»Schnapp! Hierher, Junge! Schnapp!«
Normalerweise, wenn Meister Drummond ihn bei diesem Namen rief, wußte Snip, daß ihn die Demütigung erröten ließ, diesmal jedoch war er so in Sorge über das, was er zuvor in einem der oberen Stockwerke gesehen hatte, daß ihn eine solche Belanglosigkeit kaum beschämen konnte. Meister Drummonds herablassende Art, ihn wie Dreck zu behandeln, war nichts im Vergleich dazu, daß Beata ihn haßte und geohrfeigt hatte.
Es lag zwar bereits einige Stunden zurück, doch wo sie ihn geschlagen hatte, pochte sein Gesicht noch immer, somit war ihm eines klar: sie haßte ihn. Es verwirrte ihn und machte ihn verlegen, doch er war überzeugt, daß sie ihn haßte. Dabei dachte er, eigentlich sollte sie über alle und jeden verärgert sein, nur nicht über ihn.
Vielleicht ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie überhaupt mit hinaufgegangen war. Vermutlich hatte sie sich schlecht weigern können, den Minister aufzusuchen, wo er doch nach ihr gefragt hatte. Inger, der Metzger, hätte sie wahrscheinlich hinausgeworfen, hätte der Minister ihm erzählt, sein hakenisches Mädchen habe sich geweigert, seiner ganz besonderen Aufforderung nachzukommen. Nein, das hätte sie nicht gut machen können.
Außerdem hatte sie den Mann kennenlernen wollen, das hatte sie ihm selbst erzählt. Snip wußte allerdings, daß sie nie damit gerechnet hatte, ihm zu Willen sein zu müssen. Vielleicht war es gar nicht der Minister, über den sie so aufgebracht war. Snip mußte daran denken, wie dieser Mann, Stein, ihm zugezwinkert hatte. Sie war lange dort oben gewesen, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, Snip zu hassen. Oder ihn zu schlagen.
Snip blieb stehen. Seine Finger pochten vom langen Schrubben und Schaben im brühendheißen Wasser. Alles übrige an ihm fühlte sich jämmerlich an, wie taub. Bis auf sein Gesicht natürlich.
»Ja, Sir?«
Meister Drummond öffnete den Mund und wollte etwas sagen, klappte ihn dann aber wieder zu und beugte sich vor. Er runzelte die Stirn.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Ich wollte gerade einen Arm voll Holz aufnehmen, als mir eines der Apfelholzscheite aus der Hand glitt und mich traf, Sir.«
Meister Drummond schüttelte den Kopf und wischte sich die Hände an seinem weißen Handtuch ab. »Idiot«, murmelte er. »Nur ein Idiot«, sagte er laut genug, daß die anderen mithören konnten, »würde sich beim Aufheben eines Holzscheites damit ins Gesicht schlagen.«
»Ja, Sir.«
Meister Drummond wollte gerade zu einer Bemerkung ansetzen, als Dalton Campbell, in ein speckiges, mit krakeligen Zeilen vollgekritzeltes Stück Papier vertieft, leisen Schrittes neben Snip erschien. Er hatte einen ganzen Stapel zerlesener Papiere bei sich, deren nach innen gerollte Eselsohren zu allen Seiten herausschauten.
Die Papiere in die Beuge seines Armes gelegt, folgte er der Schrift mit einem Finger.
»Ich bin hier, um ein paar Punkte klarzustellen, Drummond«, sagte er, ohne aufzusehen.
Meister Drummond wischte sich rasch die Hände ab und drückte seinen breiten Rücken durch. »Ja, Sir, Mr. Campbell. Womit kann ich Euch dienen?«
Der Adjutant des Ministers hob das Schriftstück hoch, um ein zweites Blatt darunter in Augenschein zu nehmen.
»Habt Ihr dafür gesorgt, daß die besten Servierteller und Krüge in die Speisekammer gebracht werden?«
»Ja, Mr. Campbell.«
Zerstreut vor sich hin murmelnd, bemerkte Campbell, dann müßten sie, nachdem er nachgesehen habe, wohl wieder ausgewechselt worden sein. Er überflog das Blatt und blätterte dann zu einem dritten weiter. »Ihr werdet an der großen Speisetafel zwei zusätzliche Plätze einrichten müssen.« Er blätterte zurück zur zweiten Seite.
Meister Drummonds Mund begann aufgeregt zu arbeiten. »Zwei zusätzliche Plätze. Sehr wohl, Mr. Campbell. Ich werde mich darum kümmern. Wenn es Euch in Zukunft vielleicht möglich wäre, mich ein wenig früher von dergleichen in Kenntnis zu setzen?«
Dalton Campbells Finger schnellten in die Luft, seine Augen aber wichen keinen Augenblick von seinen Papieren. »Ja, ja, mit größtem Vergnügen. Das heißt, vorausgesetzt, der Minister informiert mich früher.« Er tippte auf eine Position in seinen Unterlagen und sah auf. »Lady Chanboor beschwert sich, das Knurren der Musikermägen störe die Musik. Könntet Ihr bitte dafür sorgen, daß man ihnen diesmal vorher zu essen gibt? Vor allem der Harfenspielerin. Sie wird Lady Chanboor am nächsten sitzen.«
Meister Drummond bestätigte mit einem kurzen Nicken. »Ja, Mr. Campbell. Ich werde mich darum kümmern.«
Ganz langsam, um nicht aufzufallen, stahl Snip sich gesenkten Kopfes ein paar Schritte davon und versuchte den Eindruck zu vermeiden, er lausche, wie der Adjutant des Ministers dem Küchenmeister Anweisungen erteilte. Er hätte sich lieber aus dem Staub gemacht, als zu riskieren, für einen Schnüffler gehalten zu werden, da er jedoch wußte, man würde ihn anschreien, wenn er sich ohne Auftrag entfernte, entschied er sich für einen Kompromiß und versuchte unauffällig, aber zur Stelle zu sein.
»Beim gewürzten Wein ist diesmal eine größere Vielfalt geboten. Einige Leute empfanden die Auswahl letztes Mal als dürftig. Sowohl bei heißem als auch kaltem, wenn ich bitten darf.«
Meister Drummond preßte die Lippen aufeinander. »Das kommt ein wenig spät, Mr. Campbell. Wenn es Euch in Zukunft vielleicht möglich wäre…«
»Ja, ja, sowie man mich unterrichtet, bekommt auch Ihr Bescheid.« Er schlug eine weitere Seite um. »Delikatessen. Sie dürfen ausschließlich an der Ehrentafel gereicht werden, bis man sich dort satt gegessen hat. Beim letzten Mal mußte der Minister peinlicherweise feststellen, daß sie ausgegangen waren und einige der Gäste nach mehr verlangten. Sollte es Euch aus irgendeinem Grund nicht möglich gewesen sein, einen angemessenen Vorrat zu beschaffen, serviert Ihr sie an den anderen Tischen vorerst gar nicht mehr.«
Auch Snip erinnerte sich an den Vorfall und wußte, daß Meister Drummond angeordnet hatte, diesmal mehr von den Hirschhoden zu schmoren. Snip hatte einen der Leckerbissen stibitzt, als er die Bratpfanne zum Abwaschen hinübergetragen hatte. Auch wenn er ihn ohne die süßsaure Soße hatte essen müssen – gut war er trotzdem gewesen.
Dalton Campbell sah seine Papiere durch, erkundigte sich nach verschiedenen Salz-, Butter- und Brotsorten und teilte Meister Drummond ein paar weitere Korrekturen betreffs des Abendessens mit. Snip war bemüht, die beiden Männer beim Warten nicht anzuschauen, und sah statt dessen den Frauen an einem nahen Tisch zu, wie sie Schweinemägen mit Gehacktem, verschiedenen Käsesorten, Eiern und Gewürzen füllten, sie mit ›Stacheln‹ aus Mandeln spickten und auf diese Weise in Igel verwandelten.
An einem anderen Tisch versahen zwei Frauen gebratene Fasane mit einem neuen Federkleid aus mit Safran und gelben Sonnenblumen eingefärbten Federn. Selbst Schnäbel und Krallen waren gefärbt, so daß die Vögel – goldenen Statuen ähnlich – in ihrem neuen Federkleid wie grandiose Geschöpfe aus Gold aussahen, nur lebensechter.
Dalton Campbell schien mit seiner Liste von Fragen und Anweisungen zum Schluß zu kommen und ließ, die Hand mit den Papieren locker festhaltend, die Arme sinken.
»Habt Ihr mir irgend etwas zu berichten, Meister Drummond?«
Der Küchenmeister benetzte sich die Lippen. Er schien keine Ahnung zu haben, worauf der Adjutant anspielte. »Nein, Mr. Campbell.«
»Dann erledigt also ein jeder in Eurer Küche seine Arbeit zu Eurer vollsten Zufriedenheit?« Sein Gesicht war bar jeder Gefühlsregung.
Snip bekam mit, daß alle im Raum einen vorsichtigen Blick riskierten. Überall schien der Arbeitslärm ein wenig nachzulassen. Fast konnte er die Ohren wachsen sehen.
Snip schien es, als wollte Dalton Campbell Meister Drummond ganz behutsam vorwerfen, er führe keine gute Küche, weil er faulen Bediensteten die Vernachlässigung ihrer Pflichten nachsah, ohne sie anschließend zu bestrafen. Der Küchenmeister schien den Vorwurf ebenfalls zu ahnen.
»Nun, durchaus, Sir, alle erledigen ihre Arbeit zu meiner Zufriedenheit. Ich halte ein strenges Auge auf sie, Mr. Campbell. Ich lasse nicht zu, daß Drückeberger den Betrieb in meiner Küche aufhalten. Ich könnte gar nicht anders; der Haushalt ist zu wichtig, als daß man irgendwelchen Nichtstuern gestatten könnte, alles zu verderben. Das lasse ich nicht zu, Sir, nein, ganz bestimmt nicht.«
Dalton Campbell nickte zufrieden, als er dies vernahm. »Sehr gut, Drummond. Ich hätte auch nicht gerne Faulpelze in meinem Haus.« Er überflog den Raum voller schweigender, hart arbeitender Menschen. »Sehr gut. Danke, Meister Drummond. Ich werde später noch einmal hereinschauen, bevor es an der Zeit ist, mit dem Servieren zu beginnen.«
Der Adjutant des Ministers wandte sich zum Gehen, dabei bemerkte er Snip, der dort herumstand. Er legte die Stirn in Falten, woraufhin Snip den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern zog und am liebsten in den Ritzen des Holzfußbodens versunken wäre. Dalton Campbell warf einen Blick über seine Schulter auf den Küchenmeister.
»Wie heißt dieser Küchenjunge?«
»Snip, Meister Campbell.«
»Snip, aha, verstehe. Und seit wann arbeitet er in diesem Haus?«
»Seit gut vier Jahren, Mr. Campbell.«
»Seit vier Jahren. So lange schon.« Er drehte sich ganz zu Meister Drummond um. »Und ist er nun ein Drückeberger, der den Betrieb in Eurer prächtigen Küche aufhält? Einer, den man schon längst hätte hinauswerfen sollen, was man aber aus irgendeinem rätselhaften Grund bisher nicht getan hat? Ihr habt doch nicht etwa Eure Pflicht als Küchenmeister vernachlässigt und einen Faulpelz unter dem Dach des Ministers geduldet, oder? Solltet Ihr Euch tatsächlich eines solchen Versäumnisses schuldig gemacht haben?«
Starr vor Angst fragte Snip sich, ob man ihn wohl vor dem Hinauswerfen züchtigen oder ihm einfach bloß die Tür weisen und ihn ohne einen Bissen zu essen fortschicken würde. Meister Drummonds Blick zuckte zwischen Snip und dem Adjutanten hin und her.
»Nun, äh, nein, Sir. Nein, Mr. Campbell. Ich achte sehr darauf, daß Snip seinen Teil der Arbeit erledigt. Ich lasse nicht zu, daß er unter dem Dach des Ministers zum Drückeberger wird, Mr. Campbell. Ganz bestimmt nicht, Sir.«
Dalton Campbell sah sich mit einem verwirrenden Blick zu Snip um. »Nun, wenn er tut, was Ihr verlangt, und seine Arbeit macht, sehe ich keinen Grund, den jungen Mann herabzuwürdigen, indem Ihr ihn für gewöhnlich ›Schnapp‹ ruft, meint Ihr nicht auch? Seid Ihr nicht auch der Ansicht, das wirft ein schlechtes Licht auf Euch als Küchenmeister, Drummond?«
»Nun, ich…«
»Also dann. Freut mich, daß Ihr derselben Ansicht seid. Wir werden dergleichen in diesem Haus nicht länger dulden.«
Entweder heimlich und verstohlen oder aber mit unverhohlener Neugier verfolgte fast jedes Auge in der Küche den Wortwechsel der beiden Männer. Ein Umstand, der dem Küchenmeister völlig verborgen blieb.
»Also, einen Augenblick bitte, wenn Ihr nichts dagegen habt. Das ist wirklich nicht böse gemeint, außerdem hat der Junge auch gar nichts dagegen, nicht wahr, Snip…«
Dalton Campbell veränderte die Körperhaltung in einer Weise, daß Meister Drummond die Worte in der Kehle steckenblieben, bevor sie noch ganz ausgesprochen waren. Die edel wirkenden dunklen anderischen Augen des Adjutanten nahmen ein gefährliches Funkeln an. Er wirkte plötzlich größer, seine Schultern breiter, und die Muskeln unter seinem dunkelblauen Wams und dem gesteppten Koller traten unvermittelt deutlicher hervor.
Sein lässiger, zerstreuter, beiläufiger und manchmal geradezu biederer Tonfall war verschwunden. Er hatte etwas Bedrohliches bekommen, das ebenso tödlich schien wie die Waffe an seiner Hüfte.
»Erlaubt, daß ich es für Euch auf andere Weise formuliere, Meister Drummond. Wir werden dergleichen unter diesem Dach nicht durchgehen lassen. Ich erwarte, daß Ihr Euch meinen Wünschen fügt. Sollte mir jemals wieder zu Ohren kommen, daß Ihr jemanden aus dem Personal mit absichtlich beleidigenden Namen ruft, werde ich einen neuen Küchenmeister einstellen und Euch hinauswerfen lassen. Ist das klar?«
»Ja, Sir. Vollkommen klar, vielen Dank, Sir.«
Campbell wollte gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. Seine gesamte Person vermittelte den Eindruck von Bedrohlichkeit. »Und noch etwas. Minister Chanboor erteilt mir Befehle, die ich unfehlbar ausführe. Das ist meine Pflicht. Ich erteile Euch Befehle, die Ihr unfehlbar ausführt. Das ist Eure Pflicht, Ich erwarte, daß der Junge seine Arbeit macht oder hinausgeworfen wird, werft Ihr ihn jedoch hinaus, dann solltet Ihr besser auch begründen können, warum; mehr noch, solltet Ihr ihm aufgrund meiner Befehle das Leben schwermachen, dann werde ich Euch nicht etwa bloß hinauswerfen, sondern Euch die Eingeweide herausreißen und Euch an jenem Spieß dort drüben rösten lassen. Nun, habe ich mich jetzt vollkommen klar ausgedrückt, Meister Drummond?« Snip hatte gar nicht gewußt, daß Meister Drummond seine Augen so weit aufreißen konnte. Seine Stirn war schweißbedeckt; er mußte schlucken, bevor er antwortete.
»Ja, Sir, völlig klar. Es wird geschehen, wie Ihr verlangt. Ihr habt mein Wort darauf.«
Dalton Campbell schien wieder auf seine normale Größe zu schrumpfen, die auch nicht gerade unerheblich war. Der freundliche Ausdruck kehrte auf sein Gesicht zurück, sein höfliches Lächeln eingeschlossen.
»Danke, Drummond. Weitermachen.«
Während des gesamten Wortwechsels hatte Dalton Campbell Snip kein einziges Mal angesehen, und er tat es auch jetzt nicht, als er kehrtmachte und die Küche verließ. Wie Meister Drummond und die Hälfte aller in der Küche Anwesenden atmete Snip hörbar aus.
Als er sich das Geschehene noch einmal durch den Kopf gehen ließ und ihm zum erstenmal wirklich bewußt wurde, daß Meister Drummond ihn nicht mehr ›Schnapp‹ rufen würde, bekam er vor Verwunderung weiche Knie. Dalton Campbell war mit einem Schlag sehr in seinem Ansehen gestiegen.
Als er sein Handtuch aus dem Gürtel zog und sich die Stirn abtupfte, gewahrte Meister Drummond, daß die Leute ihn ansahen. »Zurück an die Arbeit, alle miteinander.« Er steckte das Handtuch wieder an seinen Platz. »Snip«, rief er mit seiner normalen Stimme, so wie er alle anderen in der Küche rief.
Snip trat rasch zwei Schritte vor. »Ja, Sir?«
Er fuchtelte mit den Händen. »Wir brauchen noch etwas Eichenholz. Nicht so viel wie letztes Mal, nur ungefähr die Hälfte. Beeil dich, lauf.«
Snip rannte beflissen zur Tür, um das Holz herbeizuschaffen, ohne auch nur an die Splitter zu denken, die er sich dabei einhandeln konnte.
Nie wieder würde er mit diesem verhaßten Namen gedemütigt werden, niemand würde ihn mehr deswegen auslachen. Und das hatte er alles Dalton Campbell zu verdanken.
Hätte Dalton Campbell es von ihm verlangt, Snip hätte in diesem Augenblick mit bloßen Händen glühende Kohlen geschleppt und die ganze Zeit dabei noch gelächelt.