20

»Na, wenn das keine Überraschung ist«, raunte Teresa. Dalton folgte ihrem Blick und sah, wie sich Claudine Winthrop unschlüssig ihren Weg durch den Saal voller umherschlendernder Menschen bahnte. Sie trug ein Kleid, das er von früher kannte, als er noch in der Stadt gearbeitet hatte. Es war nicht dasselbe Kleid, das sie zuvor an diesem Abend getragen hatte. Vermutlich war ihr Gesicht unter der dicken Schicht rosafarbenen Puders aschfahl, und zweifellos bestimmte Argwohn jetzt ihren Blick.

Menschen aus der Stadt Fairfield betrachteten, erfüllt von dem Bemühen, dies alles in sich aufzunehmen, um ihren Freunden bis in die kleinste Einzelheit von ihrem Abend auf dem prachtvollen Anwesen des Ministers für Kultur berichten zu können, staunenden Auges ihre Umgebung.

Eine Einladung auf das Anwesen galt als große Ehre, und niemand wollte sich irgendein Detail entgehen lassen. Details waren wichtig, wenn man die Absicht hatte anzugeben.

Zwischen den prächtig gefärbten, seltenen Teppichen, die der Länge nach in regelmäßigen Abständen über den gesamten Raum verteilt lagen, schimmerten Stellen edlen Parkettfußbodens durch. Das Gefühl luxuriösen, tiefen Einsinkens konnte unmöglich jemandem entgehen. Dalton vermutete, daß man für die girlandenartig vor den Reihen hoher Fenster mit ihrem von buntem Glas durchsetzten, komplizierten Ziergitterwerk zu beiden Seiten des Raumes aufgehängten Vorhänge Tausende von Metern feinsten Stoffes verwendet hatte. So manche Frau befühlte prüfend hier und da die überaus dichte Webart des Tuches. Die Ränder des himmelblau und goldweizenfarbenen Stoffes waren mit bunten Quasten verziert, so groß wie seine Faust. Die Männer bewunderten die gekehlten, sich entlang der Seitenwände erhebenden Steinsäulen, auf denen das massige, aus behauenem Stein gefertigte Kragstück am unteren Ende des Faßgewölbes der Halle ruhte. Das Faßgewölbes wurde von einem prächtigen Kranz aus gebogenen Mahagonirahmen und Paneelen überspannt, die wie die Enden eines fein geschliffenen Wölbsteins wirkten.

Dalton setzte den Zinnbecher an seine Lippen und trank, all dies musternd, einen Schluck feinsten Nareeftal-Weines. Nachts, wenn alle Kerzen und Lampen angezündet waren, schien dieser Raum zu erglühen. Anfänglich, als er hier angekommen war, hatte es einiges an Selbstdisziplin erfordert, nicht so zu glotzen wie hier vor ihm diese Menschen aus der Stadt, Er beobachtete, wie Claudine Winthrop sich unter den gutgekleideten Gästen bewegte, hier eine Hand ergriff, dort einen Ellenbogen berührte, hölzern lächelnd Leute begrüßte und Fragen mit Bemerkungen beantwortete, die Dalton nicht verstand. So geplagt sie, wie er wußte, auch sein mochte, besaß sie doch die nötige Gewandtheit, angemessen aufzutreten. Als Gattin eines reichen, von den Kaufleuten und Getreidehändlern zu deren Stellvertreter gewählten Geschäftsmannes war sie auch aus eigenem Recht kein unbedeutendes Mitglied des Hofes. Anfangs, als die Leute sahen, daß ihr Ehemann alt genug war, ihr Großvater zu sein, gingen sie im allgemeinen davon aus, sie sei nicht mehr als ein Zeitvertreib für ihn. Sie irrten sich.

Ihr Gatte, Edwin Winthrop, hatte als Farmer mit dem Anbau von Sorghum, süßem Zuckerrohr, angefangen. Jeder Penny, den er durch den Verkauf der von ihm selbst gepreßten Sorghummelasse verdiente, wurde ebenso sparsam wie umsichtig angelegt. Er nahm Entbehrungen in Kauf und ließ alles, angefangen bei angemessener Unterkunft und Kleidung über die einfachen Bequemlichkeiten des Lebens, bis hin zu Ehefrau und Familie, in einem Zustand der Ungewißheit.

Irgendwann reichte das Gesparte für den Ankauf von Vieh, das er mit jenem Sorghum fütterte, der beim Pressen der Melasse anfiel. Der Verkauf des gemästeten Viehs ermöglichte den Ankauf weiteren Zuchtviehs und von Destillerieeinrichtungen, so daß er in der Lage war, selber Rum herzustellen, anstatt seine Melasse an Destillerien zu verkaufen. Die Gewinne aus dem Rum, den er aus seiner eigenen Melasse destillierte, waren so beträchtlich, daß er weiteres Farmland hinzupachten sowie Vieh, Geräte und Gebäude für die Produktion von noch mehr Rum und schließlich sogar Lagerhäuser und Karren für den Transport der von ihm hergestellten Waren anschaffen konnte. Auf den Winthrop-Farmen destillierter Rum wurde von Renwold bis Nicobarese verkauft, vom Laden gleich um die Ecke in Fairfield bis hin nach Aydindril. Indem er alles selber machte – vom Anbau des Zuckerrohrs über das Pressen, das Destillieren und Ausliefern des Rums, die Aufzucht und Schlachtung des Viehs bis hin zum Transport der toten Tiere zu den Metzgern, hielt Edwin Winthrop seine Kosten gering und verdiente sich eine goldene Nase.

Edwin Winthrop war ein sparsamer Mann, ehrlich und beliebt. Erst als sich der Erfolg einstellte, hatte er sich eine Frau genommen. Claudine, die wohlerzogene und gutausgebildete Tochter eines Getreidehändlers, war mitten in ihren Jugendjahren gewesen, als Edwin sie vor gut einem Jahrzehnt ehelichte.

Talentiert in der Beaufsichtigung der Konten und Unterlagen ihres Gatten, hielt Claudine ebenso ein Auge auf jeden Penny, wie dies ihr Gatte getan hätte. Dank ihrer Mithilfe war sein persönliches Imperium aufs Doppelte angewachsen. Sogar bei der Entscheidung über seine Heirat hatte Edwin Bedacht und Weisheit walten lassen. Normalerweise, wie es schien, nie auf sein persönliches Vergnügen aus, hatte er sich doch wenigstens dieses eine gegönnt. Und Claudines Fleiß stand ihrer Attraktivität in nichts nach.

Nachdem Edwins Kaufmannskollegen ihn zum Stellvertreter gewählt hatten, ging Claudine ihm in rechtlichen Angelegenheiten zur Hand, indem sie half, hinter den Kulissen ebenjene Handelsgesetze zu verfassen, die er dann einbrachte. Dalton vermutete, daß es überhaupt dazu kam, ging zu einem großen Teil ebenfalls auf sie zurück. Stand er nicht zur Verfügung, verhandelte Claudine die eingebrachten Gesetze umsichtig in seinem Namen. Bei Hofe hielt niemand sie für ein ›Freizeitvergnügen‹.

Außer vielleicht Bertrand Chanboor, obwohl er ja alle Frauen in diesem Licht betrachtete, zumindest die gutaussehenden.

In der Vergangenheit war Dalton aufgefallen, daß Claudine zunächst errötet war, daß sie Bertrand Chanboor aber später zugezwinkert und ihn heimlich angelächelt hatte. Gezierte Frauen hielt der Minister für kokett. Vielleicht war sie auf ein unschuldiges Techtelmechtel mit einem bedeutenden Mann aus, vielleicht suchte sie eine Art von Beachtung, die ihr der eigene Mann nicht bieten konnte, sie hatte schließlich keine Kinder. Vielleicht hatte sie listig mit dem Gedanken gespielt, sich durch den Minister einen Vorteil zu verschaffen, nur um im nachhinein festzustellen, daß er nicht bereit war, diesen zu gewähren.

Claudine Winthrop ließ sich von niemandem zum Narren halten, sie war intelligent und einfallsreich. Wie es angefangen hatte, war inzwischen nicht mehr von Belang. Genaues wußte Dalton nicht, und Bertrand Chanboor leugnete, sie angefaßt zu haben, so wie er alles stets unverzüglich abstritt. Doch seit sie darauf aus war, sich heimlich mit Direktor Linscott zu treffen, hatte die Affäre die Ebene höflicher Gewährung von Gefälligkeiten verlassen. Die einzig sichere Methode, sie zu kontrollieren, war jetzt brutale Gewalt.

Dalton deutete mit seinem Weinbecher auf Claudine. »Es scheint ganz so, als hättest du dich geirrt. Nicht jeder geht mit der Mode, anzügliche Kleider zu tragen. Oder aber, Claudine ist sittsam.«

»Nein, es muß einen anderen Grund geben.« Teresa schien verwirrt. »Liebling, ich glaube nicht, daß sie dieses Kleid vorhin schon getragen hat. Aber warum sollte sie jetzt etwas anderes tragen? Zudem es sich tatsächlich um ein altes Kleid handelt.«

Dalton zuckte mit den Achseln. »Gehen wir und finden wir es heraus, was meinst du? Die Fragen stellst du. Ich glaube, wenn ich es täte, wäre das nicht schicklich.«

Teresa warf ihm einen schiefen Blick zu. Sie kannte ihn gut genug, um an seiner spitzfindigen Antwort zu erkennen, daß eine Intrige im Gange war. Außerdem war sie informiert genug, seinen Fingerzeig zu verstehen und die Rolle zu spielen, die er ihr zugedacht hatte. Lächelnd hakte sie eine Hand in seinen dargebotenen Arm. Claudine war nicht die einzige intelligente und einfallsreiche Frau bei Hofe.

Claudine erschrak, als Teresa sie von hinten an der Schulter berührte. Sie hob kurz den Kopf und bedachte sie mit einem nervösen Lächeln.

»Guten Abend, Teresa.« Sie machte einen knappen Knicks vor Dalton. »Mr. Campbell.«

Teresa, die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt, beugte sich hinüber zu der Frau. »Claudine, was ist geschehen? Ihr scheint Euch nicht wohl zu fühlen. Und Euer Kleid – ich erinnere mich nicht, Euch damit hereinkommen gesehen zu haben.«

Claudine strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Es geht mir gut … ich war nur nervös wegen der vielen Gäste. Manchmal schlagen mir große Menschenansammlungen auf den Magen. Ich ging hinaus, um ein wenig Luft zu schnappen. Wahrscheinlich bin ich im Dunkeln in ein Loch oder ähnliches getreten. Ich bin gestürzt.«

»Bei den Gütigen Seelen. Wollt Ihr Euch vielleicht setzen?« fragte Dalton, den Ellenbogen der Frau ergreifend, als wolle er sie stützen. »Hier, erlaubt, daß ich Euch in einen Sessel helfe.«

Sie sperrte sich dagegen. »Nein, es geht mir gut. Trotzdem vielen Dank. Ich habe mir das Kleid schmutzig gemacht und mußte mich umziehen, das ist alles. Daher ist es nicht dasselbe. Aber es geht mir gut.«

Als er von ihr abließ, fiel ihr Blick auf sein Schwert. Er hatte sie eine Menge Schwerter betrachten sehen, seit sie in den Versammlungssaal zurückgekehrt war…

»Es scheint, als wärt Ihr…«

»Nein«, beharrte sie. »Ich habe mir den Kopf gestoßen, deswegen sehe ich so mitgenommen aus. Es geht mir gut, wirklich. Nur mein Selbstvertrauen ist ein wenig angeschlagen.«

»Verstehe«, meinte Dalton voller Mitgefühl. »Derartige Dinge lassen einen erkennen, wie kurz das Leben sein kann. Lassen einen erkennen, daß man« – er schnippte mit den Fingern – »jederzeit abtreten kann.«

Ihre Lippe bebte. Sie mußte schlucken, bevor sie fähig war zu sprechen. »Ja, ich verstehe, was Ihr meint. Aber jetzt fühle ich mich schon viel besser. Ich habe mich wieder gefangen.«

»Tatsächlich? Ich bin da nicht so sicher.«

Teresa drängte ihn weiter. »Dalton, siehst du nicht, wie mitgenommen die Dame ist?« Sie versetzte ihm einen weiteren leichten Stoß. »Geh und rede über deine Geschäfte, ich kümmere mich derweil um die arme Claudine.«

Dalton machte eine Verbeugung und entfernte sich, um Teresa den nötigen Raum zu lassen, herauszufinden, was immer sich herausfinden ließ. Er war mit den beiden hakenischen Burschen zufrieden. Alles deutete darauf hin, daß sie ihr eine Höllenangst eingejagt hatten. Ihr wankender Gang ließ vermuten, daß sie ihr die Nachricht offenbar genau so übermittelt hatten, wie er sie übermittelt sehen wollte. Mit Gewalt begriffen die Menschen Anweisungen stets schneller.

Er empfand Genugtuung, daß er Snip richtig eingeschätzt hatte. So wie der Junge Daltons Schwert angestarrt hatte, hatte er sofort Bescheid gewußt. Der Junge war ehrgeizig. Morley war ebenfalls zu gebrauchen, wenn auch nur als Schläger, er hatte wohl nichts als Gewalt im Kopf. Snip begriff die Anweisungen schneller und würde, eifrig wie er war, von größerem Nutzen sein. In diesem Alter hatten sie noch keinen Schimmer, wie wenig sie tatsächlich wußten.

Dalton schüttelte einem Mann die Hand, der sich auf ihn gestürzt hatte, um ihm ein Kompliment über seine neue Stellung zu machen. Er setzte eine höfliche Miene auf, konnte sich aber weder an den Namen des Mannes erinnern, noch lauschte er auf dessen überschwengliche Lobhudeleien. Dalton war mit seiner Aufmerksamkeit woanders.

Direktor Linscott war soeben dabei, ein Gespräch mit einem untersetzten Mann über die Besteuerung von Weizen zu beenden, der in dessen Lagerhaus eingelagert war. Keine geringe Angelegenheit, wenn man die unermeßlichen Kornbestände bedachte, die Anderith besaß. Dalton befreite sich ebenso höflich wie kühl von dem namenlosen Herrn und schob sich näher an Linscott heran.

Als der Direktor sich umwandte, lächelte er ihm freundlich zu und umklammerte seine Hand, bevor dieser Gelegenheit hatte, sie zurückzuziehen. Er hatte einen festen Griff – und noch immer die Schwielen seines arbeitsreichen Lebens an den Händen.

»Ich bin überaus erfreut, daß Ihr es einrichten konntet, zum Fest zu kommen, Direktor Linscott. Ich hoffe, Ihr genießt den Abend bis jetzt. Der Minister wünscht noch so viel zu besprechen.«

Direktor Linscott, ein großer, drahtiger Mensch mit von der Sonne faltig gewordenem Gesicht, das stets wirkte, als plage ihn ein immerwährender Zahnschmerz, erwiderte das Lächeln nicht. Die vier ältesten Direktoren waren Zunftmeister. Einer stammte aus der einflußreichen Tuchmachergilde, einer aus der daran angeschlossenen Papiermachergilde, ein weiterer war Waffenschmiedmeister, dazu Linscott. Linscott war Steinmetzmeister. Bei den meisten der übrigen Direktoren handelte es sich um angesehene Geldverleiher oder Kaufleute, hinzu kamen ein Rechtsbeistand und mehrere Anwälte.

Direktor Linscotts Überzieher war altmodisch geschnitten, aber sehr gepflegt, zudem paßte der warme Braunton gut zum feinen, grauen Haar des Mannes. Auch sein Schwert war alt, doch die ausgezeichneten Messingarbeiten an Öffnung und Spitze der Lederscheide waren blankpoliert. Das Silberemblem – der Meißel des Steinmetzes – hob sich als glänzender Umriß von dem dunklen Leder ab. Zweifellos war die Klinge des Schwertes in ebenso makellosem Zustand wie alles andere an diesem Mann.

Linscott versuchte nicht absichtlich, Menschen einzuschüchtern, es schien einfach ein ganz natürlicher Zug von ihm zu sein. Er betrachtete das Volk der Anderier, jene Menschen, die auf den Feldern arbeiteten, die Fischernetze einholten oder über das Zunfthaus in einem Gewerbe angestellt waren, als seine Jungtiere.

»Ja«, erwiderte Linscott, »ich habe die Gerüchte ebenfalls vernommen, daß der Minister große Pläne hat. Wie ich höre, spielt er mit dem Gedanken, den dringenden Rat der Mutter Konfessor in den Wind zu schlagen und mit den Midlands zu brechen.«

Dalton breitete die Hände aus. »Ich begehe sichtlich keinen Fauxpas, wenn ich Euch aus meiner Kenntnis der Lage heraus erkläre, daß Minister Chanboor die feste Absicht hat, für unser Volk die besten Bedingungen herauszuschlagen. Nicht mehr und nicht weniger.

Nehmt zum Beispiel Euch selbst. Was wäre, wenn wir uns dem neuen Lord Rahl ergäben und uns dem d’Haranischen Reich anschlössen? Lord Rahl hat erklärt, sämtliche Länder müßten ihre Souveränität aufgeben – anders als in unserem Bund mit den Midlands. Vermutlich würde das bedeuten, daß er keine Verwendung mehr hätte für die Direktoren kultureller Zusammenarbeit.«

Linscotts sonnengebräuntes Gesicht wurde vor Erregung rot. »Hier geht es nicht um mich, Campbell. Es geht um die Freiheit der Völker der Midlands. Um ihre Zukunft. Darum, nicht geschluckt zu werden und mit ansehen zu müssen, wie unser Land von einer alles niederwalzenden Armee der Imperialen Ordnung tyrannisiert wird, die zur Eroberung der Midlands fest entschlossen ist.

Der Botschafter Anderiths hat die Erklärung von Lord Rahl überbracht, daß zwar sämtliche Länder sich ihm ergeben und unter eine Herrschaft und einen Oberbefehl gestellt werden müssen, jedes einzelne Land jedoch seine Kultur beibehalten darf, solange wir keine allgemein gültigen Gesetze brechen. Er hat uns eine Beteiligung an der Schaffung dieser Gesetze zugesagt, vorausgesetzt, wir stimmen seinem dringenden Gesuch zu, solange das Angebot noch allen offensteht. Die Mutter Konfessor hat sich seiner Ansicht angeschlossen.«

Dalton verneigte vor dem Mann respektvoll den Kopf. »Ich fürchte, Ihr deutet den Standpunkt des Ministers falsch. Er wird dem Herrscher den Vorschlag unterbreiten, dem Rat der Mutter Konfessor zu folgen, vorausgesetzt, er ist der ernsthaften Überzeugung, daß dies im besten Interesse unseres Volkes liegt. Schließlich steht unsere gesamte Kultur auf dem Spiel. Auf keinen Fall möchte er sich voreilig für eine Seite entscheiden. Möglicherweise bietet uns die Imperiale Ordnung die besten Friedensaussichten. Der Minister wünscht sich nichts mehr als Frieden.«

Der finstere Blick des Direktors schien die Atmosphäre abzukühlen. »Sklaven leben auch in Frieden.«

Dalton heuchelte einen Ausdruck unschuldiger Hilflosigkeit. »Ich vermag Eurem schnellen Verstand nicht zu folgen, Direktor.«

»Ihr scheint bereit zu sein, Campbell, Eure eigene Kultur für die leeren Versprechungen einer einfallenden Horde zu verkaufen, die vom Gedanken der Eroberung wie besessen ist. Fragt Euch doch selbst, warum sie sonst unaufgefordert hergekommen sind. Wie könnt Ihr so aalglatt verkünden, Ihr zöget in Erwägung, den Midlands das Messer ins Herz zu stoßen? Was seid Ihr für ein Mann, Campbell, daß Ihr, nach allem, was man dort für uns getan hat, den dringenden Rat unserer Mutter Konfessor zurückweist?«

»Direktor, ich denke…«

Linscott schüttelte drohend seine Faust. »Unsere Vorfahren, die so vergeblich gegen die hakenischen Horden angekämpft haben, werden sich im Grab umdrehen, wenn sie erfahren, daß Ihr ruhigen Gewissens ihre Opfer und unser Erbe verschachert.«

Dalton zögerte und gab Linscott damit Gelegenheit zu hören, wie seine Worte die Stille füllten und zwischen ihnen beiden widerhallten. Genau das hatte Dalton mit seinen Worten erreichen wollen.

»Ich weiß, Direktor, Ihr meint es aufrichtig mit Eurer leidenschaftlichen Liebe für unser Volk und mit Eurem unerschütterlichen Bedürfnis, es zu beschützen. Ich bedaure sehr, daß Ihr denselben Wunsch bei mir für unaufrichtig haltet.« Dalton verbeugte sich höflich. »Ich hoffe, Ihr genießt den Rest des Abends.«

Eine solche Beleidigung herablassend hinzunehmen galt als Gipfel der Höflichkeit. Darüber hinaus jedoch stellte es denjenigen bloß, der anderen solche Verletzungen beibrachte und sich damit den alten Idealen anderischer Ehre als unwürdig erwies.

Angeblich verhielten sich nur Hakenier den Anderiern gegenüber so herablassend.

Dalton zollte dem, der ihn beleidigt hatte, allerhöchsten Respekt und wandte sich zum Gehen, als habe man ihn aufgefordert, sich zu entfernen, als habe man ihn fortgejagt. Als sei er von einem hakenischen Oberherrn gedemütigt worden.

Der Direktor rief seinen Namen. Dalton hielt inne und sah über seine Schulter.

Direktor Linscott verzog den Mund, als wollte er seine Zunge lösen und es mit einer selten angewandten Höflichkeit probieren. »Wißt Ihr, Dalton, ich erinnere mich noch an die Zeit, als Ihr beim Gouverneur in Fairfield wart. Ich hielt Euch stets für einen tugendhaften Mann. Daran hat sich nichts geändert.«

Dalton wandte sich vorsichtig um und präsentierte sich, als sei er bereit, eine weitere Beleidigung hinzunehmen, sollte der Mann den Wunsch haben, diese auszuteilen.

»Danke, Direktor Linscott. Das klingt sehr freundlich von einem so angesehenen Mann wie Euch.«

Linscott machte eine beiläufige Handbewegung, als sei er immer noch damit beschäftigt, auf der Suche nach höflichen Worten Spinnweben aus irgendwelchen dunklen Ecken zu wischen. »Nun, jedenfalls ist mir unbegreiflich, wie ein tugendhafter Mann seiner Frau erlauben kann, derart herumzustolzieren und ihre Zitzen zur Schau zu stellen.«

Dalton lächelte. Die Worte selbst waren nicht versöhnlich gewesen, aber der Ton. Beiläufig nahm er im Nähertreten einen vollen Becher Wein von einem vorübergleitenden Tablett und hielt ihn dem Direktor hin. Linscott nahm den Becher mit einem Nicken entgegen.

Dalton ließ von seinem offiziösen Tonfall ab und redete, als sei er von klein auf mit dem Mann befreundet. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mit Euch ganz einer Meinung. Tatsächlich hatten meine Frau und ich, bevor wir heute abend herunterkamen, eine Auseinandersetzung deswegen. Sie beharrte darauf, daß dieses Kleid ganz der Mode entspräche. Als Mann in unserer Ehe habe ich mich durchgesetzt und ihr strikt verboten, das Kleid anzuziehen.«

»Warum trägt sie es dann?«

Dalton seufzte erschöpft. »Weil ich sie nicht betrüge.«

Linscott neigte den Kopf zur Seite. »Es freut mich zwar zu hören, daß Ihr Euch, was das Frönen gewisser Leidenschaften anbetrifft, den scheinbar neuen moralischen Einstellungen nicht verpflichtet fühlt, doch was hat das mit dem Weizenpreis in Kelton zu tun?«

Dalton nippte an seinem Wein, Linscott folgte seinem Beispiel.

»Nun, da ich sie nicht betrüge, käme ich im Bett wohl kaum zum Zuge, wenn ich jeden Streit gewänne.«

Zum ersten Mal zeigte sich auf Linscotts Gesicht der Anflug eines Lächelns. »Ich verstehe, was Ihr meint.«

»Die jüngeren Frauen hier kleiden sich entsetzlich. Ich war schockiert, als ich hierher kam, um meine Stelle anzutreten. Meine Frau ist allerdings jünger und hat den Wunsch, sich ihnen anzupassen und Freunde zu gewinnen. Sie hat Angst, von den anderen Frauen bei Hofe gemieden zu werden.

Ich habe mich mit dem Minister darüber unterhalten, und er ist ebenfalls der Ansicht, daß Frauen sich nicht auf diese Weise zur Schau stellen sollten, andererseits räumt unsere Kultur den Frauen das Vorrecht ein, über ihre Kleider selbst zu entscheiden. Der Minister und ich sind der Ansicht, daß uns zusammen eine Möglichkeit einfallen könnte, günstig auf die Mode einzuwirken.«

Linscott nickte billigend. »Nun, auch ich habe eine Frau, die ich ebenfalls nicht betrüge. Freut mich zu hören, daß Ihr zu den wenigen gehört, die heute noch an den alten Idealen festhalten, denen zufolge ein Gelöbnis heilig ist und die Bindung an einen Ehepartner unantastbar. Meine Anerkennung.«

Die anderische Kultur kreiste zu einem großen Teil um die Begriffe der Ehre und des feierlichen Treuegelöbnisses – man stand zu seinem Versprechen. Doch Anderith war im Begriff, sich zu verändern. Für viele war es Anlaß zu großer Sorge, daß die moralischen Schranken im Laufe der letzten Jahrzehnte für viele zum Gegenstand des Spottes geworden waren. Ausschweifungen und Wollust wurden nicht nur akzeptiert, sondern in modisch führenden Kreisen sogar erwartet.

Dalton blickte zu Teresa hinüber, dann wieder zum Direktor und schließlich noch einmal zu Teresa. Er streckte eine Hand aus.

»Direktor, dürfte ich Euch mit meiner entzückenden Frau bekannt machen? Ich würde es als eine persönliche Gefälligkeit betrachten, wenn Ihr Euren beträchtlichen Einfluß in den Dienst der Anständigkeit stellen würdet. Ihr seid ein weithin geachteter Mann und könntet mit einer moralischen Autorität aufwarten, über die ich nicht einmal ansatzweise verfüge. Sie glaubt, aus mir spricht nur der eifersüchtige Ehemann.«

Linscott überlegte nicht lange. »Das würde ich, wenn ich Euch damit einen Gefallen täte.«

Teresa ermunterte Claudine soeben, etwas Wein zu trinken, und redete tröstend auf sie ein, als Dalton den Direktor zu den beiden Frauen hinüberführte.

»Teresa, Claudine, darf ich Direktor Linscott vorstellen.«

Teresa sah ihm lächelnd in die Augen, als er elegant ihre Hand küßte. Claudine dagegen blickte starr zu Boden, als sich der Vorgang bei ihr wiederholte. Sie schien sich nichts sehnlicher zu wünschen, als sich dem Mann entweder in seine schützenden Arme zu werfen oder so schnell wie möglich davonzulaufen. Dalton legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und vereitelte dadurch das eine wie das andere.

»Teresa, Liebling, der Direktor und ich unterhielten uns soeben über die Frage von Frauenkleidern und Mode in bezug auf Anstand und Schicklichkeit.«

Teresa neigte eine Schulter Richtung Direktor, als wollte sie ihn ins Vertrauen ziehen. »Mein Gatte ist so spießig, wenn es um meine Garderobe geht. Wie denkt Ihr darüber, Direktor Linscott? Mögt Ihr mein Kleid?« Teresa strahlte vor Stolz. »Gefällt es Euch?«

Linscott löste seinen Blick nur kurz von Teresas Augen. »Ganz bezaubernd, meine Liebe. Ganz bezaubernd.«

»Siehst du, Dalton? Hab ich es dir nicht gesagt? Mein Kleid ist viel konservativer als die der anderen. Es freut mich, daß es die Billigung eines so weithin geachteten Mannes findet, wie Ihr es seid, Direktor Linscott.«

Teresa wandte sich einem vorübergehenden Mundschenk zu, um sich nachschenken zu lassen, als Dalton Linscott einen Blick zuwarf, der besagen sollte: Warum helft Ihr mir denn nicht? Achselzuckend beugte Linscott sich ganz nah an Daltons Ohr.

»Ihre Gemahlin ist eine wundervolle, reizende Frau«, meinte er leise. »Ich kann sie schlecht kränken und enttäuschen.«

Dalton gab vor zu seufzen. »Genau das ist auch mein Problem.«

Linscott richtete sich auf. Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Direktor«, fuhr Dalton ernster fort, »Claudine hier hatte vorhin einen schrecklichen Unfall. Sie war draußen spazieren, als sie wohl mit dem Fuß irgendwo hängen blieb und schlimm stürzte.«

»Bei den Gütigen Seelen.« Linscott ergriff ihre Hand. »Seid Ihr schwer verletzt, meine Liebe?«

»Es ist nichts passiert«, murmelte Claudine kaum hörbar.

»Ich kenne Edwin seit vielen Jahren. Euer Ehemann hätte zweifellos nichts dagegen, wenn ich Euch auf Euer Zimmer begleite. Hier, nehmt meinen Arm, ich bringe Euch wohlbehalten dorthin.«

Dalton trank einen Schluck und verfolgte das Schauspiel über den Rand seines Bechers. Ihr Blick wanderte suchend durch den Saal. In ihren Augen spiegelte sich die unendliche Sehnsucht, sein Angebot anzunehmen. Täte sie es, wäre sie womöglich in Sicherheit. Er war ein mächtiger Mann und würde sie unter seine Fittiche nehmen.

Dieser Test würde ihm verraten, was er wissen mußte. Tatsächlich war es nicht übermäßig riskant, ein solches Experiment durchzuspielen, schließlich kam es immer wieder vor, daß Menschen verschwanden, ohne je aufgefunden zu werden. Trotzdem, die Sache barg Risiken. Er wartete, bis Claudine ihm verriet, in welche Richtung die Geschichte sich entwickeln würde. Schließlich war es soweit.

»Vielen Dank für Eure Sorge, Direktor Linscott, aber es geht mir gut. Ich habe mich so sehr auf das Fest und all die Gäste gefreut. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich es versäumen müßte und unseren Minister für Kultur nicht sprechen hören könnte.«

Linscott nippte an seinem Wein. »Seit er zum Abgeordneten ernannt wurde, wart Ihr und Edwin tatkräftig um neue Gesetze bemüht. Ihr habt mit dem Minister zusammengearbeitet. Wie denkt Ihr über ihn?« Zur Betonung gestikulierte er mit seinem Becher. »Ich bitte um Eure aufrichtige Meinung.«

Claudine stürzte einen Schluck Wein hinunter. Sie mußte erst verschnaufen. Beim Sprechen richtete sie den Blick stur geradeaus.

»Minister Chanboor ist ein Ehrenmann. Seine Politik war stets gut für Anderith. Er hat die von Edwin vorgeschlagenen Gesetze immer respektiert.« Sie stürzte einen weiteren Schluck Wein hinunter. »Wir können von Glück reden, daß wir Bertrand Chanboor als Minister für Kultur haben. Es fällt mir schwer, mir einen anderen Mann vorzustellen, der all das kann, was er vermag.«

Linscott zog eine Braue hoch. »Eine recht wohlklingende Bestätigung für eine Frau von Eurem Ansehen. Wir alle wissen, daß Ihr, Claudine, für diese Gesetze ebenso wichtig wart wie Edwin.«

»Ihr seid zu freundlich«, meinte sie leise, den Blick in den Becher gesenkt. »Ich bin nichts weiter als die Frau eines bedeutenden Mannes. Man würde mich wohl kaum vermissen und sicherlich schnell vergessen, hätte ich mir heute dort draußen das Genick gebrochen. Edwin dagegen wird man noch lange hoch in Ehren halten.«

Linscott sah verwirrt auf ihren gesenkten Kopf hinab.

»Claudine hat eine zu geringe Meinung von sich selbst«, meinte Dalton. Er erblickte den Majordomus, der, bekleidet mit einer makellosen, langschößigen roten Jacke mit bunter Schärpe, soeben die Türen öffnete. Hinter den Türen erwarteten Reinigungsbecken mit darin treibenden Rosenblüten die Gäste.

Dalton wandte sich zum Direktor. »Ich nehme an, Ihr wißt, wer heute abend Ehrengast ist?«

Linscott runzelte die Stirn. »Ehrengast?«

»Ein Abgesandter der Imperialen Ordnung. Ein hochrangiger Mann namens Stein. Er ist gekommen, um uns eine Erklärung von Kaiser Jagang zu überbringen.« Dalton nahm einen weiteren Schluck. »Der Herrscher hat sich ebenfalls hierherbegeben, um sich die Erklärung anzuhören.«

Linscott stöhnte unter der Last dieser Neuigkeiten. Jetzt wußte der Mann, warum man ihn zusammen mit den anderen Direktoren herzitiert hatte, zu diesem Treffen, von dem sie gedacht hatten, es sei nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Fest auf dem Anwesen. Der Herrscher kündigte seine Anwesenheit aus Sicherheitsgründen nur selten vorher an. Er war mit seiner eigenen, speziellen Garde und einem großen Gefolge von Dienern eingetroffen.

Teresas Gesicht glühte, als sie lächelnd zu Dalton aufsah, ungeduldig der kommenden Ereignisse des Abends harrend. Claudine starrte auf den Boden.

»Ladys und Gentlemen«, verkündete der Majordomus, »wenn es Euch beliebt, das Abendessen ist serviert.«

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