Zedd kratzte sich am Kinn und sah sich um: keine Menschenseele. Es war eine seltsame Gasse, eng und dunkel. Er nahm das kleine Gebäude an ihrem Ende in Augenschein. Das düstere Wohnhaus wirkte unbewohnt.
Ein gutes Zeichen.
Zedd streichelte Spinne über die Nase. »Du wartest hier, verstanden? Warte hier auf mich.«
Die Stute warf den Kopf und wieherte zustimmend. Lächelnd kraulte Zedd ihr Ohr. Als Antwort drückte sie ihren Kopf gegen seine Brust und ließ ihn dort, als wollte sie ihm zu verstehen geben, es wäre ihr durchaus angenehm, wenn er ihr auch für den Rest des Nachmittags die Ohren kraulte.
Benannt nach dem spinnenförmigen schwarzen Mal auf ihrem cremefarbenen Hinterteil, hatte Spinne sich trotz des hohen Preises als vortrefflicher Kauf erwiesen. Sie war jung, kräftig, schäumte geradezu über vor Temperament, genoss es dahinzutraben und mochte ab und zu auch einen feurigen Galopp. Sie hatte ihn in bemerkenswert kurzer Zeit nach Toscia gebracht.
Seit seiner Ankunft hatte er gelernt, dass Toscia mittlerweile Anderith genannt wurde. Tatsächlich wäre Zedd um ein Haar von einem Mann vom Pferd gezogen worden, der ihn beschuldigte, er habe die alte Bezeichnung als Beleidigung benutzt. Glücklicherweise wusste Spinne nichts von der seltsamen Empfindlichkeit der Menschen gegen bloße Worte; sie war froh, auf und davon galoppieren zu können.
Zedd, der seine Gabe nicht nutzen konnte, deshalb verwundbar war und überdies sein Alter spürte, hatte sich bereits mit einer langen und beschwerlichen Reise zu Fuß durch die Wildnis abgefunden gehabt. Der Magie des Zufalls hatte er es zu verdanken, dass ihm am dritten Tag nach Verlassen des Dorfes der Schlammenschen ein Mann über den Weg lief, der sich als reisender Händler herausstellte. Da er häufig zwischen seinen Kunden pendelte, war der Mann mit mehreren Pferden unterwegs. Er konnte es sich leisten, bis zum Erreichen seines Zieles auf sein Ersatztier zu verzichten, besonders zu dem Preis, den Zedd ihm bot, und hatte sich von Spinne getrennt.
Die lange und überaus schwere Reise, mit der Zedd gerechnet hatte, erwies sich am Ende als bemerkenswert kurz und – solange er nicht über die Gründe nachdachte, die ihn nach Anderith geführt hatten – als ganz und gar nicht unerfreulich.
An der Grenze hatte man Zedd, der sich in die Schlange der Wartenden eingereiht hatte, zwischen Karren, Kaufleuten und Händlern aller Art passieren lassen. In seinem eleganten kastanienbraunen und schwarzen Gewand, mit den Silberbrokatstulpen und dem Goldbrokatstreifen an Kragen und Vorderseite sowie der goldenen Schnalle an dem roten Samtgürtel war es ihm nicht schwer gefallen, sich als Kaufmann auszugeben. Den Beamten an der Grenze erzählte er, er besäße weiter nördlich Obstgärten und sei auf dem Weg nach Fairfield, um Lieferverträge auszuhandeln.
Nach dem Aussehen der Soldaten zu schließen, denen er an der Grenze begegnete, setzten die Menschen in Anderith zu großes Vertrauen in die Dominie Dirtch. Es war lange her, seit er das ehemals Toscia genannte Land besucht hatte, damals jedoch wurde die Grenze von einer starken und gut ausgebildeten Armee gesichert, wie man sie sich besser kaum wünschen konnte. Inzwischen war die Armee so weit heruntergekommen, dass sie gegenwärtig nicht mehr darstellte als das wertlose Abschreckungsmittel naiven Selbstvertrauens.
Zedd sah, dass Spinne die Ohren auf das unbewohnt aussehende Haus am unteren Ende der Gasse richtete. Alle Muskeln des Tieres waren aufs Äußerste angespannt. Womöglich war ein Pferd in gewissen Dingen genauso gut, wie dies Teile seiner Magie gewesen wären. Der Gedanke behagte ihm nicht. Er wollte seine Magie zurück.
Nachdem er Spinne einen beruhigenden Klaps versetzt und sie abermals gebeten hatte, dort zu warten, begab Zedd sich die schmale Gasse hinunter. Hohe, mit Schindeln verkleidete Mauern zu beiden Seiten hielten den größten Teil des Lichtes fern. Ungeachtet dessen gedieh neben dem schmalen Fußweg eine Vielzahl von Kräutern. Viele der Kräuter, die Zedd dort wachsen sah, waren überaus lichtscheu, einige von ihnen zudem äußerst selten; normalerweise gaben sie im Licht ein Zischen von sich, jetzt jedoch wirkten sie angegriffen.
Zedd war peinlich darauf bedacht, auf jede der drei zur Tür hinaufführenden Stufen zu treten und ja keine auszulassen. Derart routinemäßige Versuche, unbemerkt zu bleiben, waren fehl am Platz, wenn dies tatsächlich der erhoffte Ort war. Ein flüchtiger Blick durch den Spalt im Vorhang verriet ihm, dass es drinnen stockdunkel war. Nirgendwo Augen, die ihn abschätzend gemustert hätten. Dennoch nahm er – wenn schon nicht mit Hilfe von Magie, dann doch zumindest aufgrund seines gesunden Menschenverstandes – stark an, dass sie vorhanden waren.
Ein letzter Blick über die Schulter auf Spinne, die aufmerksam dastand, die Ohren in seine Richtung gespitzt. Sie hob den Kopf, öffnete das Maul und wieherte. Zedd klopfte an.
Die Tür ging knarrend auf. Dahinter stand niemand.
»Herein«, ließ sich eine Stimme aus dem dahinterliegenden Dunkel vernehmen, »und sagt, was Euch hierher führt.«
Zedd trat in die Düsterkeit des finsteren Raumes. Durch den Schlitz im schweren Vorhang fiel nur wenig Licht, und die Helligkeit von der Tür schien schnell zu versickern, bevor sie sich weit ins Innere traute. Möbel konnte er keine erkennen, lediglich die Bodendielen, die sich im fernen Halbdunkel verloren, wo sie wartete.
Er drehte sich um, betrachtete den oberen Türrand und deutete mit knochigem Finger darauf.
»Ein netter Trick, das Seil, mit dem Ihr die Tür öffnet, während Ihr dort hinten bleibt. Sehr eindrucksvoll.«
»Wer seid Ihr, dass Ihr meinen Zorn herausfordert?«
»Euren Zorn herausfordern? Liebe Güte, nein. Das habt Ihr in den falschen Hals gekriegt. Ich bin hier, weil ich nach einer Hexenmeisterin suche.«
»Nehmt Euch mit Euren Wünschen in Acht, Fremder. Wünsche haben die unangenehme Eigenart, manchmal in Erfüllung zu gehen. Nennt Euren Namen.«
Zedd machte eine theatralische Verbeugung. »Zeddicus Z’ul Zorander.« Er neigte den Kopf zur Seite, um die Frau im Schatten mit einem Auge zu betrachten. »Und zwar der Oberste Zauberer Zeddicus Z’ul Zorander.«
Die Frau trat wankend ins Licht, einen erstaunten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. »Oberster Zauberer…«
Zedd setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. »Franca Gowenlock, hoffe ich?«
Den Mund geöffnet, die Augen weit aufgerissen, war sie offenbar nur zu einem Nicken fähig.
»Sieh an, was Ihr gewachsen seid.« Zedd hielt seine Hand dicht unter seine Gürtellinie. »Ihr könnt unmöglich größer als so gewesen sein, als ich Euch das letzte Mal sah.« Sein bewunderndes Lächeln war aufrichtig. »Wie ich sehe, ist aus Euch ein überaus entzückendes Weibsbild geworden.«
Errötend hob sie ihre Hand und richtete ihr Haar. »Aber mein Haar ist längst ergraut.«
»Ein Hauch davon steht Euch sehr gut. Ganz bestimmt.«
Er meinte es ernst. Sie war tatsächlich eine attraktive Frau. Ihr beinahe schulterlanges Haar war nach hinten gebürstet, sodass ihre stolzen Züge aufs Vorteilhafteste zur Geltung kamen. Der Hauch von Grau an ihren Schläfen unterstrich ihre reife Schönheit nur.
»Und Ihr…«
»Ja«, meinte er seufzend, »ich weiß. Ich bin nicht ganz sicher, wann genau es passiert ist, aber aus mir ist ein alter Mann geworden.«
Sie trat näher, während das Lächeln auf ihrem Gesicht immer breiter wurde, und machte, den Saum ihres schlichten braunen Kleides ausbreitend, einen Knicks.
»Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem bescheidenen Zuhause willkommen zu heißen, Oberster Zauberer.«
Zedd fuchtelte mit seiner Hand. »Davon will ich nichts hören. Wir sind alte Bekannte. Einfach Zedd genügt mir völlig.«
Sie richtete sich wieder auf. »Also gut, dann eben Zedd. Ich kann kaum glauben, dass der Schöpfer meine Gebete so unmittelbar erhört hat. Ich wünschte nur, meine Mutter lebte noch und könnte Euch noch einmal sehen.«
»Sie war ebenfalls eine wunderschöne Frau. Mögen die Gütigen Seelen über ihr frommes Wesen wachen.«
Strahlend ergriff Franca sein Gesicht mit beiden Händen. »Und Ihr seht noch genauso gut aus wie in meiner Erinnerung.«
»Wirklich?« Zedd drückte seine Schultern durch. »Nun, vielen Dank, Franca. Ich versuche, auf mich Acht zu geben. Mich regelmäßig zu waschen und dergleichen – mit Kräutern und speziellen Ölen, die ich gelegentlich ins Wasser gebe. Vermutlich erklärt das, wieso meine Haut noch so geschmeidig ist.«
»Ach, Zedd, Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Euch zu sehen. Dem Schöpfer sei Dank.« Sie hielt sein Gesicht noch immer in den Händen. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich brauche Hilfe. Ach, Oberster Zauberer, ich benötige dringend Eure Hilfe.«
Er ergriff ihre Hände. »Seltsam, dass Ihr darauf zu sprechen kommt.«
»Ihr habt meiner Mutter geholfen, Zedd. Damals. Jetzt müsst Ihr mir helfen. Bitte. Meine Kraft ist versiegt, ich habe alles versucht, was mir in den Sinn kam, habe in Büchern über Zauberformeln, über Banne und Hexerei nachgeschlagen. Nichts davon hat etwas genützt. Ich musste diesen Strick oben an der Tür befestigen, um die Leute zu täuschen, damit sie sich weiter vor mir in Acht nehmen. Ich war ganz krank vor Sorge. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe versucht…«
»Die Chimären sind auf freiem Fuß.«
Sie starrte ihn sprachlos und mit flatternden Wimpern an. Ihr stilles Heim schien mit ihr zu wachsen, schien mit ihr gemeinsam gespannt auf seine Worte zu lauschen, mit ihr den Atem anzuhalten.
»Was habt Ihr da gesagt?«
»Die Chimären sind auf freiem Fuß.«
»Nein«, meinte sie, scheinbar in einem Zustand verwirrten Schocks, »ich glaube, das ist nicht der Grund. Vielleicht liegt es an einer Überhitzung meines Blutes, möglicherweise hervorgerufen durch den Zauber von Frauen mit geringerem Talent und größerem Ehrgeiz. Ich denke, es geht um Eifersucht, gepaart mit einem nachtragenden Wesen. Ich habe versucht, den Menschen, bildlich gesprochen, nicht auf die Füße zu treten, aber es gab Zeiten…«
Zedd fasste sie bei den Schultern. »Franca, ich bin gekommen, weil ich hoffte, Ihr könntet mir helfen. Die Mutter Konf … meine Schwiegerenkeltochter … hat die Chimären aus Versehen freigelassen, als sie aus Verzweiflung und als letztes Mittel die Hilfe einer mächtigen Magie anrief, um meinen Enkelsohn zu retten.
Ich bin auf Eure Hilfe angewiesen, deswegen bin ich hergekommen, denn meine Magie ist ebenfalls versiegt. Alle Magie schwindet, die Welt des Lebendigen schwebt in entsetzlicher Gefahr. Einer Frau von Euren Fähigkeiten muss ich die Folgen eines solchen Geschehens nicht erklären. Wir müssen unbedingt herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, die Chimären zu vertreiben. Ich komme als Oberster Zauberer zu Euch und bitte Euch um Eure Hilfe.«
»Euer Enkelsohn? Ist er … hat er die schwere Prüfung überstanden? Hat er sich wieder erholt?«
»Ja. Glücklicherweise hat er dank der Hilfe seiner damals noch Zukünftigen überlebt und erfreut sich jetzt bester Gesundheit.«
Einen Fingernagel zwischen die Zähne geklemmt, während der Blick aus ihren dunklen Augen unruhig umherwanderte, dachte sie einen Augenblick über seine Worte nach. »Dann hat es wenigstens etwas Gutes, er hat überlebt. Andererseits bedeutet es, dass die Chimären als Gegenleistung für ihre Hilfe den Schleier durchbrechen können…«
Sie runzelte die Stirn. »Euer Enkelsohn, sagt Ihr. Hat er die Gabe?«
Tausend Dinge schossen Zedd gleichzeitig durch den Kopf. Er antwortete mit einem schlichten Ja.
Franca bedachte ihn mit einem kurzen, aber höflichen Lächeln, um zu zeigen, dass sie sich für Zedd freute, dann wurde sie aktiv. Sie zog die Vorhänge auf, nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Tisch im Hintergrund. Sie öffnete einen schweren Vorhang vor einem kleinen Fenster an der Rückwand, damit Licht auf den Tisch fiel. In die dunkle Mahagonitischplatte war eine silberne Huldigung eingelegt.
Franca forderte ihn mit einer freundlichen Geste auf, Platz zu nehmen. Während er dies tat, ging sie zwei Tassen holen. Nachdem sie aus einer über den glühenden Scheiten im Kamin hängenden Kanne Tee eingeschenkt hatte, ließ sie sich ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken.
Sie druckste nervös herum, bevor sie sprach. »Ich nehme an, die Angelegenheit ist noch verworrener.«
Zedd seufzte. »Sie ist sehr viel verworrener, nur wird die Zeit leider knapp.«
»Würde es Euch etwas ausmachen, mir wenigstens ein paar der wichtigsten Punkte zu erklären?«
»Also gut, von mir aus.« Zedd trank zuerst einen Schluck Tee. »Erinnert Ihr Euch noch an D’Hara?«
Ihre Hand mit der Teetasse hielt auf dem Weg zum Mund inne. »Wie könnte sich jemand nicht an D’Hara erinnern?«
»Nun ja, die Sache ist die, meine Tochter war Richards – Richard, das ist mein Enkelsohn –, meine Tochter war also Richards Mutter. Er wurde bei einer grausamen Vergewaltigung gezeugt.«
»Das tut mir aufrichtig Leid.« Ihr Mitgefühl war ehrlich. »Aber was hat das mit D’Hara zu tun?«
»Der Mann, der ihn zeugte, war Darken Rahl aus D’Hara.«
Ihre Hände wurden von einem auffälligen Zittern ergriffen. Franca setzte ihre Tasse behutsam wieder ab, um den Tee nicht zu verschütten, bevor sie ihn probieren konnte. »Wollt Ihr damit sagen, dieser Enkelsohn von Euch ist der Nachkomme zweier Familien von Zauberern – und gleichzeitig ebenjener Lord Rahl, der die Kapitulation sämtlicher Länder der Midlands fordert?«
»Nun, äh, sieht ganz so aus.«
»Und dass dieser Enkelsohn von Euch, dieser Lord Rahl, derselbe ist, der der Mutter Konfessor persönlich angetraut werden soll?«
»Es war eine wundervolle Zeremonie«, meinte Zedd. »Wirklich wundervoll. Eher im kleinen Kreis, das schon, aber trotzdem recht elegant.«
Franca stützte ihre Stirn in die Hand. »Bei den Gütigen Seelen, das ist ein starkes Stück.«
»O ja. Außerdem ist er ein Kriegszauberer. Ich vergaß – entschuldigt. Er wurde mit beiden Seiten der Gabe geboren.«
Sie hob den Kopf. »Was?«
»Ihr wisst schon, mit beiden Seiten. Mit Subtraktiver sowohl als auch Additiver Magie. Mit beiden Seiten eben.«
»Ich weiß, was ›beide Seiten‹ bedeutet.«
»Oh.«
Franca musste schlucken. »Augenblick mal. Die Chimären … soll das heißen, es war die Mutter Konfessor, die sie gerufen hat?«
»Nun ja, jedenfalls hat sie…«
Die Frau sprang auf, sodass ihr Stuhl über den Fußboden scharrte. »Es ist Lord Rahl, der – bei den Gütigen Seelen, die Mutter Konfessor höchstpersönlich hat die Seele eines Lord Rahl, eines Kriegszauberers mit beiden Seiten der Gabe, den Chimären als Pfand versprochen?«
»Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Sie wusste nichts von diesem Bann; sie hat es nicht mit Absicht getan. Sie ist eine Seele von Mensch und würde so etwas niemals absichtlich tun.«
»Absichtlich oder nicht, wenn er den Chimären in die Hände fällt…«
»Ich habe die beiden an einen sicheren Ort geschickt – wo die Chimären ihm nichts anhaben können. In dieser Hinsicht haben wir nichts zu befürchten.«
Sie seufzte erleichtert. »Dem Schöpfer sei Dank, wenigstens das.«
Zedd nahm noch einen Schluck. »Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, dass unsere Kraft versiegt ist, die Welt ohne Magie dasteht und sich möglicherweise am Rand des Unterganges befindet. Wie gesagt, ich brauche dringend Hilfe.«
Schließlich, als Zedd mit einem Nicken auf ihn deutete, sank Franca wieder auf ihren Stuhl zurück. Lächelnd meinte er, der Tee sei hervorragend, und sie solle doch auch einen Schluck probieren.
»Ich glaube, Zedd, nur der Schöpfer selbst kann Euch noch helfen. Was kann ich Eurer Meinung nach denn tun? Ich bin nichts weiter als eine unbedeutende, mittelmäßige, gewöhnliche Hexenmeisterin in einem riesigen Land. Wieso kommt Ihr ausgerechnet zu mir?«
Zedd musterte sie argwöhnisch. »Was verbergt Ihr eigentlich unter diesem Halsband?«
Sie strich sich mit den Fingern über den Hals. »Eine Narbe. Erinnert Ihr Euch noch an den Lebensborn?« Zedd bejahte mit einem Nicken. »Nun, diese Sorte Männer gibt es fast überall. Männer, die glauben, wer Magie besitzt, sei schuld an allem Elend, das ihnen in ihrem Leben widerfährt.«
»Hier hatte der Fanatismus einen Namen: Serin Rajak. Er entspricht genau dem Typ: gewalttätig und rachsüchtig. Er versteht sich sehr geschickt darauf, seine Wahnvorstellungen in Worte zu kleiden, mit denen er die Emotionen anderer hochpeitscht und sie in seine niederträchtigen Machenschaften hineinzieht.«
»Seine Vorstellung, die Welt von allem Übel zu befreien, bestand also darin, Euch zu töten?«
»Mich und meinesgleichen.«
Sie zog das Halsband kurz herunter, bis man die Narbe sehen konnte.
»Er legte mir einen Strick um den Hals, dann gingen er und seine Kumpane daran, ein Feuer unter mir anzurichten. Er zündelt gern. Seiner Ansicht nach reinigt das die Welt von der Magie eines Menschen – und verhindert, dass sie nach seinem Tod zurückbleibt.«
Zedd seufzte. »Es wird nie ein Ende haben. Aber wie ich sehe, konntet Ihr ihn überzeugen, Euch in Ruhe zu lassen.«
Sie musste lächeln. »Hat ihn ein Auge gekostet, was er mir damals angetan hat.«
»Ich muss sagen, ich kann Euch keinen Vorwurf machen.«
»Das ist lange her.«
Zedd wollte das Thema wechseln. »Ich nehme an, Ihr habt vom Krieg mit der Alten Welt gehört?«
»Natürlich. Wir hatten Abgesandte der Imperialen Ordnung hier bei uns, die die Angelegenheit mit unserem Volk besprechen wollten.«
Zedd richtete sich auf. »Was? Die Imperiale Ordnung hat Leute hier?«
»Das erkläre ich Euch doch gerade. Gewisse Personen aus der Regierung hören sehr genau auf das, was die Imperiale Ordnung zu sagen hat. Ich fürchte, die Imperiale Ordnung versucht, hohe Beamte zu bestechen. Und das bereits seit geraumer Zeit.«
Sie beobachtete ihn über den Rand ihrer Tasse, während sie einen Schluck trank. Sie schien sich dazu durchzuringen, ihm noch mehr zu erzählen.
»Einige Leute hier spielen schon seit längerem mit dem Gedanken, der Mutter Konfessor eine geheime Benachrichtigung zu schicken, damit sie herkommt und eine Untersuchung vornimmt.«
»Jetzt, da die Chimären auf freiem Fuß sind, wird sie ihre Kraft verloren haben, genau wie Ihr und ich. Bis die Chimären vertrieben sind, wird sie uns in einer solchen Angelegenheit kaum helfen können.«
Franca seufzte. »Ja, ich verstehe, was Ihr meint. Das Beste wäre, wir könnten selbst dafür sorgen, dass die Chimären vertrieben werden.«
»In der Zwischenzeit sollte sich vielleicht jemand von hier der Sache annehmen.«
Sie setzte ihre Tasse ab. »Wer soll denn das Büro des Ministers für Kultur befragen?«
»Die Direktoren«, schlug Zedd vor.
Sie ließ ihre Tasse ein ums andere Mal auf der Tischplatte kreisen. »Vielleicht.« Mehr sagte sie nicht dazu.
Als Zedd daraufhin nichts erwiderte, versuchte sie das Schweigen zu brechen. »In Anderith tut man, was man tun muss, um sich durchzuschlagen.«
»Manchen Menschen gelingt das überall.« Zedd lehnte sich lässig zurück. »Am Ende wird es ohnehin keine Rolle spielen. Anderith wird sich Richard und dem neuen d’Haranischen Reich ergeben müssen, das er im Begriff ist zu vereinigen, um der Imperialen Ordnung Widerstand zu leisten.«
Zedd trank noch einen Schluck. »Erwähnte ich schon, dass er obendrein ein Sucher der Wahrheit ist?«
Franca sah auf. »Nein, das muss Euch wohl entfallen sein.«
»Richard wird nicht zulassen, dass Anderith sich weiter so verhält, wie es dies im Augenblick zu tun scheint – mit seinen korrupten Beamten, die mit der Imperialen Ordnung unter einer Decke stecken. Er und die Mutter Konfessor werden diesen hinterhältigen Intrigen ein Ende machen. Das ist einer der Gründe, weshalb er gezwungen war, die Macht an sich zu reißen. Es ist seine Absicht, die Herrschaft mit Hilfe von gerechten und allgemein gültigen Gesetzen zu festigen.«
»Gerechte Gesetze«, meinte sie verträumt, als sei dies der Wunsch eines kleinen Kindes. »Wir sind ein reiches Land, Zedd. Anderier müssten eigentlich ein gutes Leben führen können. Wenn es Hakenier wären, die der Imperialen Ordnung Gehör schenkten, könnte ich das noch verstehen. Man könnte sagen, sie hätten einen guten Grund. Aber es sind die Anderier, die ihnen zuhören, und die sind bereits im Besitz der Macht.«
Zedd blickte nachdenklich in seinen Tee. »Nichts reizt Menschen mehr als die Freiheit anderer. Ganz so, wie dieser Serin Rajak alle hasst, die Magie besitzen, verachtet die herrschende Elite – oder wer sich dafür hält – die Freiheit. Ihr einziges Vergnügen besteht darin, das Elend zu erhalten.«
Zedd war bemüht, dem unangenehmen Thema ein wenig von seiner Schwere zu nehmen. »Und Ihr, Franca, habt Ihr einen Ehemann, oder haben die gut aussehenden Männer dieser Welt noch eine Chance, Euch den Hof zu machen?«
Franca lächelte eine Weile bei sich, bevor sie antwortete. »Mein Herz ist vergeben…«
Zedd beugte sich über den Tisch und tätschelte ihr die Hand. »Wie schön für Euch.«
Sie schüttelte den Kopf, während ihr Lächeln auf gespenstische Weise erlosch. »Nein, er ist verheiratet. Meine Gefühle dürfen auf keinen Fall öffentlich bekannt werden. Ich würde mich für immer hassen, wenn ich ihm einen Grund gäbe, seine wunderschöne Braut zu verlassen und sich stattdessen mit einer alternden Jungfer wie mir einzulassen. Er darf nicht einmal ahnen, was ich für ihm empfinde.«
»Das tut mir Leid, Franca«, sagte er zärtlich, voller Mitgefühl. »Das Leben – oder sollte ich sagen, die Liebe – erscheint manchmal so ungerecht. Zumindest im Augenblick, eines Tages jedoch…«
Franca tat die Angelegenheit mit einer Handbewegung ab – mehr ihret- als seinetwegen, wie er fand. Sie sah ihm wieder in die Augen.
»Es schmeichelt mir, Zedd, dass Ihr zu mir kommt – dass Ihr Euch überhaupt an meinen Namen erinnert –, aber wie kommt Ihr darauf, ich könnte Euch helfen? Eure Kraft ist größer als meine. Zumindest war das früher so.«
»Um ganz ehrlich zu sein, ich bin nicht gekommen, um Euch so um Hilfe zu bitten, wie Ihr Euch dies vielleicht vorstellt. Ich kam her, weil ich als junger Zauberer gelernt habe, dass dies der Ort ist, an dem die Chimären bestattet wurden – in Toscia, oder Anderith, wie es jetzt genannt wird.«
»Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht. Wo in Anderith liegen sie begraben?«
Zedd breitete die Hände aus. »Ich hatte gehofft, das wüsstet Ihr. Euer Name war der einzige, den ich hier kannte, also bin ich gekommen und habe Euch aufgesucht. Ich brauchte eben dringend Hilfe.«
»Tut mir Leid, Zedd, aber ich hatte keine Ahnung, dass die Chimären hier begraben liegen.« Sie nahm ihre Tasse wieder zur Hand und nippte nachdenklich daran. »Aber wenn die Chimären, wie Ihr sagt, sich der Seele Eures Enkelsohnes nicht bemächtigen können, dann könnte es doch sein, dass sie irgendwann in die Welt der Toten zurückgezogen werden. Vielleicht brauchen wir gar nichts weiter zu tun. Das ganze Problem könnte sich in Luft auflösen.«
»Ja, diese Hoffnung besteht durchaus, Ihr müsst jedoch das Wesen der Unterwelt bedenken.«
»Und das heißt?«
Zedd trommelte auf den äußeren Kreis der in die Tischplatte eingelegten Huldigung. »Hier, wo das Leben die Grenze überschreitet, fängt die Unterwelt an.« Seine Hand glitt über die Tischkante hinaus. »Dahinter beginnt die Ewigkeit.«
»Da die Unterwelt ewig ist, hat Zeit dort keinerlei Bedeutung. Es mag, wenn wir diese Grenze überschreiten, so etwas wie einen Anfang geben, aber ein Ende existiert nicht, daher löst sich die Vorstellung von Zeit an diesem Punkt auf. Sie ist allein hier, in der Welt des Lebendigen, wo die Zeit durch Anfang und Ende definiert ist und somit einige Bezugspunkte erhält, von Bedeutung.
Die Chimären wurden aus diesem zeitlosen Jenseits heraufbeschworen, von dort erhalten sie ihre Kraft. Demzufolge ist Zeit für sie bedeutungslos.
Vielleicht ist es wahr, dass sie wieder in die Unterwelt zurückgeholt werden, wenn sie sich die Seele, zu deren Hilfe sie die Grenze überschritten haben, nicht verschaffen können. Möglicherweise bedeutet diesen zeitlosen Wesen ihr Aufenthalt hier nicht mehr als nur ein Augenblick; sie warten ab, ob sie Erfolg haben, oder sie erlauben sich einen kleinen Scherz und überziehen alles mit Tod und Zerstörung; nur kann dieser eine Augenblick für sie ein ganzes Jahrtausend für diese Welt bedeuten. Er könnte zehn Jahrtausende bedeuten und wäre für sie immer noch nicht mehr als bloß ein Augenzwinkern – umso mehr, da sie keine Seele besitzen und gar nicht wissen können, was Leben bedeutet.«
Sie hatte jedes Wort genau verfolgt, sie schien geradezu nach Gesprächen zu dürsten, denen kaum jemand außer den mit der Gabe Gesegneten folgen konnte.
»Ja, ich verstehe, was Ihr meint.« Sie fuhr mit erhobenem Finger fort. »Aus dem gleichen Grund könnten sie noch heute, während wir hier miteinander sprechen, verschwinden, denn wenn sie erst einmal beginnen zu begreifen, dass sie in den ihnen fremden Grenzen von Zeit und Zeitplänen funktionieren müssen, wird ihnen eine Welt der Zeit zwangsläufig maßlos enttäuschend vorkommen. Die Seele, auf die sie es abgesehen haben, verfügt in dieser Welt schließlich nur über ein begrenztes Maß an Zeit. Sie müssten diese Seele zu Richards Lebzeiten jagen und einfangen.«
»Gut formuliert und ein durchaus berechtigter Einwand, nur – wie lange sollen wir warten? Irgendwann wird es für die Wesen der Magie zu spät sein, sich noch einmal zu erholen. Bestimmt sind einige durch das Schwinden der Magie bereits geschwächt. Wie lange wird es dauern, bis sie unwiederbringlich ausgestorben sind?«
»Mir ist aufgefallen, dass die Sternengucker am Pfad zu Eurem Haus bereits verwelken.« Zedd zog eine Braue hoch. »Aber schlimmer noch, wie lange wird es dauern, bis eine Magie wie die der Gambitmotte versiegt? Was, wenn die zur Zeit heranreifenden Ernten verderben?«
Sie wandte ihr von Sorge gezeichnetes Gesicht ab.
Da er sie nicht gut kannte, brachte Zedd es nicht zur Sprache, doch ohne Magie waren Jagang und die Imperiale Ordnung eher noch stärker. Ohne die helfende Magie würden noch viele andere im Kampf gegen ihn fallen, und es war durchaus möglich, dass dann sinnlos Blut vergeudet wurde.
»Als Wächter des Schleiers, als Beschützer der hilflosen Geschöpfe der Magie und als Verwalter des Versprechens der Magie an die Menschheit müssen wir in gebührender Eile handeln, Franca. Wir kennen die Grenze nicht, hinter der es für jede sinnvolle Hilfe zu spät sein wird.«
Sie nickte nachdenklich. »Ja. Ja, Ihr habt natürlich Recht. Wieso müsst Ihr wissen, wo die Chimären begraben liegen? Wobei wird Euch das etwas nützen?«
»Um die ursprünglichen Beschwörungen aufzuheben, mit deren Hilfe sie hierher geholt wurden, muss ihre Verbannung damals, vor langer Zeit, zwangsläufig den Schleier ein zweites Mal durchbrochen haben. Ein solcher Gegenbann muss wiederum selbst durch einen ergänzenden Bann ins Gleichgewicht gebracht worden sein, um ihnen die Rückkehr in die Welt des Lebendigen zu ermöglichen. Ein solcher Rückkehrbann könnte – durch die Anrufung von Dreiergruppen und dergleichen mehr – von außerordentlich präzisen Bedingungen eingeschränkt gewesen sein, doch das spielte keine Rolle; das bloße Vorhandensein eines Rückkehrmechanismus würde als Ausgleich für den Vertreibungsbann genügen.«
Zedd fuhr langsam mit dem Finger über den Rand seiner Teetasse. »Nach allem, was ich über die Geschichte weiß, verlangt das Wesen ihres Seins, dass die Chimären nur dann in die Welt des Lebendigen zurückkehren können, wenn die genauen Bedingungen des Ausgleichmechanismus präzise eingehalten werden – und zwar durch das Tor ihrer Vertreibung hindurch. Deswegen musste ich hierherkommen.«
Sie starrte nachdenklich in die Ferne. »Ja, das klingt logisch. Dieses Tor, wo immer es sich befindet, müsste offen stehen.«
»Ihr wisst zwar nicht, wo die Chimären begraben liegen, aber vielleicht könntet Ihr meine Führerin sein.«
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. »Wo könnten wir denn suchen? Habt Ihr einen bestimmten Ort im Sinn, wo wir beginnen sollten?«
Zedd nahm noch einen Schluck, dann setzte er die Tasse ab.
»Ich hatte mir gedacht, Ihr könntet mir vielleicht helfen, in die Bibliothek zu gelangen.«
»Die Bibliothek für Kultur. Auf dem Anwesen des Ministers für Kultur?«
»Eben die. Dort gibt es sehr alte Texte, zumindest war das früher so. Da die Chimären hier in Anderith vertrieben wurden, enthält die Bibliothek möglicherweise irgendwelche Aufzeichnungen oder Informationen, anhand derer ich feststellen könnte, wo das Ganze stattgefunden hat, und somit, wo sich dieses Tor befindet. Möglicherweise gibt es dort auch noch andere brauchbare Informationen.«
»Wie lauten die Titel der Bücher, die Ihr sucht? Vielleicht kenne ich sie.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Bücher uns weiterhelfen könnten, immer vorausgesetzt, solche Bücher existieren überhaupt, und wenn ja, sie befinden sich tatsächlich hier. Ich werde einfach anfangen müssen, die Bände in der Bibliothek durchzusehen, und abwarten, was ich finde.«
Sie beugte sich vor. »Zedd, es gibt dort Tausende von Büchern.«
»Ich weiß. Ich habe sie bereits gesehen.«
»Und angenommen, Ihr findet ein Buch, in dem dieser Ort genannt wird, was dann?«
Zedd zuckte in bewusst unbestimmter Manier die Schultern. »Eins nach dem anderen.«
Wenn er keine Informationen über den Mechanismus der Vertreibung ausgraben konnte, so hatte er bereits eine Vorstellung, was er tun musste, sobald es ihm gelang, den Ort des Begräbnisses ausfindig zu machen. Selbst wenn er diese Informationen fand und die Angelegenheit nicht schwierig war, so war er ohne seine Magie bei der Umkehrung des Problems aufgeschmissen.
Möglicherweise wäre er gezwungen, zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen.
»Was ist nun mit der Bibliothek für Kultur? Komme ich dort hinein?«
»Ich denke, bei diesem Teil des Problems könnte ich behilflich sein. Als Anderierin, die zudem auf dem Anwesen des Ministers bekannt ist, habe ich freien Zutritt. Das gilt nicht für jeden. Die Machthaber haben die Geschichte in einem Ausmaß umgeschrieben, dass diejenigen unter uns, die einen Teil davon selbst miterlebt haben, nicht einmal mehr die eigene Vergangenheit wieder erkennen, von all dem Übrigen, was man uns sonst noch erzählt, ganz zu schweigen.«
Sie löste sich aus ihren persönlichen Gedanken und richtete sich tapfer lächelnd auf. »Wann wollt Ihr dorthin?«
»Je eher, desto besser.«
»Glaubt Ihr, Ihr könntet Euch als Gastgelehrter ausgeben?«
»Ich denke, notfalls bringe ich es sogar fertig, so vergeistigt auszusehen, als hätte ich Mühe, mich an meinen Namen zu erinnern.«