfen, wenn wir ihn in seinem Bestreben unterstützen, die Kunde von der erfolgreichen Arbeit des Ministers für Kultur für unser Volk unter den Menschen zu verbreiten.«

Meister Spink verpasste Snip einen deftigen Hieb seitlich gegen den Kopf, der ihn aus seiner Bank schleuderte. »Spar dir deine ungehörigen Antworten! Deine hakenischen Ausflüchte interessieren mich nicht!«

»Verzeihung, Sir.« Er war klug genug, auf Händen und Knien zu verharren.

»Hakenier haben stets eine Ausrede für ihre hassenswerten Verbrechen. Du trägst dieselbe prunkvolle Uniform, an der bereits diese mörderischen hakenischen Oberherren Gefallen gefunden haben, und du findest ebensolchen Gefallen daran wie sie, obwohl du den Eindruck zu erwecken versuchst, dem sei nicht so.

Bis zum heutigen Tag leiden wir Anderier schmerzlich unter der Geißel des niemals endenden hakenischen Hasses, der unzweifelhaft aus jedem Blick eines Hakeniers spricht. Wir werden uns niemals ganz davon befreien können. Stets wird es Hakenier geben, die an ihren Uniformen Gefallen finden und die uns an die hakenischen Oberherrn erinnern.

Dein Versuch, das Unentschuldbare zu entschuldigen – deine selbstsüchtige Überheblichkeit, dein Stolz auf dich selbst, dein Stolz auf eine Uniform –, beweist nur dein schmutziges hakenisches Wesen. Ihr alle giert danach, hakenische Oberherren zu sein. Tagein, tagaus müssen wir Anderier solche hakenischen Kränkungen über uns ergehen lassen.«

»Verzeiht mir, Meister Spink, ich habe gefehlt. Ich habe sie aus Stolz getragen. Es war falsch, mich von meinem sündigen hakenischen Wesen leiten zu lassen.«

Meister Spink bekundete seine Verachtung durch ein Grunzen, fuhr dann aber mit seiner Strafpredigt fort. Snip wusste, dass er Schlimmeres verdient hatte, und war froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Er seufzte.

»Nach der Ermordung der Männer blieben die Frauen und Kinder des Dorfes schutzlos zurück.«

Das langsame, rhythmische Pochen der Stiefel setzte von neuem ein, als der Mann sich wieder in Bewegung setzte und zwischen den auf einfachen Bänken hockenden Hakeniern hindurchmarschierte. Erst als er sich entfernt hatte, wagte Snip, sich von Händen und Knien zu erheben und seinen Platz auf der Bank wieder einzunehmen. Sein Ohr war wie taub und schmerzte fürchterlich, wie damals, als Beata ihn geschlagen hatte. Meister Spinks Worte drangen durch dieses hohle Klingen.

»Da sie Hakenier waren, beschlossen sie selbstverständlich, durch das Dorf zu ziehen und ihrem verruchten Vergnügen nachzugehen.«

»Nein!«, schrie eine schwarz gekleidete Frau auf. Sie begann zu schluchzen.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, setzte Meister Spink, die Unterbrechung übergehend, seinen Weg fort; derartige Unterbrechungen gab es oft.

»Den Hakeniern war nach einem Fest zumute. Sie zogen ins Dorf. Fest entschlossen machten sie sich auf die Suche nach gebratenem Fleisch.«

Zitternd vor Angst um die Menschen, die ihnen vertraut geworden waren, sanken einige Leute auf die Knie. Im gesamten Klassenzimmer scharrten die Bänke über den Fußboden, als auch die meisten der übrigen Anwesenden auf die Knie fielen. Snip folgte ihrem Beispiel.

»Aber wie ihr wisst, war es ein kleines Dorf. Nachdem die Hakenier das Vieh abgeschlachtet hatten, stellten sie fest, dass nicht genug Fleisch vorhanden war. Da Hakenier sind, wie sie nun einmal sind, brauchten sie nicht lange auf eine Lösung zu warten. Man griff sich die Kinder.«

Mehr als alles andere sehnte Snip das Ende der Strafpredigt herbei. Er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, länger zuzuhören. Einige der Frauen waren offenbar derselben Ansicht. Die Hände gefaltet, brachen sie mit auf den Boden gerichtetem Gesicht zusammen und beteten weinend zu den Gütigen Seelen, sie möchten diese armen, unschuldigen, geschlagenen Anderier behüten.

»Ihr alle kennt die Namen dieser Kinder. Wir werden jetzt durchs Klassenzimmer gehen, und jeder von euch wird mir einen jener Namen nennen, die ihr auswendig gelernt habt, damit wir die jungen Menschen, die auf so grausame Weise ihres Lebens beraubt wurden, niemals vergessen. Jeder von euch wird mir den Namen eines Kindes – von kleinen Jungen und Mädchen – aus diesem Dorf nennen, die vor den Augen ihrer Mütter bei lebendigem Leibe geröstet wurden.«

Meister Spink fing in der hintersten Reihe an. Nacheinander sagte jeder, sobald er auf ihn zeigte, den Namen eines dieser Kinder auf, wobei die meisten den flehentlichen Wunsch hinzufügten, die Gütigen Seelen mögen sie behüten. Bevor sie gehen durften, beschrieb Meister Spink das Grauen, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden, die Schreie, die Qualen und wie lange es dauerte, bis die Kinder gestorben waren. Wie lange es dauerte, bis ihre Leichen geschmort waren.

Das Verbrechen war so grauenerregend und entsetzlich, dass Snip an einer Stelle für einen winzigen Augenblick ins Grübeln kam, ob die Geschichte überhaupt stimmen konnte. Es fiel ihm schwer sich vorzustellen, dass jemand, selbst diese brutalen hakenischen Oberherren, eine solch grässliche Tat begehen konnte.

Doch Meister Spink war Anderier. Er würde sie niemals anlügen. Nicht, wenn es um etwas so Wichtiges wie Geschichte ging.

»Die Zeit ist bereits fortgeschritten«, meinte Meister Spink, nachdem jeder den Namen eines Kindes aufgesagt hatte, »daher werden wir uns die Geschichte über die Verbrechen dieser hakenischen Eindringlinge an den Frauen für die nächste Versammlung aufsparen. Vielleicht war es für die Kinder ein Glück, dass sie die Perversitäten, für die ihre Mütter von den Hakeniern missbraucht wurden, nicht mit ansehen mussten.«

Als sie entlassen wurden, stürzte Snip, gefolgt von den Übrigen der Gruppe, durch die Tür, froh, der Bußversammlung für diesen Abend entkommen zu können. Noch nie war ihm die kühle Nachtluft so angenehm erschienen. Ihm wurde heiß und übel, als ihm die Bilder des Todes, den die Kinder hatten erleiden müssen, immer wieder aufs Neue durch den Kopf gingen. Wenigstens war die kühle Luft auf seinem Gesicht angenehm; er sog die kühle, reinigende Luft in seine Lungen.

Während er an einen schlanken Ahornbaum gelehnt darauf wartete, dass ihn seine Beine wieder trugen, trat Beata aus der Tür. Snip richtete sich auf. Durch die offene Tür und die Fenster fiel genug Licht, sie würde keine Mühe haben, ihn zu finden – in seiner neuen Botenkleidung. Er hoffte, Beata würde sie besser gefallen als Meister Spink.

»'nabend, Beata.«

Sie blieb stehen. Seine Kleidung musternd, betrachtete sie ihn von Kopf bis Fuß.

»Snip.«

»Du siehst sehr hübsch aus heute Abend, Beata.«

»Ich sehe aus wie immer.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wie ich sehe, läufst du jetzt selbstverliebt in einer schicken Uniform herum.«

Snips Fähigkeit zu sprechen oder zu denken war mit einem Schlag dahin. Ihm hatten die Boten in ihren Uniformen immer gefallen, daher hatte er von ihr das Gleiche angenommen. Er hatte gehofft, sie würde vielleicht wenigstens lächeln. Stattdessen funkelte sie ihn wütend an. Plötzlich wünschte er sich mehr als alles andere, er wäre sofort nach Hause gegangen.

»Meister Dalton hat mir eine Stellung angeboten…«

»Und vermutlich freust du dich auch schon auf die nächste Bußversammlung, damit du dir anhören kannst, was diese hakenischen Bestien mit den hilflosen Frauen angestellt haben.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Das wird dir gefallen. Es wird dir fast genauso viel Spaß machen, als wärst du selbst dabei gewesen und hättest zugesehen.«

Snip blieb offenen Mundes zurück, während sie aufgebracht davonstürmte, hinein in die Dunkelheit.

Passanten auf der Straße hatten mitbekommen, wie sie ihm, einem dreckigen Hakenier, die Meinung gesagt harre. Sie setzten ein zufriedenes Lächeln auf oder lachten ihn einfach aus. Snip stopfte seine Hände in die Taschen, kehrte der Straße den Rücken zu und lehnte sich mit der Schulter an den Baum. Düsteren Gedanken nachhängend wartete er, bis alle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und weitergingen.

Der Fußweg zurück zum Anwesen dauerte eine Stunde. Er wollte sichergehen, dass alle, die dorthin zurückkehrten, vorgegangen waren, damit er für sich bleiben konnte und sich mit niemandem zu unterhalten brauchte. Er spielte mit dem Gedanken, sich etwas zu trinken zu kaufen. Er hatte noch immer etwas Geld übrig. Oder aber er konnte umkehren und Morley suchen, um sich anschließend mit ihm zusammen etwas zu trinken zu besorgen. Wie auch immer, sich zu betrinken schien ihm eine gute Idee.

Plötzlich wurde der Wind kühler. Ein Frösteln kroch ihm den Rücken hoch.

Fast wäre er aus den Stiefeln gefahren, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er wirbelte herum und erblickte eine ältere Anderierin. Ihr nach hinten gebürstetes, fast schulterlanges Haar verriet ihm, dass es sich um eine wichtige Persönlichkeit handelte. Graue Strähnen an den Schläfen sagten ihm, sie war alt; es war nicht hell genug, um zu erkennen, wie runzlig sie tatsächlich war, doch dass sie es war, war nicht zu übersehen.

Snip verbeugte sich vor der Anderierin. Er befürchtete, sie könnte dort weitermachen wollen, wo Beata aufgehört hatte, und ihn wegen irgendeiner Geschichte zur Rede stellen.

»Magst du dieses Mädchen?«, erkundigte sich die Frau.

Die seltsame Frage erwischte Snip in einem unbedachten Augenblick. »Ich weiß nicht«, stammelte er.

»Sie war ziemlich grob zu dir.«

»Ich hab es verdient, Ma’am.«

»Warum denn das?«

Snip zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht.«

Er wusste nicht recht, was die Frau von ihm wollte. Die Art, wie sie ihn aus ihren dunklen Augen musterte, so als wählte sie ein Huhn fürs Abendessen aus, bereitete ihm eine Gänsehaut.

Sie trug ein schlichtes Kleid, das in dem schwachen Licht so aussah, als könnte es möglicherweise dunkelbraun sein. Anders als die freizügigere Mode, die die meisten anderischen Frauen trugen, war es bis zum Hals zugeknöpft. Ihr Kleid wies sie nicht als vornehme Frau aus, ihr Haar dagegen sprach dafür, dass sie jemand Wichtiges war.

Irgendwie schien sie anders zu sein als die anderen anderischen Frauen. Eine Sache fand Snip eigenartig an ihr: Hoch oben im Nacken trug sie ein eng sitzendes schwarzes Band um ihren Hals.

»Manchmal sagen Mädchen eine Gemeinheit, wenn sie Angst haben zuzugeben, dass sie einen Jungen gern haben und befürchten, er könnte sie nicht mögen.«

»Und manchmal sagen sie eine Gemeinheit, weil sie es auch so meinen.«

»Das ist wohl wahr.« Sie lächelte. »Wohnt sie auf dem Anwesen oder hier in Fairfield?«

»Hier in Fairfield. Sie arbeitet für Inger, den Metzger.«

Das schien sie leicht zu amüsieren. »Vielleicht ist sie mehr Fleisch auf den Knochen gewöhnt. Wenn du ein wenig älter und fülliger geworden bist, findet sie vielleicht mehr Gefallen an dir.«

Snip stopfte seine Hände wieder in die Taschen. »Vielleicht.«

Er glaubte nicht daran, er glaubte auch nicht, jemals fülliger zu werden, wie sie es nannte. Er hielt sich für alt genug und glaubte nicht, dass er sich noch groß verändern würde.

Abermals betrachtete sie für eine Weile sein Gesicht.

»Möchtest du, dass sie dich mag?«, fragte sie schließlich.

Snip räusperte sich. »Na ja, manchmal schon, schätze ich. Zumindest möchte ich nicht, dass sie mich hasst.«

Die Frau lächelte, als wäre sie mit etwas sehr zufrieden, er bezweifelte jedoch, jemals zu begreifen, womit.

»Das ließe sich arrangieren.«

»Ma’am?«

»Wenn du sie magst und möchtest, dass sie dich ebenfalls mag, ließe sich das arrangieren.«

Snip blinzelte sie erstaunt an. »Wie denn?«

»Man könnte ihr etwas ins Essen oder Trinken geben.«

Mit einem Mal begriff er. Dies war eine Frau mit Magie. Endlich verstand er, wieso sie ihm so seltsam vorkam. Er hatte gehört, Menschen mit Magie seien seltsam.

»Ihr meint, Ihr könntet etwas erfinden? Irgendeinen Mann oder so was?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Oder so was.«

»Ich habe meine Stelle bei Meister Campbell gerade erst angetreten. Tut mir Leid, Ma’am, aber das kann ich mir nicht leisten.«

»Aha, ich verstehe.« Ihr Lächeln fiel in sich zusammen. »Und wenn doch?«

Bevor er antworten konnte, blickte sie nachdenklich blinzelnd in den Himmel. »Vielleicht genügt es, wenn es erst später fertig wird, sobald du deinen Lohn erhältst.« Ihre Stimme wurde zu wenig mehr als einem Flüstern, als redete sie mit sich selbst. »Dann hätte ich womöglich Zeit, das Problem zu erkennen, und könnte dafür sorgen, dass es noch einmal wirkt.«

Sie sah ihm in die Augen. »Was hältst du davon?«

Snip musste schlucken. Er wollte ganz bestimmt keine Anderierin kränken, erst recht keine, die die Gabe besaß. Trotzdem, er war unschlüssig.

»Na ja, Ma’am, die Wahrheit ist, sollte mich je ein Mädchen mögen, dann wäre es mir lieber, wenn sie mich mag, weil sie mich eben mag. Ich will Euch nicht kränken, Ma’am, Euer Angebot ist freundlich. Aber ich glaube, es würde mir nicht gefallen, wenn mich ein Mädchen nur wegen eines magischen Banns mag. Ich glaube, ich würde mich nicht sonderlich wohl dabei fühlen, wenn ein Mädchen nur durch Magie dazu gebracht werden könnte, mich zu mögen.«

Die Frau lachte und versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken. Es war ein sanftes, fröhliches Lachen aufrichtiger Freude, das nicht so klang, als lache sie ihn aus. Snip konnte sich nicht erinnern, jemals einen Anderier, der sich mit ihm unterhalten hatte, dermaßen lachen gehört zu haben.

»So ist es recht.« Sie verlieh ihren Worten Nachdruck, indem sie ihren Finger hob. »Genau dasselbe meinte ein Zauberer auch einmal zu mir, vor sehr langer Zeit.«

»Ein Zauberer? Das muss schrecklich gewesen sein. Einem Zauberer zu begegnen, meine ich.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Eigentlich nicht. Er war ein netter Mann. Damals war ich noch sehr klein. Ich wurde mit der Gabe geboren, musst du wissen. Er meinte, ich solle stets daran denken, dass Magie kein Ersatz dafür ist, wenn einen jemand so mag, wie man ist.«

»Ich wusste gar nicht, dass es in dieser Gegend Zauberer gibt.«

»Hier nicht«, erwiderte sie. Sie deutete mit einer schnellen Handbewegung hinaus in die Nacht. »Unten in Aydindril.«

Er spitzte die Ohren. »In Aydindril? Im Nordosten?«

»Na, bist du ein kluger Junge. Ganz recht, in Aydindril. In der Burg der Zauberer.« Sie bot ihm die Hand. »Ich bin Franca. Und du?«

Snip ergriff die Hand und hielt sie sachte fest, während er sein Knie zu einer tiefen Verbeugung einknickte. »Ich heiße Snip, Ma’am.«

»Franca.«

»Ma’am?«

»Franca. So lautet mein Name. Ich habe dir meinen Namen genannt, damit du mich bei meinem Namen nennen kannst.«

»Verzeihung, Ma’am – ich meine Franca.«

Sie stieß wieder ihr kleines Lachen aus. »Nun, Snip, war nett, dich kennen zu lernen. Ich muss mich jetzt auf den Weg zurück zum Anwesen machen. Vermutlich wirst du losziehen und dich betrinken. Offenbar ist es das, was Jungs in deinem Alter gerne tun.«

Snip musste sich eingestehen, dass die Vorstellung, sich zu betrinken, ihm überaus behagte. Die Chance, etwas über die Burg der Zauberer zu erfahren, klang jedoch verlockend.

»Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn ich auch zum Anwesen zurückgehe. Wenn Ihr nichts dagegen habt, Euch von einem Hakenier begleiten zu lassen, würde ich gerne mit Euch gehen. Franca.« Den Namen setzte er, einem späten Einfall folgend, hinzu.

Wieder betrachtete sie sein Gesicht auf diese Weise, die ihn innerlich ganz unruhig machte.

»Ich besitze die Gabe, Snip. Das heißt, ich bin anders als die meisten, daher denken die meisten anderen Menschen – Hakenier sowohl als auch Anderier – über mich so, wie die meisten Anderier über dich denken, nur weil du Hakenier bist.«

»Tatsächlich? Aber Ihr seid doch Anderierin.«

»Anderierin zu sein genügt nicht, um das Schandmal der Gabe zu überwinden. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man erleben muss, dass einen die Menschen verabscheuen, ohne wirklich etwas über einen zu wissen.

Es wäre mir eine große Freude, wenn du mich begleiten würdest, Snip.«

Snip feixte, teils wegen des Schrecks, als ihm bewusst wurde, dass er sich mit einer anderischen Frau unterhielt, richtig unterhielt, und teils aus Erschrockenheit darüber, dass Anderier sie, eine andere Anderierin, nicht mochten – weil sie Magie besaß.

»Aber respektieren sie Euch denn nicht wegen Eurer Magie?«

»Sie haben Angst vor mir. Angst hat ihre guten und ihre schlechten Seiten. Gute, weil die Menschen einen auch dann noch gut behandeln, wenn sie einen nicht mögen. Schlechte, weil Menschen dazu neigen, auf etwas, das sie fürchten, mit Gewalt zu reagieren.«

»So habe ich das noch nie gesehen.«

Er musste daran denken, wie gut er sich gefühlt hatte, als Claudine Winthrop ihn mit ›Sir‹ angeredet hatte. Er wusste, sie hatte es nur aus Angst getan, trotzdem hatte es ihm ein gutes Gefühl gegeben. Der zweite Teil von Francas Erklärung sagte ihm allerdings nichts.

»Ihr seid sehr klug. Liegt das an der Magie? Macht Magie einen Menschen klug?«

Wieder entfuhr ihr dieses rauhe Lachen, als fände sie ihn so amüsant wie einen Fisch mit Beinen.

»Wenn, dann würden die Menschen sie Burg der weisen Männer statt Burg der Zauberer nennen. Vielleicht wären manche Menschen klüger, wären sie nicht mit dem Rückhalt der Magie auf die Welt gekommen.«

Noch nie war er jemandem begegnet, der in Aydindril oder gar in der Burg der Zauberer gewesen war. Er konnte kaum glauben, dass jemand, der Magie besaß, sich mit ihm unterhielt. Und er war auch ein wenig beunruhigt, weil er nichts über Magie wusste und annahm, Franca würde ihm, wenn sie ärgerlich wurde, etwas antun.

Trotzdem, er fand sie faszinierend, auch wenn sie alt war.

Schweigend machten sie sich auf den Weg, die Straße entlang, die zum Anwesen führte. Manchmal machte Schweigen ihn nervös. Er fragte sich, ob sie mit Hilfe ihrer Magie seine Gedanken lesen konnte.

Snip sah zu ihr hinüber. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie auf seine Gedanken achten. Er zeigte auf ihren Hals.

»Stört es Euch, wenn ich frage, was das dort für ein Ding ist, Franca? Das Band, das Ihr um Euren Hals tragt? Ich habe nie jemanden etwas Ähnliches tragen sehen. Hat das etwas mit Magie zu tun?«

Sie musste laut lachen. »Weißt du, Snip, dass du seit sehr, sehr vielen Jahren der Erste bist, der mich danach fragt? Auch wenn es nur daran liegt, dass du zu unwissend bist, um dich zu fürchten, einer Hexenmeisterin eine derart persönliche Frage zu stellen.«

»Tut mir Leid, Franca. Ich wollte nichts Ungehöriges sagen.«

Er begann sich zu sorgen, er könnte aus Dummheit etwas gesagt haben, das sie verärgerte. Es lag bestimmt nicht in seiner Absicht, eine Anderierin, und erst recht keine mit Magie, zu verärgern. Sie schwieg eine Zeit lang, während sie weiter die Straße entlanggingen. Snip stopfte seine schweißnassen Hände in die Taschen.

Schließlich ergriff sie wieder das Wort. »Das ist es nicht, Snip. Die Frage war nicht ungehörig, meine ich. Sie weckt bloß schlimme Erinnerungen.«

»Das tut mir Leid, Franca. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Manchmal sage ich dumme Dinge. Tut mir Leid.«

Er begann sich zu wünschen, er wäre stattdessen sich betrinken gegangen.

Ein paar Schritte weiter blieb sie stehen und wandte sich ihm zu. »Nein, die Frage war nicht dumm. Sieh her.«

Sie zog das Halsband ein Stück herunter, damit er sehen konnte. Es war zwar dunkel, aber der Mond schien, daher konnte er eine breite, unregelmäßige, weiß und wächsern aussehende Linie erkennen, die ganz um ihren Hals herumlief. Ihm kam es vor wie eine hässliche Narbe.

»Vor langer Zeit haben einige Leute versucht, mich umzubringen. Weil ich Magie besitze.« Der Mondschein glitzerte in ihren feuchten Augen. »Serin Rajak und seine Gefolgsleute.«

Snip hatte den Namen noch nie gehört. »Gefolgsleute?«

Sie zog das Halsband wieder hoch. »Serin Rajak ist ein erbitterter Gegner der Magie. Er hat Gefolgsleute, die genauso denken wie er. Sie hetzen die Menschen gegen die, die Magie besitzen, auf. Bis sie von einem hemmungslosen Hass ergriffen werden und nach Blut schreien.

Es gibt nichts Widerwärtigeres als einen Mob von Menschen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, jemandem Unheil zuzufügen. Einer allein brächte nicht den Mut dazu auf, aber gemeinsam ist es für sie ein Leichtes, etwas als richtig zu beschließen und durchzuführen. Ein Mob entwickelt einen ganz eigenen Willen – er bekommt ein Eigenleben. Wie ein Rudel Straßenköter, die ein auf sich gestelltes Tier in den Tod hetzen.

Rajak nahm mich gefangen und legte mir einen Strick um den Hals. Sie banden mir die Hände auf den Rücken, dann suchten sie einen Baum, warfen das andere Ende des Strickes über einen Ast und zogen mich am Strick um meinen Hals hoch.«

Snip war entsetzt. »Bei den Gütigen Seelen – das muss doch schrecklich wehgetan haben.«

»Anschließend gingen sie daran, Reisig unter mir aufzuschichten; sie wollten ein großes Feuer machen. Ich konnte jedoch fliehen, bevor sie dazu kamen, das Feuer anzuzünden.«

Snips griff sich mit den Fingern an den Hals, rieb sich den Nacken und versuchte sich dabei vorzustellen, wie es wäre, an einem Strick um seinen Hals aufgehängt zu werden.

»Dieser Mann – Serin Rajak. Ist er Hakenier?«

Sie schüttelte den Kopf, als sie von neuem aufbrachen. »Man muss kein Hakenier sein, um ein schlechter Mensch zu sein, Snip.«

Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Snip hatte das Gefühl, als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders und baumele wieder an dem Strick um ihren Hals. Er fragte sich, wieso sie nicht erstickt war. Vielleicht hatte das Seil nicht fest gesessen, entschied er – ohne Knoten, der die Schlaufe hielt. Er fragte sich, wie sie hatte entkommen können, spürte jedoch, dass er bereits genug gefragt hatte, und traute sich nicht weiter nachzuhaken.

Er lauschte auf das Knirschen des Schotters unter ihren Stiefeln. Ab und zu riskierte er einen verstohlenen Seitenblick. Sie wirkte nicht mehr so unbeschwert wie noch zu Anfang, deshalb wünschte er, er hätte die Frage für sich behalten.

Schließlich überlegte er, ob er ihr vielleicht eine Frage stellen sollte, mit der er sie schon einmal zum Schmunzeln gebracht hatte. Außerdem hatte er sie aus diesem Grund überhaupt erst begleiten wollen.

»Wie war die Burg der Zauberer, Franca?«

Er hatte sich nicht getäuscht; sie lächelte tatsächlich. »Gewaltig. Du kannst dir nicht einmal annähernd vorstellen, wie groß sie ist, und ich könnte es dir nicht beschreiben. Sie steht hoch oben auf einem Berg mit Blick auf Aydindril, hinter einer steinernen Brücke über einem Tausende Fuß tiefen Abgrund. Ein Teil der Burg ist in den Berg selbst hineingeschlagen. Es gibt mit Scharten versehene Festungsmauern, die wie Klippen in die Höhe ragen. Breite Wallanlagen, breiter als diese Straße, führen zu den verschiedenen Gebäuden. An etlichen Stellen erheben sich Türme hoch über der Burg. Sie war prächtig.«

»Habt Ihr je einen Sucher der Wahrheit zu Gesicht bekommen? Habt Ihr je das Schwert der Wahrheit gesehen, als Ihr dort wart?«

Sie blickte stirnrunzelnd zu ihm hinüber. »Weißt du, das habe ich tatsächlich. Meine Mutter war Hexenmeisterin. Sie ging nach Aydindril, um den Obersten Zauberer wegen irgendeiner Geschichte aufzusuchen – weswegen genau, weiß ich nicht. Wir gingen über eine dieser Wallanlagen zur Enklave des Obersten Zauberers in der Burg. Er verfügte über einen abgetrennten Bereich, wo er Wunderdinge aller Art besaß. Ich kann mich noch gut an das blinkende, glänzende Schwert erinnern.«

Es schien ihr große Freude zu machen, davon zu erzählen, daher fragte er: »Wie war sie denn, diese Enklave des Obersten Zauberers? Und das Schwert der Wahrheit?«

»Nun, lass mich überlegen…« Sie legte einen Finger an ihr Kinn und dachte einen Augenblick lang nach, dann begann sie und erzählte ihre Geschichte.

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