58

Dalton eilte gehetzt an die Ehrentafel und lächelte Teresa zu. Sie machte einen einsamen und verlorenen Eindruck, doch trotz seiner Verspätung wirkte sie eher erleichtert, ihn zu sehen. In letzter Zeit sah er sie viel zu selten, aber daran war nichts zu ändern. Zum Glück hatte sie Verständnis dafür.

Dalton gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sich auf seinen Platz setzte.

Der Minister nahm ihn lediglich mit einem flüchtigen Seitenblick zur Kenntnis. Er war soeben damit beschäftigt, mit einer Frau an einer Tafel auf der rechten Seite des Speisesaales lüsterne Blicke zu tauschen. Es hatte den Anschein, als machte sie anzügliche Gesten mit einer Roulade. Der Minister schmunzelte.

Statt sich von Bertrands sexuellen Vorlieben abstoßen zu lassen, fühlten sich weit mehr Frauen gerade ihretwegen zu ihm hingezogen, auch wenn sie gar nicht die Absicht hatten, dieser Verlockung nachzugeben. Es schien eine Laune weiblicher Denkart zu sein, dass gewisse Frauen sich von greifbaren Beweisen sexueller Kraft unwiderstehlich angezogen fühlten, wie ungehörig diese auch sein mochten; ein in den Eingeweiden spürbares leichtes Ziehen von Gefährlichkeit, ebenso verlockend wie verboten. Je mehr gewisse Männer den Schurken herauskehrten, desto inbrünstiger die schmachtenden Seufzer vieler Frauen.

»Hoffentlich hast du dich nicht allzu sehr gelangweilt«, meinte Dalton leise zu Teresa und hielt einen Augenblick inne, um die Glut ihrer pflichtgetreuen Zuneigung zu würdigen.

Von dem kurzen, Teresa zugedachten Lächeln abgesehen, gab er sein Möglichstes, jetzt, kurz vor der Erfüllung seines ganzen Strebens, den gewohnt gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren. Er trank einen kräftigen Schluck Wein, den er kaum schmeckte, auf dessen Wirkung er jedoch ungeduldig wartete.

»Ich habe dich vermisst, weiter nichts. Bertrand hat Scherze erzählt.« Teresa errötete. »Aber die kann ich unmöglich wiedergeben, jedenfalls nicht hier.« Ein Lächeln, ihr schelmisches Lächeln, stahl sich auf ihr Gesicht. »Vielleicht erzähle ich sie dir, sobald wir zu Hause sind.«

Er lächelte geziert, während seine Gedanken bereits zu gewichtigen Dingen abschweiften. »Vorausgesetzt, ich komme früh genug zurück. Ich muss heute Abend noch einen neuen Stoß Nachrichten fertig machen. Es ist etwas« – er zwang sich, das Getrommel seiner Finger auf dem Schreibtisch sein zu lassen –, »etwas Wichtiges, etwas Folgenschweres vorgefallen.«

Gespannt beugte Teresa sich vor. »Was denn?«

»Dein Haar wächst sehr schön aus, Tess.« Es war gerade so lang, wie ihre gegenwärtige Stellung dies zuließ. Er konnte es sich nicht verkneifen, ständig darauf hinzuweisen. »Ich glaube allerdings, es wird noch beträchtlich länger wachsen müssen.«

»Dalton…« Ihre Augen weiteten sich, während sie darüber nachdachte, was er nur gemeint haben konnte, zugleich nahm ihr Gesicht einen leicht verwirrten Ausdruck an, denn sie vermochte sich nicht vorzustellen, was unter den gegenwärtigen Umständen die Erfüllung seiner lang gehegten Ziele so plötzlich ermöglicht haben sollte. »Dalton, hat das etwas zu tun mit – mit dem, wovon du mir stets erzählt hast …?«

Sein nüchterner Gesichtsausdruck ließ sie mitten im Satz verstummen. »Entschuldige, mein Schatz, ich sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Vielleicht interpretiere ich ohnehin zu viel hinein. Gedulde dich, in wenigen Minuten wirst du es erfahren. Neuigkeiten wie diese hört man am besten vom Minister selbst.«

Lady Chanboor sah kurz zu der Frau mit der Roulade hinüber. Als hätte sie nichts anderes im Sinn als ihre Tischgenossen, zog die Frau ihre Locken vors Gesicht und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf sie. Hildemara bedachte Bertrand mit einem kurzen, nicht für die Allgemeinheit bestimmten, mörderischen Blick, bevor sie sich an ihm vorbei zu Dalton hinüberbeugte.

»Was ist Euch denn zu Ohren gekommen?«

Dalton tupfte sich den Wein von den Lippen und legte die Serviette zurück in seinen Schoß. Er hielt es für das Beste, zuerst die beiläufige Information loszuwerden. Außerdem würde das helfen, die erforderlichen Schritte ins richtige Verhältnis zu rücken.

»Von morgens früh bis abends spät arbeiten Lord Rahl und die Mutter Konfessor daran, so viele Orte wie möglich aufzusuchen. Sie sprechen zu Menschenmengen, die ganz verrückt danach sind, ihnen zuzuhören.

Die Mutter Konfessor zieht die Menschenmengen schon allein deswegen an, weil alle ganz versessen darauf sind, sie zu sehen. Ich fürchte, die Menschen empfangen sie herzlicher, als uns lieb sein kann. Sie hat durch ihre kürzliche Heirat viele Herzen gewonnen und sich beliebt gemacht. Wo immer die beiden auftreten, jubeln die Menschen dem glücklichen, frisch vermählten Paar zu. Die Landbevölkerung kommt meilenweit aus der Umgebung in die Orte gereist, in denen sie und Lord Rahl auftreten.«

Lady Chanboor verschränkte die Arme und bedachte die Frischvermählten mit einem leisen Fluch, der selbst für sie von bemerkenswert vulgärer Lästerlichkeit war. Ganz nebenbei fragte sich Dalton, welch obszöne Eigenschaften sie ihm in seiner Abwesenheit zuschrieb, wenn er ohne es zu wissen ihr Missfallen erregt hatte. Er kannte einige der farbigen Schmähungen, die sie für ihren Gemahl benutzte.

Obwohl einigen aus dem Personal diese launenhafte Seite von ihr nur zu bekannt war, hielten die meisten Menschen sie im Allgemeinen für zu makellos, als dass ihr derartige Schmähreden über die Lippen kommen konnten. Hildemara wusste ganz genau, wie wertvoll es war, die Unterstützung der Menschen auf ihrer Seite zu wissen. Wenn sie als Lady Chanboor, liebende Gattin des Ministers für Kultur, Fürsprecherin der Ehefrauen und Mütter allenthalben, das Land bereiste, um für das gute Werk ihres Gemahls zu werben, von der Pflege ihrer Beziehungen zu reichen Hintermännern ganz zu schweigen, wurde ihr eine katzbuckelnde Aufnahme zuteil, die der der Mutter Konfessor nicht unähnlich war.

Sie würde diese Rolle mehr als je zuvor gut spielen müssen, wenn sie Erfolg haben wollten.

Dalton trank noch einen Schluck Wein, dann fuhr er fort. »Die Mutter Konfessor und Lord Rahl haben sich mehrere Male mit den Direktoren getroffen. Wie ich höre, haben die Direktoren ihnen gegenüber ihre Freude sowohl über die fairen Bedingungen des Angebots von Lord Rahl als auch über seine Argumentation und die genannten Ziele zum Ausdruck gebracht.«

Bertrand, der jetzt ebenfalls zugehört hatte, ballte die Faust; seine Kiefermuskeln spannten sich.

»Jedenfalls«, fügte Dalton hinzu, »in Lord Rahls Gegenwart. Nachdem er dann aufgebrochen war, um die ländlichen Gegenden zu bereisen, überkam die Direktoren nach eingehenderer Überlegung ein Meinungswandel.«

Dalton blickte dem Minister und seiner Gemahlin in die Augen, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu vergewissern, bevor er fortfuhr. »Was in Anbetracht der jüngsten Geschehnisse ein Glück ist.«

Der Minister musterte Daltons Gesicht, bevor er seinen Blick wieder prüfend auf die junge Dame richtete. »Und was, bitte, sind die jüngsten Geschehnisse?«

Dalton ergriff unter dem Tisch Teresas Hand.

»Minister Chanboor, Lady Chanboor, ich bedauere, Euch mitteilen zu müssen, dass der Herrscher verstorben ist.«

Schockiert von den Neuigkeiten, schreckte Teresa nach Atem ringend zurück, bevor sie sich die Serviette vors Gesicht hielt, damit niemand ihre plötzlichen Tränen gewahrte; Teresa konnte es nicht ausstehen, wenn man sie weinen sah.

Bertrands bohrender Blick traf den Daltons. »Ich dachte, er sei auf dem Wege der Besserung.«

Mit der Bemerkung wollte er seinen Argwohn anklingen lassen – nicht dass ihm der Tod des Herrschers ungelegen kam. Argwohn deshalb, weil er unsicher war, ob Dalton über die erforderlichen Mittel für die Durchführung einer solchen Tat verfügte, und mehr noch, weil er nicht wusste, wieso Dalton einen solch kühnen Schritt gewagt haben sollte – wenn er es überhaupt getan hatte.

Auch wenn der Minister zweifellos insgeheim entzückt sein dürfte, dass der bejahrte Herrscher seinen Platz zu einem so günstigen Zeitpunkt räumte – schon die leiseste Anspielung, dies habe eine andere als eine natürliche Ursache, konnte alles, worauf sie hingearbeitet hatten, kurz vor dem Ziel gefährden.

Dalton begegnete der versteckten Anspielung keinesfalls mit Misstrauen und beugte sich zum Minister hinüber. »Wir haben ein Problem. Zu viele Menschen sind bereit, mit einem Kreis für den Anschluss an Lord Rahl zu stimmen. Wir müssen dafür sorgen, dass dies eine Personenentscheidung wird zwischen unserem liebenden, wohltätigen Herrscher und einem Mann, der womöglich Böses gegen unser Volk im Schilde führt.

Wie bereits besprochen, müssen wir imstande sein – unserem Hintermann aufgrund bereits getroffener Absprachen zu liefern. Wir können uns das Risiko, das diese Abstimmung birgt, nicht länger leisten. Jetzt müssen wir entschiedener gegen einen Anschluss an Lord Rahl Stellung nehmen, bei allem Risiko, das dieses Vorgehen mit sich bringt.«

Dalton senkte seine Stimme. »Wir sind darauf angewiesen, dass Ihr dieser Stellungnahme als Herrscher Gewicht verleiht. Ihr müsst Herrscher werden und diesen Worten Eure Stimme leihen.«

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Bertrands Gesicht aus. »Dalton, mein treuer und wendiger Adjutant, Ihr habt Euch soeben eine sehr wichtige Ernennung auf das in Bälde freie Amt des Ministers für Kultur verdient.«

Endlich fiel alles genau an seinen Platz.

Hildemaras Gesichtsausdruck war der verblüffter, aber zufriedener Ungläubigkeit. Sie kannte die schützenden Kreise rings um den Herrscher; sie kannte sie, denn sie hatte sie – wenn auch erfolglos – zu durchbrechen versucht.

Nach dem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu urteilen, sah sie sich zweifellos bereits als Gemahlin des Herrschers, der in der Welt des Lebendigen so sehr als Gütige Seele verehrt wurde, wie das für einen Menschen nur möglich war. Ihre Worte würden weitaus mehr Gewicht haben als die einer bloßen Ministergattin, einer Position, die wenige Augenblicke zuvor noch erhaben war, ihr jetzt aber erbärmlich und ihrer nicht würdig schien.

Hildemara beugte sich an ihrem Gatten vorbei und ergriff sachte Daltons Handgelenk. »Dalton, mein Junge, Ihr seid besser als ich dachte – dabei hatte ich bereits eine sehr hohe Meinung von Euch. Ich hätte nie für möglich gehalten…« Sie verkniff es sich, die Tat beim Namen zu nennen.

»Ich tue meine Pflicht, Lady Chanboor, wie schwierig das auch sein mag. Ich weiß, nur das Ergebnis zählt.«

Sie drückte abermals sein Handgelenk, dann ließ sie ihn los. Nie hatte er sie eine seiner Leistungen so würdigen sehen. Claudine Winthrops Ende hatte ihm nicht einmal ein anerkennendes Nicken eingetragen.

Dalton wandte sich seiner Frau zu. Er hatte Vorsicht walten lassen; sie hatte seine geflüsterten Worte nicht mitbekommen; in ihrer Trauer bemerkte sie ihn nicht einmal. Er legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern.

»Geht es dir gut, Tess?«

»O Dalton, der arme Mann«, schluchzte sie. »Unser armer Herrscher. Möge der Schöpfer seinen unsterblichen Geist sicher an jenem erhabenen Ort verwahren, den er sich für sein Leben nach dem Tod verdient hat.«

Bertrand beugte sich hinter Daltons Rücken vorbei, um Teresa voller Mitgefühl die Hand auf den Arm zu legen. »Sehr schön gesagt, meine Liebe. Sehr schön gesagt. Ihr habt die liebevollen Gefühle aller auf den Punkt getroffen.«

Bertrand setzte seinen schwermütigsten Gesichtsausdruck auf, als er sich von seinem Sessel erhob. Statt wie sonst üblich die Hand zu heben, stand er schweigend da, den Kopf gesenkt, die Hände vor dem Körper gefaltet. Auf einen Fingerzeig Hildemaras verstummte die Harfe. Gelächter und Unterhaltungen verstummten, als die Anwesenden gewahrten, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.

»Meine lieben Bewohner Anderiths, soeben habe ich eine höchst betrübliche Neuigkeit erhalten. Seit heute Abend sind wir ein verlorenes Volk, ein Volk ohne Herrscher.«

Statt, wie Dalton erwartet hatte, in Tuscheln auszubrechen, legte sich eine bestürzte Totenstille über den Saal. In diesem Augenblick begriff Dalton zum allerersten Mal wirklich, dass er sein ganzes Leben, von Geburt an, unter der Herrschaft des alten Herrschers gelebt hatte. Eine Ära war zu Ende gegangen. Vielen im Saal gingen zweifellos ähnliche Gedanken durch den Kopf.

Bertrand, aller Augen auf sich gerichtet, blinzelte, als müsste er seine Tränen unterdrücken. Als er fortfuhr, klang seine Stimme ruhig und erfüllt von Trauer.

»Verneigen wir alle unser Haupt und bitten, der Schöpfer möge den unsterblichen Geist unseres geliebten Herrschers an ebenjenem Ehrenplatz aufnehmen, den er sich durch sein ehrenvolles Schaffen verdient hat. Anschließend werde ich Euch Eurem Abendessen überlassen, denn ich muss auf meines verzichten und umgehend die Direktoren zur Pflicht rufen.

In Anbetracht der Dringlichkeit der Situation, da Lord Rahl und Kaiser Jagang um unsere Ergebenheit wetteifern und die dunkle Wolke des Krieges drohend über unseren Köpfen schwebt, werde ich im Namen des Volkes von Anderith die Direktoren ersuchen, noch heute Abend einen neuen Herrscher zu benennen, und darauf drängen, dass dieser Mann, wer immer es sein mag, am morgigen Tag zum Herrscher geweiht wird, damit uns wenigstens jene Führung zuteil wird, die unser alter Herrscher aufgrund seines hohen Alters und seiner angegriffenen Gesundheit uns nicht mehr zu geben vermochte.«

Teresa griff nach seinem Ärmel. »Dalton«, zischte sie, die weit aufgerissenen Augen voller Ehrerbietung auf Bertrand Chanboor gerichtet, »Dalton, ist dir eigentlich klar, dass er sehr gut unser nächster Herrscher werden kann?«

Dalton wollte die Unverblümtheit dieser plötzlichen Erkenntnis nicht zunichte machen und legte ihr sacht eine Hand auf den Rücken. »Wir dürfen hoffen, Tess.«

»Und beten auch«, erwiderte sie leise, die Augen voller glitzernder Tränen.

Bertrand breitete vor den feuchten Augen der verängstigten Menge die Hände aus.

»Bitte, liebe Freunde, senkt nun gemeinsam mit mir das Haupt zum Gebet.«


Dalton, der nahe der Tür auf und ab lief, ergriff Francas Arm, gleich nachdem sie hereingekommen war. Er schloss die Tür.

»Freut mich, dich zu sehen, meine liebe Franca. Und Gelegenheit zu erhalten, mit dir zu sprechen. Es ist lange her. Danke, dass du gekommen bist.«

»Du sagtest, es sei wichtig.«

»Ja, das ist es wohl.« Dalton machte eine auffordernde Handbewegung. »Bitte, nimm doch Platz.«

Franca strich ihr Kleid glatt und setzte sich in den gepolsterten Sessel vor seinem Schreibtisch. Dalton, der ihr näher sein und weniger förmlich als hinter seinem Schreibtisch wirken wollte, lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Er spürte einen Gegenstand unter seinem Hinterteil. Dann sah er, was es war, und schob das kleine Buch von Joseph Ander zurück auf den Schreibtisch, fort von sich.

Franca fächelte sich Luft ins Gesicht. »Könntest du bitte ein Fenster öffnen, Dalton? Es ist entsetzlich stickig hier drinnen.«

Es dämmerte zwar gerade erst, und die Sonne war noch nicht hinter dem Horizont hervorgekommen, trotzdem hatte sie Recht; es war bereits heiß und versprach, ein drückender Tag zu werden. Dalton trat lächelnd hinter seinen Schreibtisch und schob das Fenster ganz nach oben. Er blickte über seine Schulter und öffnete auf ihr beharrliches Gestikulieren hin noch zwei weitere.

»Danke, Dalton. Nett, dass du mir den Gefallen tust. Und was ist nun so wichtig?«

Er kehrte um seinen Schreibtisch herum zurück, lehnte sich wieder dagegen und schaute auf sie hinab. »Konntest du gestern Abend beim Fest etwas hören? Es war ein wichtiger Abend, schon allein wegen der tragischen Ankündigung. Es wäre hilfreich, wenn du über das Gehörte einen Bericht geben könntest.«

Franca wirkte gequält. Sie öffnete eine kleine Geldtasche, die, verborgen unter einer Schicht aus brauner Wolle, um ihre Hüfte hing. Dieser entnahm sie vier Goldmünzen, die sie ihm reichte.

»Hier. Das ist der Lohn, den du mir bezahlt hast, seit ich – seit ich diese Schwierigkeiten mit meiner Gabe habe. Er steht mir nicht zu. Ich habe kein Recht, dein Geld zu behalten. Tut mir Leid, dass du mich den weiten Weg hierher bitten musstest, weil ich dir den Lohn nicht früher zurückgegeben habe.«

Dalton wusste, wie sehr sie auf das Geld angewiesen war. Ohne ihre Gabe hatte sie keine Arbeit, Franca steuerte auf den Bankrott zu. Ohne Mann war sie gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt entweder selbst zu verdienen oder zu verhungern. Ihm das Geld zurückzugeben, das er ihr gezahlt hatte, kam einer ernst zu nehmenden Bankrotterklärung gleich.

Dalton schob ihre Hand fort. »Nein, nein, Franca, ich will dein Geld nicht…«

»Es ist nicht mein Geld. Ich habe nichts dafür getan, es steht mir nicht zu.«

Sie hielt ihm die Münzen abermals hin. Dalton nahm ihre Hand in beide Hände und hielt sie zärtlich fest.

»Wir sind gute alte Freunde, Franca. Ich sag dir was: Wenn du glaubst, das Geld stehe dir nicht zu, werde ich dir auf der Stelle Gelegenheit geben, es zu verdienen.«

»Ich sagte doch bereits, ich kann nicht…«

»Es hat nichts mit dem Gebrauch deiner Gabe zu tun. Es betrifft einen ganz anderen Vorzug von dir.«

Erschrocken zog sie ihre Hand zurück. »Dalton! Du hast eine Gattin! Eine junge, wunderhübsche Frau…«

»Nein, nein«, unterbrach Dalton sie überrascht. »Nein, Franca. Tut mir Leid, wenn ich dich veranlasst haben sollte, zu glauben, ich könnte … tut mir Leid, wenn ich mich nicht präzise ausgedrückt habe.«

Dalton hielt Franca für eine faszinierende, attraktive Frau, obwohl sie ein wenig älter war und ziemlich eigenartig. Er hatte zwar weder daran gedacht, noch würde er ein solches Angebot jemals in Erwägung ziehen, trotzdem war er enttäuscht, dass sie die Vorstellung als abstoßend empfand.

Sie ließ sich wieder auf ihren Sessel sinken. »Was willst du dann?«

»Die Wahrheit.«

»Aha. Nun, Dalton, es gibt Wahrheiten und Wahrheiten. Manche sind beunruhigender als andere.«

»Weise Worte.«

»Und welche Wahrheit suchst du?«

»Was ist mit deiner Magie nicht in Ordnung?«

»Sie funktioniert nicht.«

»Das weiß ich. Ich möchte wissen, warum.«

»Trägst du dich etwa mit dem Gedanken, in das Geschäft mit der Zauberei einzusteigen, Dalton?«

Er atmete durch und faltete die Hände. »Die Angelegenheit ist wichtig, Franca. Ich muss unbedingt herausfinden, weshalb deine Magie nicht funktioniert.«

»Warum?«

»Weil ich wissen muss, ob es nur dich allein betrifft oder ob mit der Magie im Allgemeinen etwas nicht stimmt. Für viele Menschen in Anderith ist Magie ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Wenn sie nicht funktioniert, muss ich darüber Bescheid wissen, damit dieses Büro sich darauf vorbereiten kann.«

Ihre Stirn glättete sich. »Aha.«

»Nun, was stimmt nicht mit der Magie, und wie verbreitet ist das Problem?«

Ihr betrübtes Gesicht kehrte zurück. »Ich kann es nicht erklären.«

»Ich muss das wirklich wissen, Franca. Bitte.«

Sie sah fragend zu ihm hoch. »Bitte, Dalton, frag mich nicht…«

»Doch, genau das tue ich.«

Eine Weile saß sie da und starrte auf den Boden. Schließlich ergriff sie eine seiner Hände und drückte die vier Goldmünzen hinein. Dann stand sie auf und sah ihm in die Augen.

»Ich werde es dir verraten, aber ich werde kein Geld dafür nehmen. Es gehört zu der Art von Dingen, für die ich kein Geld nehme. Ich erzähle es dir nur, weil – weil du ein Freund bist.«

Dalton fand, sie sah aus, als hätte er sie soeben zum Tode verurteilt. Er deutete auf den Sessel, und sie ließ sich erneut hineinsinken.

»Ich weiß das sehr zu schätzen, Franca. Wirklich.«

Sie nickte ohne aufzusehen.

»Mit der Magie stimmt etwas nicht. Da du nichts von Magie verstehst, werde ich dich nicht mit Einzelheiten verwirren. Für dich ist lediglich wichtig, dass die Magie im Aussterben begriffen ist. So wie meine Magie versiegt ist, so ist die Magie insgesamt verschwunden. Tot und begraben.«

»Aber warum? Kann man denn nichts dagegen tun?«

Sie dachte eine Weile darüber nach. »Nein, ich glaube nicht. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich kann dir verraten, dass der Oberste Zauberer persönlich mit ziemlicher Sicherheit bei dem Versuch, das Problem zu bereinigen, umgekommen ist.«

Die Information versetzte Dalton in Bestürzung. Unvorstellbar!

Es stimmte zwar, dass er von Magie keine Ahnung hatte, trotzdem waren ihm viele ihrer Vorteile für die Menschen bekannt, wie zum Beispiel Francas Heilkunst – die nicht nur den Körper betraf, sondern mit der sie auch gepeinigten Seelen Trost spendete.

Er fand dies weit folgenschwerer als den Tod eines Mannes, der einst Herrscher war. Mit der Magie war sehr viel mehr gestorben.

»Aber wird sie zurückkehren? Wird etwas geschehen, damit – damit, was weiß ich … das Problem bereinigt werden kann?«

»Das weiß ich nicht. Wie gesagt, ein auf diesem Gebiet sehr viel kenntnisreicherer Mann als ich war nicht imstande, den Prozess umzukehren, also neige ich zu der Ansicht, er ist unumkehrbar. Vielleicht könnte sie zurückkehren, nur fürchte ich, dafür ist es bereits zu spät.«

»Und was werden deiner Meinung nach die Auswirkungen eines derartigen Ereignisses sein?«

Darauf antwortete Franca, der die Farbe aus dem Gesicht wich, nur: »Das vermag nicht einmal ich zu erraten.«

»Bist du dieser Geschichte nachgegangen? Ich meine, gründlich nachgegangen?«

»Ich habe eine Weile zurückgezogen gelebt, alles Mögliche in Betracht gezogen, habe alles in meiner Macht Stehende versucht. Gestern Abend war ich zum ersten Mal seit Wochen wieder unter Menschen.« Sie sah stirnrunzelnd zu ihm hoch. »Als der Minister den Tod des Herrschers verkündete, machte er eine Bemerkung, die Lord Rahl betraf. Worum ging es dabei?«

Dalton sah, die Frau stand so sehr außerhalb des Alltagslebens in Anderith, dass sie nicht einmal über Lord Rahl und die Abstimmung Bescheid wusste. Angesichts dieser Neuigkeiten hatte er jetzt wichtige Dinge zu erledigen.

»Ach, weißt du, es gibt immer Interessenten, die sich um die Erzeugnisse Anderiths streiten.« Er nahm ihre Hand und half ihr auf. »Danke, dass du gekommen bist, Franca, und mir diese Neuigkeiten anvertraut hast. Du hast mir mehr geholfen, als du ahnst.«

Leicht verstört registrierte sie, dass sie abgeschoben werden sollte, doch daran konnte er nichts ändern. Er musste sich an die Arbeit machen.

Sie hielt, ihr Gesicht wenige Zoll von seinem, inne und sah ihm in die Augen. Der Blick hatte etwas Faszinierendes – Kraft hin oder her. »Versprich mir, Dalton, dass ich nie bedauern muss, dir die Wahrheit erzählt zu haben.«

»Franca, du kannst auf mich zählen…«

Ein plötzlicher Lärm hinter ihm ließ ihn herumfahren; erschrocken zog er Franca zurück. Ein großer schwarzer Vogel war durch das offene Fenster hereingeflogen. Ein Rabe, wie er glaubte, obwohl er noch nie einen von so nah gesehen hatte.

Das Tier machte sich auf seinem Schreibtisch breit, wobei seine Flügelspitzen fast bis an beide Kanten reichten. Die ausgebreiteten Flügel und den Schnabel zu Hilfe nehmend, versuchte es auf der ebenen, glatten Lederbespannung Halt zu finden. Der glatte, unangenehme Landeplatz entlockte ihm einen zornig enttäuschten, vielleicht auch überraschten Schrei.

Dalton eilte um den Schreibtisch herum zum verschnörkelten Silberständer und zog sein Schwert.

Franca versuchte ihm in den Arm zu fallen. »Nicht, Dalton! Es bringt Unglück, einen Raben zu töten!«

Ihr Eingreifen und das plötzliche Wegtauchen des Vogels verhinderten einen sicheren Treffer.

Der Rabe stolzierte unter lautem Kreischen und Zetern zum Schreibtischrand. Dalton schob Franca sachte, aber entschieden zur Seite und holte mit dem Schwert aus.

Als der Rabe mit großen Augen erkannte, was ihm blühte, schnappte er sich das kleine Buch mit seinem Schnabel. Das Buch festhaltend, das einst Joseph Ander gehört hatte, erhob er sich inmitten des Zimmers plötzlich in die Luft.

Dalton schlug das Fenster hinter seinem Schreibtisch, durch das der Rabe hereingekommen war, krachend zu. Krallen zerkratzten ihm die Kopfhaut, als er erst das zweite, dann das dritte Fenster krachend herunterzog.

Dalton schlug auf das ungestüme Geflatter der Federn ein und streifte den Vogel ganz leicht mit seinem Schwert. Der Rabe, dessen Schreie ihm schmerzlich in den Ohren hallten, floh Richtung Fenster.

Dalton und Franca hielten sich den Arm vor die Augen, als die Fensterscheibe zu Bruch ging und überall Glassplitter und Teile des Fensterkreuzes durch die Gegend flogen.

Als er aufschaute, sah er den Vogel auf dem Ast eines nahen Baumes niedergehen. Er schlug die Krallen um den Ast, geriet ins Stolpern, packte erneut zu und hatte endlich Halt gefunden. Er schien verletzt.

Dalton warf sein Schwert auf den Schreibtisch und riss eine Lanze aus dem Arrangement der anderischen Schlachtstandarten. Vor Anstrengung ächzend, schleuderte er die Lanze durch das zertrümmerte Fenster auf den Vogel.

Der Rabe erkannte jedoch seine Absicht und flog mitsamt Buch auf, sodass die Lanze ihn nur knapp verfehlte. Der Vogel verschwand im frühen Morgenhimmel.

»Gut, du hast ihn nicht getötet«, meinte Franca. »Das hätte Unglück bedeutet.«

Dalton, das Gesicht gerötet, deutete auf den Schreibtisch. »Er hat das Buch gestohlen!«

Franca zuckte mit den Achseln. »Raben sind eigenartige Vögel. Sie stehlen oft Dinge, die sie dann jeweils ihrem Männchen oder Weibchen bringen. Sie sind ihr Leben lang mit ihrem Partner zusammen.«

Dalton zupfte an seinen Kleidern und richtete sie. »Was du nicht sagst.«

»Aber gewöhnlich betrügt das Weibchen das Männchen. Manchmal, wenn das Männchen unterwegs ist, um Zweige für ihr Nest zu sammeln, lässt es sich von einem anderen Männchen begatten.«

»Tatsächlich?«, meinte er verdrießlich. »Und warum sollte mich das kümmern?«

Franca zuckte erneut mit den Achseln. »Ich fand es nur ganz interessant und dachte, es würde dich vielleicht interessieren.« Sie trat näher und begutachtete den Schaden am Fenster. »War das Buch wertvoll?«

Dalton bürstete sich vorsichtig Glassplitter von den Schultern. »Nein. Zum Glück war es bloß ein nutzloses altes Buch, geschrieben in einer längst ausgestorbenen Sprache, die heutzutage kein Mensch mehr versteht.«

»Ah«, meinte sie. »Na, dann hat es wenigstens etwas Gutes. Du solltest froh sein, dass es nicht wertvoll war.«

Dalton stemmte die Hände in die Hüften. »Sieh dir dieses Chaos an. Sieh dir das bloß an.« Er hob ein paar schwarze Federn auf und warf sie aus dem zersplitterten Fenster. Dann entdeckte er den dunkelroten Fleck auf seinem Schreibtisch. »Wenigstens hat er mit seinem Blut für seine Beute bezahlt.«

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