Anstatt Zedds Frage zu beantworten, erweckte Richard wieder einmal den Eindruck, als befände er sich längst woanders.
»Die Grußformeln. Hast du dich um sie gekümmert? Angeblich handelt es sich um ein ganz einfaches Problem. Hast du dich darum gekümmert?«
»Ein einfaches Problem?« Zedds Gesicht hob sich tiefrot von seinem Schopf aus widerspenstigen weißen Haaren ab.
Die Frage schien Richard zu überraschen. »Das habe ich gelesen. Also, hast du dich um sie gekümmert?«
»Wir haben entschieden, daß es nichts gibt, um das man sich ›kümmern‹ müßte«, meinte Ann, deren Stimme einen verdrießlichen Unterton annahm.
»So ist es«, brummte Zedd. »Was soll das überhaupt heißen, ›ein einfaches Problem‹?«
»Kolo schrieb, anfangs seien sie recht beunruhigt gewesen, nach eingehender Untersuchung jedoch zu dem Schluß gekommen, daß die Grußformeln eine einfache und leicht bezwingbare Waffe seien.« Richard warf die Hände in die Luft. »Woher willst du wissen, daß das kein Problem ist? Bist du sicher?«
»Kolo? Verdammt, Richard, wovon sprichst du? Wer ist überhaupt dieser Kolo?«
Richard machte eine abwiegelnde Handbewegung, als wolle er um Geduld bitten, dann stand er auf, trat ans Fenster und hob den Vorhang an. Das Huhn war verschwunden. Er stellte sich auf die Zehen, um hinaus in den peitschenden Regen zu spähen, während Kahlan an seiner Stelle antwortete.
»Richard hat in der Burg der Zauberer ein Tagebuch gefunden. Es ist in Hoch-D’Haran verfaßt. Er und eine der Mord-Sith, Berdine, die sich ein wenig mit der toten Sprache Hoch-D’Haran auskennt, haben unermüdlich daran gearbeitet, um einen Abschnitt daraus zu übersetzen.
Der Mann, der das Tagebuch geschrieben hat, lebte während des Großen Krieges als Zauberer in dieser Burg, da sie jedoch seinen Namen nicht kannten, nannten sie ihn Koloblicin beziehungsweise einfach nur Kolo, nach dem hoch-d’haranischen Wort für ›mächtiger Berater‹. Das Tagebuch erwies sich als von unschätzbarem Wert.«
Zedd drehte sich um und sah Richard argwöhnisch an. Sein Blick wanderte zurück zu Kahlan. Der Argwohn ging auf seine Stimme über. »Und wo genau habt ihr dieses Tagebuch gefunden?«
Richard, die Fingerspitzen in tiefer Konzentration an die Stirn gelegt, begann auf und ab zu gehen. Zedd sah die beiden wartend aus seinen haselnußbraunen Augen an.
»Das war im Raum der Sliph. Unten im großen Turm.«
»Im großen Turm.« Die Art, wie Zedd die Worte wiederholte, hatte etwas Vorwurfsvolles. Er sah abermals kurz zu Richard hinüber. »Jetzt erzähl mir nicht, du meinst den Raum, der damals versiegelt wurde.«
»Genau den. Als Richard die Türme zwischen der Neuen und der Alten Welt zerstörte, um hierher zurückkehren zu können, wurde auch das Siegel dieses Raumes abgesprengt. Dort fand er das Tagebuch, Kolos Gebeine und die Sliph.«
Richard blieb neben seinem Großvater stehen. »Wir werden dir all diese Dinge später erzählen, Zedd. Im Augenblick möchte ich nur wissen, wieso du nicht glaubst, daß die in den Grußformeln genannten Chimären hier sein könnten.«
Kahlan sah stirnrunzelnd hoch zu Richard. »Hier? Was soll das heißen: hier?«
»Hier, in dieser Welt. Was macht dich so sicher, Zedd?«
Zedd deutete mit dem Finger auf den leeren Platz in ihrem Kreis rings um die Huldigung. »Setz dich hin, Richard. Dein Herumgerenne macht mich nervös. Du bist wie ein Hund, der darauf wartet, rausgelassen zu werden.«
Während Richard ein letztes Mal das Fenster überprüfte, fragte Kahlan Zedd: »Was sind diese in den Grußformeln genannten Chimären?«
»Ach«, meinte Zedd achselzuckend, »es handelt sich lediglich um ein paar ziemlich lästige Kreaturen. Aber…«
»Lästig!« Ann schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Wohl eher katastrophal!«
»Und ich habe sie herbeigerufen?« fragte Kahlan, deren Stimme einen zunehmend besorgten Unterton annahm. Sie hatte die Namen der drei in den Grußformeln Genannten laut ausgesprochen, um eine Magie zu vervollständigen, die Richard das Leben rettete. Sie hatte die Bedeutung der Worte nicht gekannt, aber gewußt, daß Richard ohne sie spätestens ein, zwei Atemzüge später gestorben wäre.
Zedd machte eine abwiegelnde Handbewegung, um ihre Befürchtungen zu beschwichtigen. »Nein, nein. Wie Ann schon sagte, können sie durchaus Ärger machen, aber…«
Richard zupfte die Hosen an den Knien an und schlug die Beine übereinander. »Zedd, bitte, beantworte meine Frage. Was macht dich so sicher, daß sie nicht hier sind?«
»Weil die Chimären aus den Grußformeln eine Dreiergruppe darstellen. Das ist zum Teil der Grund dafür, daß es überhaupt drei sind: Reechani, Sentrosi, Vasi.«
Kahlan wäre um ein Haar aufgesprungen. »Ich dachte, man darf sie nicht laut aussprechen.«
»Sollte man auch nicht. Ein ganz normaler Mensch kann sie aber ohne gefährliche Folgen benennen. Ich kann sie laut aussprechen, ohne sie herbeizurufen; Ann kann es, und Richard ebenfalls. Nicht aber so überaus seltene Menschen wie du.«
»Wieso gerade ich?«
»Weil du über eine Magie verfügst, die es dir ermöglicht, sie zugunsten eines anderen herbeizurufen. Ohne die Gabe aber, die den Schleier schützt, könnten die in den Grußformeln genannten Chimären, getragen von deiner Magie, sogar bis in diese Welt herüberwechseln. Die Namen der drei Chimären sollten eigentlich ein Geheimnis sein.«
»Dann wäre es also möglich, daß ich sie in diese Welt gerufen habe?«
»Bei den Gütigen Seelen«, meinte Richard leise. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen. »Dann könnten sie tatsächlich hier sein.«
»Nein, nein. Es gibt zahllose Schutzvorrichtungen sowie zahlreiche Bedingungen, die ebenso zwingend erforderlich wie außergewöhnlich sind.« Zedd hob einen Finger, um Richards Frage abzuwürgen, bevor sie ihm über die bereits geöffneten Lippen kam. »Unter anderem müßte Kahlan dann deine dritte Ehefrau sein.«
Zedd bedachte Richard kurz mit einem gönnerhaften Schmunzeln. »Zufrieden, Meister kenn-ich-alles-schon-aus-einem-Buch?«
Richard entfuhr ein Stoßseufzer. »Gut.« Ein weiterer deutlich vernehmbarer Seufzer, dann kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. »Gut. Sie ist erst meine zweite Frau.«
»Was!« Zedd warf die Arme in die Höhe und wäre beinahe nach, hinten gekippt. Mit einem verärgerten Schnauben zog er seine Ärmel wieder herunter. »Was soll das heißen, sie ist erst deine zweite Frau? Ich kenne dich dein ganzes Leben, Richard, und ich weiß, außer Kahlan hast du noch niemanden geliebt. Warum in aller Schöpfung solltest du eine andere heiraten?«
Richard räusperte sich und wechselte einen gequälten Blick mit Kahlan. »Hör zu, das ist eine lange Geschichte, am Ende läuft es jedenfalls darauf hinaus, daß ich Nadine heiraten mußte, um in den Tempel der Winde zu gelangen und dadurch der Pest ein Ende zu bereiten. Demzufolge ist also Kahlan meine zweite Frau.«
»Nadine.« Zedd kratzte sich an seiner eingefallenen Wange. »Nadine Brighton? Diese Nadine?«
»Ja.« Richard stocherte im Staub herum. »Nadine … starb kurz nach der Hochzeitszeremonie.«
Zedd stieß ein leises Pfeifen aus. »Nadine war ein nettes Mädchen – sie wollte Heilerin werden. Das arme Ding. Ihre Eltern werden am Boden zerstört sein.«
»Ja, das arme Ding«, meinte Kahlan kaum vernehmbar.
Es war Nadines beharrlich ehrgeiziges Streben gewesen, sich Richard zu angeln, und dieser Ehrgeiz hatte nur wenige Grenzen gekannt. Unzählige Male hatte Richard Nadine in unmißverständlichen Worten klar gemacht, es sei nichts zwischen ihnen und daran würde sich auch niemals etwas ändern, und überdies wolle er, daß sie so schnell wie irgend möglich verschwinde. Zu Kahlans Erbitterung hatte Nadine daraufhin stets gelächelt und gemeint: »Was immer du willst, Richard« und weiter ihre Ränke geschmiedet.
Obwohl sie Nadine niemals etwas wirklich Schlimmes gewünscht hätte, schon gar nicht jenen fürchterlichen Tod, den sie gestorben war, brachte Kahlan es nicht fertig, Bedauern für diese hinterhältige Hure, wie Cara sie genannt hatte, an den Tag zu legen.
»Wieso bist du so rot im Gesicht?« fragte Zedd.
Kahlan hob den Kopf; Zedd und Ann sahen sie an.
»Nun ja…« Kahlan wechselte das Thema. »Augenblick mal. Als ich die drei Grußformeln aussprach, war ich gar nicht mit Richard verheiratet. Wir wurden erst nach unserem Eintreffen hier bei den Schlammenschen getraut.«
»Um so besser«, meinte Ann. »Das nimmt einen weiteren Trittstein aus dem Pfad der Grußformeln.«
Richard ergriff Kahlans Hand. »Das muß nicht unbedingt zutreffen. Als wir gezwungen waren, die Worte zu sprechen, um die Bedingungen für mein Betreten des Tempels zu erfüllen, sprachen wir die Worte in unserem Herzen, um behaupten zu können, wir seien aufgrund dieses Treuegelübdes getraut worden.«
»Manchmal funktioniert Magie, jedenfalls die Magie der Welt der Seelen, nach diesen doppelsinnigen Regeln.«
Ann verlagerte unangenehm berührt ihr Gewicht. »Wie wahr.«
»Aber wie ihr es euch auch immer zurechtlegt, damit wäre sie immer noch erst seine zweite Frau.« Zedd beäugte die beiden argwöhnisch. »Die Geschichte wird jedesmal komplizierter, sobald du nur den Mund aufmachst. Ich muß die ganze Chose hören.«
»Wir können dir vor unserer Abreise einen kleinen Teil davon erzählen. Sobald du in Aydindril ankommst, werden wir die Zeit haben, dir alles zu berichten. Aber jetzt müssen wir umgehend durch die Sliph zurückkehren.«
»Warum diese Hast, mein Junge?«
»Jagang wünscht sich nichts sehnlicher als die gefährliche Magie, die in der Burg der Zauberer aufbewahrt wird, in die Hände zu bekommen. Das wäre verhängnisvoll. Du wärst der beste Schutz für die Burg der Zauberer, Zedd, aber findest du nicht auch, daß Kahlan und ich bis dahin besser wären als nichts?«
»Jedenfalls waren wir dort, als Jagang Marlin und Schwester Amelia nach Aydindril schickte.«
»Amelia!« Ann schloß die Augen und preßte die Hände an ihre Schläfen. »Sie ist eine Schwester der Finsternis. Wißt ihr, wo sie sich zur Zeit aufhält?«
»Die Mutter Konfessor hat auch sie getötet«, meinte Cara hinten an der Tür.
Kahlan warf der Mord-Sith einen mißbilligenden Blick zu; Cara erwiderte ihn, grinsend wie eine stolze Schwester.
Ann öffnete ein Auge und linste zu Kahlan hinüber. »Das ist keine Kleinigkeit. Erst einen Zauberer, der seine Anweisungen von dem Traumwandler erhält, anschließend eine Frau, die die finsteren Fähigkeiten des Hüters selbst beherrscht.«
»Es war eine Verzweiflungstat«, meinte Kahlan. »Nichts sonst.«
Zedd pflichtete ihr mit einem kurzen, brummigen Lachen bei. »Verzweiflungstaten können sehr mächtige Magie enthalten.«
»Genau wie diese Geschichte mit dem Aussprechen der drei Grußformeln«, erwiderte Kahlan. »Eine Verzweiflungstat, um Richard das Leben zu retten. Was sind diese in den Grußformeln genannten Chimären? Warum warst du so besorgt?«
Zedd rutschte unruhig hin und her und versuchte eine bequemere Stellung auf seinem knochigen Hinterteil zu finden.
»Spricht die falsche Person ihre Namen aus, um ihre Hilfe herbeizurufen und dadurch zu verhindern, daß jemand die Linie überschreitet«, dabei tippte er auf die Linie der Huldigung, die die Welt der Toten darstellte, »könnte diese Person sie durch eine unglückliche Fügung in die Welt des Lebendigen zitieren, wo sie dann jenen Zweck erfüllen könnten, für den sie erschaffen wurden: der Magie ein Ende zu bereiten.«
»Sie saugen sie auf«, fügte Ann hinzu, »wie das ausgetrocknete Erdreich einen sommerlichen Regenschauer in sich aufsaugt. In gewisser Hinsicht handelt es sich um Wesen, jedoch keine lebendigen. Sie haben keine Seele.«
Zedds Gesichtszüge verzogen sich zu einer finsteren Miene, als er ihr nickend beipflichtete. »Bei den in den Grußformeln genannten Chimären handelt es sich um Kreaturen, die von der anderen Seite, der Unterwelt, heraufbeschworen wurden. Sie können die Magie in dieser Welt ausrotten.«
»Du meinst, sie würden diejenigen, die Magie besitzen, in die Enge treiben und töten?« fragte Kahlan. »Wie damals die Schattenwesen? Ihre Berührung wäre tödlich?«
»Nein«, meinte Ann. »Sie können töten und tun es auch, doch allein ihre Anwesenheit in dieser Welt, in der Zeit, würde genügen, um die Magie auszulöschen. Mit der Zeit würde jeder sterben, der für sein Überleben auf Magie angewiesen ist. Die Schwächsten zuerst, zuletzt sogar die Allerstärksten.«
»Du mußt wissen«, gab Zedd zu bedenken, »wir wissen nicht sehr viel über sie. Sie sind Waffen aus der Zeit des Großen Krieges, erschaffen von Zauberern mit mehr Macht, als ich zu begreifen vermag. Die Gabe ist nicht mehr das, was sie einmal war.«
»Angenommen, es gelänge den Chimären auf irgendeine Weise, in diese Welt zu gelangen und der Magie ein Ende zu bereiten«, wollte Richard wissen, »würden dann alle, die die Gabe besitzen, diese einfach verlieren? Wären zum Beispiel die Schlammenschen einfach nicht mehr imstande, Kontakt zu ihren Ahnenseelen aufzunehmen? Würden die Geschöpfe der Magie aussterben, und das wäre es dann? Und übrig blieben nur ganz normale Menschen, Tiere, Bäume und dergleichen mehr? So wie dort, wo ich aufgewachsen bin, in Westland, wo keine Magie existiert?«
Kahlan konnte das schwache Poltern des Gewitterdonners unter sich im Boden spüren; der Regen trommelte unablässig weiter. Das Feuer im Kamin bekundete seine Feindseligkeit gegenüber seinem flüssigen Widersacher mit einem Zischen.
»Das können wir nicht beantworten, mein Junge. Es gibt kein Beispiel, auf das wir uns berufen könnten. Die Kompliziertheit der Welt übersteigt unser Begriffsvermögen. Allein der Schöpfer weiß, wie alles ineinandergreift.«
Der Schein des Feuers warf harte, kantige Schatten über Zedds Gesicht, als er mit unbarmherziger Überzeugung fortfuhr. »Ich fürchte jedoch, es könnte sehr viel schlimmer kommen, als du es ausmalst.«
»Schlimmer? Wieso denn schlimmer?«
Zedd strich sich übertrieben pingelig das Gewand an den Hüften glatt und ließ sich mit seiner Antwort Zeit.
»Westlich von hier, im Hochland oberhalb des Nareef-Tales, sammeln sich die Oberläufe des Dammar-Flusses, um schließlich in den Drun zu fließen. Diese Gewässer der Oberläufe ziehen Gifte aus dem Boden des Hochlandes.
Das Hochland ist eine ungeschützte, karge Ödnis, wo man gelegentlich auf die ausgeblichenen Knochen eines Tieres stößt, das zu lange dort geblieben ist und zu große Mengen des vergifteten Wassers getrunken hat. Es ist ein windumtoster, unbewohnter, todbringender Ort.«
Zedd breitete die Arme in einer Geste aus, die das ungeheure Ausmaß verdeutlichen sollte. »Tausende kleiner Rinnsale und Bäche abfließenden Wassers von sämtlichen umliegenden Berghängen sammeln sich in einem ausgedehnten, seichten, schlammigen See, bevor sie in das unterhalb liegende Tal weiterfließen. Dort gedeiht im Überfluß die Pakapflanze, vor allem am breiten Südende, von wo aus das Wasser nach unten abfließt. Die Pakapflanze ist nicht nur widerstandsfähig gegen dieses Gift, sie ernährt sich sogar davon. Lediglich die Raupe einer bestimmten Motte frißt einen Teil der Pakablätter und spinnt den Kokon zwischen fleischigen Stengeln.
Am oberen Ende des Nareef-Tales, auf den Klippen gleich unterhalb dieses Hochlandsees, nisten Kriegervögel. Die Beeren der nicht weit oberhalb wachsenden Pakapflanze zählen zu ihrer Lieblingsnahrung, daher gehören sie zu den wenigen Tierarten, die des öfteren im Hochland anzutreffen sind. Das Wasser trinken sie allerdings nicht.«
»Die Beeren sind also nicht giftig, hab ich recht?« fragte Richard.
»Nein. Durch eine wundersame Fügung der Schöpfung gedeiht die Pakapflanze prächtig von den Giftstoffen im Wasser, die Beeren aber, die sie hervorbringt, enthalten kein Gift, und das Wasser, das – durch all die Pakapflanzen gefiltert – weiter den Berg hinunterfließt, ist rein und gesund.
Ebenfalls im Hochland lebt die Gambitmotte. Ihre Art umherzuflattern macht sie unwiderstehlich für die Kriegervögel, die sich ansonsten hauptsächlich von Körnern und Beeren ernähren. Aufgrund ihres Lebensraumes wird sie, von den Kriegervögeln abgesehen, von nur wenigen anderen Tieren gefressen.
Die Pakapflanze wiederum, mußt du wissen, kann sich nicht allein vermehren. Vielleicht liegt es an den Giften im Wasser, daß ihre äußere Samenhülle hart wie Stahl ist und sich nicht öffnen läßt, wodurch die Pflanze in ihrem Innern nicht keimen kann. Diese Aufgabe ist nur mit Magie zu bewältigen.«
Zedds Blick verengte sich, er breitete die Arme aus und spreizte die Finger, während er seine Geschichte weiterspann. Kahlan mußte daran denken, wie sie als Kind, auf den Knien eines Zauberers in der Burg sitzend, mit großen Augen staunend zum ersten Mal der Geschichte gelauscht hatte.
»Die Gambitmotte verfügt über eine solche Magie, und zwar mittels des Staubs auf ihren Flügeln. Verspeist der Kriegervogel die Gambitmotte zusammen mit den Beeren der Pakapflanze, bewirkt der magische Staub im Innern des Vogels, daß die Schale der winzigen Samenkörner aufbricht. Auf diese Weise säen die Kriegervögel die Pakasamen über ihren Mist aus, und die Pakasamen können aufgrund der einzigartigen Magie der Gambitmotte keimen.
Die Gambitmotte wiederum legt ihre Eier auf die Pakapflanze, der auf diese Weise das Treiben ermöglicht wird, und dort fressen und wachsen auch die frischgeschlüpften Raupen heran, bis sie schließlich ihre Kokons spinnen und zu Gambitmotten werden.«
»Wenn die Magie also vernichtet wird«, sagte Richard, »dann … was willst du damit sagen? Daß sogar Geschöpfe wie eine Motte mit Magie diese verlieren würde, woraufhin die Pakapflanze aussterben und der Kriegervogel verhungern würde, und die Gambitmotte wiederum hätte keine Pakapflanzen als Nahrung für ihre Raupen, was ihr Aussterben zur Folge hätte?«
»Denk nach«, sagte der alte Zauberer leise, »was noch geschehen würde.«
»Nun, zum einen scheint nur logisch, daß das ins Nareef-Tal fließende Wasser vergiftet werden würde, sobald die alten Pakapflanzen aussterben und keine neuen mehr nachwachsen.«
»Ganz recht, mein Junge. Das Wasser würde die Tiere weiter unten vergiften. Das Hochwild würde sterben, die Waschbären, die Stachelschweine, die Wühlmäuse, die Eulen, die Singvögel sowie alle Tiere, die sich von ihren Kadavern ernähren: Wölfe, Kojoten, Geier. Sie alle würden aussterben.« Zedd beugte sich vor und hob einen Finger. »Sogar die Würmer.«
Richard nickte. »Ein großer Teil des im Tal gezogenen Viehs würde mit der Zeit vergiftet werden, und das Wasser des Dammar würde einen großen Teil des Ackerlandes verseuchen. Für die im Nareef-Tal lebenden Menschen und Tiere wäre dies eine Katastrophe.«
»Überlege, was geschehen würde, wenn man das Fleisch dieses Viehs verkaufte«, half Ann ihm auf die Sprünge, »bevor jemand davon erführe, daß es vergiftet ist.«
»Oder die Ernte«, fügte Kahlan hinzu.
Zedd beugte sich vor. »Und denke darüber nach, was dies weiterhin bedeuten würde.«
Richards Blick wanderte von Ann zu Kahlan und von dort zu Zedd. »Der Dammar fließt in den Drun. Ist der Dammar vergiftet, dann auch der Drun. Flußabwärts wäre ebenfalls alles vergiftet.«
Zedd nickte. »Und flußabwärts liegt das Land Toscia. Der Dammar hat für Toscia dieselbe Bedeutung wie der Hund für einen Floh. Toscia baut große Mengen Getreide und andere Erzeugnisse an, die viele Menschen in den Midlands ernähren. Von dort aus werden lange Trecks von Lastkarren mit Handelsgütern in den Norden geschickt.«
Es war lange her, daß Zedd in den Midlands gelebt hatte. Toscia war eine alte Bezeichnung; es lag tief im Südwesten, die Wildnis trennte es wie ein großes Meer vom Rest der Midlands. Das vorherrschende Volk dort, das sich mittlerweile Anderier nannte, hatte wiederholt seinen Namen geändert und damit auch den Namen seines Landes. Was Zedd unter dem Namen Toscia kannte, wurde erst zu Vengren, dann zu Vendice, anschließend zu Turslan und hieß gegenwärtig Anderith.
»Entweder würde vergiftetes Getreide, bevor man es als solches erkennt, verkauft werden, wodurch zahllose ahnungslose Seelen vergiftet würden«, fuhr Zedd fort, »oder aber das Volk von Toscia erführe rechtzeitig davon und könnte seine Erzeugnisse nicht mehr losschlagen. Womöglich würde das Vieh rasch eingehen. Die Fische, die man in den Küstengewässern fängt, könnten ebenfalls durch das Wasser des Drun, das sich in diese ergießt, vergiftet werden. Die Vergiftung würde auf die Felder übergreifen, neue Ernten vernichten und damit die Hoffnung auf die Zukunft.
Sind Vieh und Fischindustrie erst einmal vom Gift verseucht, und verfügt das Volk von Toscia über keine Ernteerträge mehr, die es gegen andere Nahrungsmittel eintauschen kann, dann könnte es verhungern. Menschen in anderen Ländern, die vom Eintausch dieser Erzeugnisse abhängig sind, gingen ebenfalls harten Zeiten entgegen, denn sie wiederum wären nicht in der Lage, ihre Waren zu verkaufen. Mit dem Abbrechen der Handelsbeziehungen und der Lebensmittelknappheit, die die Preise in die Höhe treiben würde, bekämen die Menschen überall in den Midlands Schwierigkeiten, ihre Familien zu ernähren.
Aufgrund der Knappheiten würden Bürgerunruhen ausbrechen, Hunger würde sich ausbreiten. Es könnte zu Panik kommen, Unruhen könnten sich zu Bürgerkriegen ausweiten, sobald Menschen versuchten, in unverseuchte Gebiete zu fliehen, die bereits von anderen bewohnt werden. Verzweiflung könnte die Flammen weiter anfachen. Die gesamte Ordnung könnte zusammenbrechen.«
»Das ist reine Spekulation«, meinte Richard. »Du willst doch nicht allen Ernstes ein derart ausuferndes Unglück vorhersagen. Sollte die Magie tatsächlich schwächer werden, wäre es nicht möglich, daß es gar nicht so schlimm kommt?«
Zedd zuckte mit den Achseln. »Etwas Vergleichbares ist noch nie geschehen, daher läßt es sich schwerlich vorhersagen. Möglicherweise würde das Gift vom Wasser des Dammar und des Drun verdünnt werden und entweder gar keinen Schaden anrichten oder schlimmstenfalls ein paar örtlich begrenzte Schäden hervorrufen. Fließt der Drun ins Meer, könnten diese Wassermengen das Gift harmlos machen, so daß die Fischerei nicht beeinträchtigt werden würde. Am Ende wäre es möglicherweise nicht mehr als eine kleine Unannehmlichkeit.«
Zedds Haar erinnerte Kahlan in dem trüben Licht an weiße Flammen. Er linste seinen Enkelsohn aus einem Auge an. »Andererseits«, fuhr er leise fort, »sollte die Magie der Gambitmotte versagen, könnte das nach allem, was wir wissen, eine Flut von Ereignissen auslösen, die das Ende des Lebens, so wie wir es kennen, zur Folge hätte.«
Richard wischte sich mit einer Hand durchs Gesicht, während er darüber nachdachte, welche Wellen ein solches Ereignis in den Midlands schlagen würde.
Zedd zog eine Braue hoch. »Begreifst du allmählich, was ich meine?« Er ließ die unbehagliche Stille noch eine Weile im Raum stehen, bevor er hinzusetzte: »Und das betrifft nur einen einzigen, kleinen Teil der Magie. Ich könnte dir zahllose andere Beispiele nennen.«
»Die in den Grußformeln genannten Chimären stammen aus der Welt der Toten. Das käme ihren Zielen sicherlich entgegen«, meinte Richard leise, während er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. »Angenommen, die Magie läßt nach, und die Schwächsten sterben zuerst aus. Hieße das, die Magie der Gambitmotte würde auch zu den ersten gehören, die verschwinden? Und wie stark ist überhaupt die Magie der Gambitmotte?«
Zedd breitete die Hände aus. »Unmöglich zu sagen. Sie könnte zu den ersten oder den letzten gehören.«
»Was ist mit Kahlan? Würde sie ihre Kraft verlieren? Sie ist ihr Schutz, sie ist auf sie angewiesen.«
Richard war der erste Mensch, der sie so akzeptiert hatte, wie sie war, der sie so liebte, wie sie war, mitsamt ihrer Kraft und allem, was dazugehörte.
Tatsächlich war gerade dies das unentdeckte Geheimnis ihrer Magie gewesen und der Grund, weshalb er vor ihrem tödlichen Wesen sicher war. Es war der Grund dafür, daß sie den körperlichen Teil ihrer Liebe gemeinsam ausleben konnten, ohne daß er von ihrer Magie vernichtet wurde.
Zedds Brauen zogen sich zusammen. »Verdammt, Richard, hörst du eigentlich nicht zu? Natürlich verlöre sie ihre Kraft. Sie ist magisch, und alle Magie ginge zu Ende: ihre, meine, deine. Doch während du und Kahlan einfach nur eure Magie verlöret, könnte es sein, daß die Welt um euch herum zugrunde geht.«
Richard fuhr mit einem Finger durch den Staub. »Ich weiß ohnehin nicht, wie ich meine Gabe nutzen kann, daher hätte es für mich keine so große Bedeutung, für andere dagegen schon. Wir dürfen nicht zulassen, daß es so weit kommt.«
»Glücklicherweise kann es gar nicht so weit kommen.« Zur Betonung zog Zedd seine Ärmel glatt. »Es ist nichts weiter als ein Spiel für Regentage mit dem Namen ›Was wäre, wenn‹.«
Richard zog seine Knie hoch, schlang die Arme um sie und schien wieder in seine ferne Welt der Stille zurückzusinken.
»Zedd hat recht«, ließ Ann sich vernehmen. »Das alles ist nichts weiter als Spekulation. Die in den Grußformeln genannten Chimären sind nicht auf freiem Fuß. Was jetzt zählt, ist Jagang.«
»Wenn die Magie zu Ende ginge, verlöre Jagang dann nicht seine Fähigkeiten als Traumwandler?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Ann. »Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme…«
»Angenommen, die Chimären wären auf diese Welt losgelassen worden«, unterbrach Richard sie, »wie würdest du sie aufhalten? Angeblich ist das ganz einfach. Wie würdest du vorgehen?«
Bevor einer von beiden antworten konnte, wandte Richard den Kopf zum Fenster. Erneut stand er auf und durchmaß den Raum mit drei schnellen Schritten. Er zog den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Windstöße wehten ihm den prasselnden Regen ins Gesicht, als er sich hinauslehnte, um sich nach beiden Seiten umzusehen. Blitze zuckten knisternd durch die trübe, nachmittägliche Atmosphäre, gefolgt von verhaltenem Donnern.
Zedd beugte sich zu Kahlan hinüber. »Hast du eine Ahnung, was im Kopf dieses Jungen vorgeht?«
Kahlan benetzte sich die Lippen. »Ich glaube, mir schwant da etwas, aber du würdest mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählte.«
Richard lauschte, den Kopf auf die Seite gelegt. Kahlan strengte sich an, in der Stille etwas Außergewöhnliches zu hören.
In der Ferne vernahm sie das angsterfüllte Wimmern eines Kindes. Richard war mit einem Satz an der Tür. »Ihr wartet alle hier.«
Wie ein Mann eilten sie ihm hinterher.