Sie breitete die Flügel aus und trug mit voller Stimme singend die düsteren Verse einer Geschichte vor, die älter war als jeder Mythos.
Vom Ort ihres Weilens, dem Reiche der Toten,
Kommen Visionen von eiskalter Pracht
Sie verlangen den Preis als grimmige Boten
Des verwunschenen Zaubers, der zum Dieb sie macht
Es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Verlockend im Äuß’ren, doch selten erblickt
Treiben im Wind sie als glühendes Funkeln
Schüren mit Zweigen der Königin Glut geschickt
Andre erobern das Dunkel
Es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Sie rufen so manche und küssen zuhauf
Als trieben sie dahin auf den Wogen
Sie kommen entschlossen und beharren darauf:
Ein jeder berühre sein Grab im Erdboden
es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Sie ziehen zur Jagd und sammeln zum Tanze
Ihren finstren Gelüsten gehen sie nach
Sie sprechen den Bann, bewirken die Trance
schüren aufs neue der Königin Feuer danach
es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Bis er die Wasser zerteilt
und die Glocken zum dritten Mal grüßen
Bis ihm der Ruf enteilt
und das Opfer, die Seele, muß büßen
es grüßen dreifach die Glocken, und Tod trifft den Berg.
Sie zaubern und tanzen
Sie wollen ihn preisen
Doch er bittet sie huldvoll
Verlangt eine Seele
Die Glocken verstummen, der Berg tötet alle
Und der Berg wird allen zum Grab.
Mit einem unfaßbar lang anhaltenden Ton beschloß die junge Frau ihren berückenden Gesang. Die Gäste brachen in Beifall aus.
Es war eine altertümliche, lyrische Dichtung von Joseph Ander, die allein aus diesem Grund bereits sehr beliebt war. Früher einmal hatte Dalton in den alten Texten geblättert, um herauszufinden, was sich dem Lied an Bedeutung abgewinnen ließe, hatte jedoch nichts entdecken können, was Licht auf den eigentlichen Sinn des Textes geworfen hätte, der – da es sich um eine Anzahl verschiedener Versionen handelte – nicht immer derselbe war. Es gehörte zu jenen Liedern, die niemand recht verstand, die aber trotzdem jeder in Ehren hielt, weil es sich offenkundig um einen großen Erfolg eines der geliebten, ehrwürdigen Gründungsväter ihres Landes handelte. Der Tradition zuliebe wurde die einem nicht mehr aus dem Kopf gehende Melodie zu besonderen Anlässen vorgetragen.
Aus irgendeinem Grund konnte Dalton sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, daß der Text jetzt eine größere Bedeutung für ihn hatte als jemals zuvor. Fast schien er auf seltsame Weise beinahe schlüssig zu sein. So rasch wie dieser Eindruck sich einstellte, so schnell war das Gefühl, da er mit seinen Gedanken woanders war, auch wieder verflogen.
Die langen Ärmel der Frau schleiften über den Boden, als sie die Arme ausbreitete und sich erst vor dem Herrscher und dann noch einmal vor den applaudierenden Menschen an der Ehrentafel neben der Tafel des Herrschers verbeugte. Ein Baldachin aus Seide und Goldbrokat lief an der dahinterliegenden Wand hinauf und breitete sich dann in wallenden Falten über die beiden Ehrentafeln. Die Ecken des Baldachins wurden von übergroßen anderischen Lanzen gestützt. Das sollte den Eindruck erwecken, die Ehrentafeln stünden auf einer Bühne – was, vermutete Dalton, in gewisser Weise sogar zutraf.
Die Sängerin verneigte sich vor den Speisenden an den langen Tischreihen parallel zu den beiden Seiten des Speisesaales. Ihre Ärmel waren mit den gescheckten Federn der Schnee-Eule besetzt, so daß sie, sobald sie die Arme ausbreitete, sich in eine beflügelte Frau zu verwandeln schien, ein Wesen aus einer jener altertümlichen Geschichten, die sie vorgetragen hatte.
Stein, auf der anderen Seite des Ministers und seiner Frau, applaudierte teilnahmslos; zweifellos stellte er sich die Frau ohne ihr Federkleid vor. Rechts von Dalton unterlegte Teresa ihren Applaus mit begeisterten Beifallsrufen. Dalton unterdrückte, während er klatschte, ein Gähnen.
Die Sängerin entfernte sich mit großen Schritten, die Arme hoch erhoben, um sich mit ihren Flügeln für die ihr nachklingenden Pfiffe erkenntlich zu zeigen. Nachdem sie abgegangen war, betraten vier Knappen von der gegenüberliegenden Seite den Raum, in den Händen eine Plattform, auf der ein Schiff aus Marzipan in einem Meer aus Marzipanwellen trieb. Die geblähten Segel des Schiffes sahen aus, als seien sie aus Zucker.
Der Sinn des Ganzen bestand in der Ankündigung, beim nächsten Gang werde es sich um Fisch handeln, ganz so, wie der Hirsch aus Blätterteig, verfolgt von ebensolchen Hunden, die über eine Stechpalmenhecke mit einem darin verborgenen Wildschwein aus Aspik hinwegsetzten, einen der Fleischgänge und der ausgestopfte Adler mit seinen riesigen, über einer aus Karton errichteten Ansicht der Hauptstadt Fairfield ausgebreiteten Flügeln einen Geflügelgang angekündigt hatte. Eine oben auf der Galerie geschmetterte Fanfare und ein Trommelwirbel unterstrichen die Ankündigung des nächsten Ganges mit Musik.
Bislang waren fünf Gänge aufgetragen worden, jeder aus wenigstens einem Dutzend Spezialitäten bestehend. Was bedeutete, es würden noch sieben weitere folgen, jeweils mit mindestens einem Dutzend charakteristischer Speisen. Musik von Flöten, Querpfeifen und Trommeln sowie Jongleure, Troubadoure und Akrobaten unterhielten die Gäste zwischen den Gängen, während ein Baum mit kandierten Früchten die Runde um die Tische machte. Zum Entzücken aller Anwesenden wurden mechanische Pferde verteilt, deren Beinpaare sich über Kreuz in unterschiedliche Richtungen bewegen ließen.
An Fleischspeisen war alles aufgefahren worden, angefangen bei Teresas ewigem Lieblingsgericht aus Jungtieren – sie hatte drei der jungen Kaninchen verspeist –, bis hin zu Rehkitz, Schwein, Kalb sowie einem auf den Hinterbeinen stehenden Bären. Der Bär wurde von Tisch zu Tisch gerollt, an jedem Tisch wurde sein Fell, das man über den geschmorten Rumpf drapiert hatte, zur Seite gezogen, so daß die Trancheure Stücke für die Gäste herunterschneiden konnten. Geflügel gab es angefangen bei ebenjenen Spatzen, die beim Minister wegen ihrer Belebung der Lust beliebt waren, über Tauben, eine Schwanenhalspastete und Adler, bis hin zu gebackenen Reihern, denen man ihr Federkleid wieder angesteckt hatte und die mittels einer Drahtkonstruktion als Schwarm im Flug dargestellt waren.
Niemand erwartete, daß jeder eine derartige Fülle von Speisen verzehrte. Die Vielfalt sollte eine überreiche Auswahl bieten, nicht nur zur Freude der verehrten Gäste, sondern auch, um sie mit solcher Opulenz in Erstaunen zu versetzen. Ein Besuch auf dem Anwesen des Ministers für Kultur war ein Ereignis, an das man lange zurückdachte und das für viele zu einer legendären Veranstaltung wurde, von der man jahrelang sprach.
Die meisten hielten, während sie von den Speisen kosteten, ein Auge auf die Ehrentafel, wo der Minister mit zwei reichen Hintermännern saß, die er aufgefordert hatte, an seinem Tisch zu speisen, sowie auf das andere Ziel großen Interesses: den Abgesandten der Imperialen Ordnung. Stein war unter dem allgemeinen, erstaunten Getuschel über seinen kriegerischen Aufzug und den Übermantel aus menschlichen Skalps bereits vorzeitig eingetroffen. Er galt als Sensation und zog die einladenden Blicke einer Reihe von Frauen auf sich, die bei der Aussicht, einen solchen Mann in ihr Bett zu locken, weiche Knie bekamen.
Äußerlich in lebhaftem Kontrast zu dem Krieger aus der Alten Welt trug Bertrand Chanboor ein eng sitzendes, ärmelloses, wattiertes, violettes, reich mit feinen Stickereien, Goldbesatz und Silberlitzen verziertes Wams über einer schlichten kurzen Ärmeljacke. Beides zusammen verlieh seiner weichen, eher rundlichen Figur den Anschein eines männlicheren Körperbaus. Über dem niedrigen, hochgestellten Kragen des Wams’ stand eine weiße Krause. Ähnliche Rüschen schauten an Handgelenken und Hüfte hervor.
Über den Schultern von Wams und kurzer Jacke lag ein prächtiger Ausgehrock aus dunklerem Violett mit Pelzbesatz am Kragen und entlang der gesamten Vorderfront. Die weiten Ärmel wiesen unterhalb der wattierten Umschläge an den Schulterenden mit roter Seide gefütterte Schlitze auf; zwischen diesen spiralförmigen Schlitzen befanden sich von Borten unterteilte Perlenreihen.
Er gab, mit seinen wachsamen Augen, seinem ungezwungenen Lächeln – das, gleich den Augen, stets auf niemand anderes gerichtet schien als auf jene Person, mit der er gerade Blickkontakt hielt – sowie seinem Schopf dichten, ergrauenden Haars, eine stattliche Figur ab. Dies, die gesamte Erscheinung Bertrand Chanboors, oder besser gesagt, die Präsenz jener Macht, über die er als Minister für Kultur verfügte, versetzte manchen Mann in einen Zustand ehrfürchtiger Bewunderung und löste bei mancher Frau atemloses Verlangen aus.
Wenn sie nicht gerade die Tafel des Ministers im Auge behielten, warfen die Gäste verstohlene Blicke auf den angrenzenden Tisch, an dem der Herrscher, seine Frau sowie deren drei erwachsene Söhne und zwei erwachsene Töchter saßen. Niemand wagte es, den Herrscher offen anzustarren, schließlich war der Herrscher des Schöpfers Stellvertreter in der Welt des Lebendigen – sowohl ein heiliger religiöser Führer als auch der Regent ihres Landes. Viele in Anderith, Anderier und Hakenier gleichermaßen, gingen in ihrer Vergötterung des Herrschers so weit, daß sie sich klagend auf die Erde warfen und ihre Sünden bekannten, sobald seine Kutsche vorüber fuhr.
Der Herrscher, dessen Aufmerksamkeit trotz seiner nachlassenden Gesundheit nichts entging, war in ein glitzerndes, goldenes Gewand gehüllt. Eine rote Weste betonte die bauschigen Ärmel seines Aufzugs. Über seinen Schultern lag eine lange, prachtvoll bunte, bestickte Seidenstola. Leuchtend gelbe Strümpfe waren in Oberschenkelmitte mit dem unteren Rand der tränenförmig gebauschten, wattierten und mit bunten Schlitzen versehenen Kniehosen verschnürt. Juwelen hingen schwer an jedem einzelnen Finger. Der Kopf des Herrschers ruhte tief zwischen seinen herabhängenden Schultern, als laste das einen mit einer Diamantkruste überzogenen Berg zeigende Goldmedaillon so schwer auf seinem Genick, daß es ihm den Rücken beugte. Seine Hände waren mit Leberflecken, groß wie die Juwelen, übersät.
Der Herrscher hatte vier Ehefrauen überlebt. Mit liebevoller Sorgfalt tupfte ihm seine jüngste Ehefrau die Essensreste vom Kinn. Dalton bezweifelte, daß sie schon zwanzig war.
Söhne und Töchter hatten zwar ihre jeweiligen Ehegatten und Gattinnen mitgebracht, dankenswerterweise aber ihre Kinder zu Hause gelassen. Die Enkelkinder des Herrschers waren unerträgliche Blagen. Wenn die kleinen Lieblinge hemmungslos herumtobten, wagte niemand, anders als mit beifälligem Schmunzeln zu reagieren. Einige von ihnen waren beträchtlich älter als ihre neueste Stiefgroßmutter.
Hinter dem Minister, von Dalton aus gesehen, gab Lady Hildemara Chanboor in ihrem eleganten, plissierten silbernen Kleid, das ebenso tief ausgeschnitten war wie alle anderen, einen Wink mit einem einzigen Finger, woraufhin die Harfenspielerin, die zwar vor, allerdings auch unterhalb der erhabenen Plattform der Ehrentafel plaziert war, ihre leise Musik ausklingen ließ, bis es still im Saal wurde. Die Frau des Ministers führte bei dem Fest Regie.
Genau genommen war es auf ihre Regie nicht angewiesen, trotzdem bestand sie darauf, als königliche Gastgeberin dieses majestätischen und stattlichen Ereignisses betrachtet zu werden. Und so steuerte sie ab und an ihren Teil zu den Geschehnissen bei, indem sie den Finger hob, damit die Harfenspielerin im rechten Augenblick verstummte und alle um ihre gesellschaftliche Stellung wußten und diese respektierten. Die Menschen waren wie gebannt. Sie glaubten, das gesamte Fest richte sich nach Lady Chanboors Finger.
Zweifellos wußte die Harfenspielerin ganz genau, wann ihre Musik wegen eines bevorstehenden geplanten Ereignisses zu enden hatte, trotzdem wartete sie ab und hielt jenen edlen Finger im Auge, bevor sie sich traute, die ihren verstummen zu lassen. Aus Angst, das Zeichen zu verpassen, harrte sie mit schweißgesprenkelter Stirn auf Lady Chanboors erhobenen Finger.
Obwohl nach allgemeinem Bekunden eine strahlende Schönheit, war Hildemara im Gesicht und an den Gliedern eher plump, was Dalton stets an die Skulptur einer Frau erinnerte, gemeißelt von einem Künstler, dessen Leidenschaft weit größer war als sein Talent. Es war kein Werk, das man eingehender betrachten mochte.
Die Harfenspielerin nutzte die Gelegenheit der Unterbrechung und langte nach einem Becher, der auf dem Fußboden neben ihrer goldenen Harfe stand. Während sie vornübergebeugt nach dem Becher griff, verschlang der Minister ihren Busen mit den Augen und versetzte Dalton dabei einen Stoß in die Rippen, damit ihm der Anblick nicht entging.
Lady Chanboor bemerkte den abschweifenden Blick ihres Mannes, ließ sich aber nichts anmerken; das tat sie nie. Sie genoß die Macht, über die sie verfügte, und war bereit, den erforderlichen Preis dafür zu zahlen.
Waren sie jedoch unter sich, schlug Lady Chanboor gelegentlich mit irgendeinem griffbereiten Gegenstand auf Bertrand ein, wahrscheinlich aber eher wegen einer gesellschaftlichen Kränkung denn eines ehelichen Vertrauensbruchs. Sie hatte keinen triftigen Grund, Einwände gegen seine Tändeleien zu erheben, auch sie war nicht gerade treu und erfreute sich gelegentlich der verschwiegenen Gesellschaft von Liebhabern. Dalton fertigte in Gedanken eine Liste ihrer Namen an.
Dalton vermutete, ihre Partner fühlten sich, wie viele Affären ihres Gatten, von ihrer Macht angezogen und hofften, sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Die meisten Menschen hatten nicht die geringste Ahnung, was sich auf dem Anwesen abspielte, und vermochten sie sich nicht anders vorzustellen denn als treue, liebende Gattin, eine Vorstellung, die sie selbst nach Kräften förderte. Das anderische Volk verehrte sie wie die Menschen anderer Länder eine Königin.
In vielerlei Hinsicht war sie die Macht hinter dem Amt des Ministers. Sie war geschickt, gut unterrichtet, konzentriert. Während Bertrand sich oft vergnügte, erteilte sie hinter verschlossenen Türen die Befehle. Er verließ sich auf die Sachkenntnis seiner Frau, oft gab er ihr in wirtschaftlichen Dingen nach, weder interessierte es ihn, welche Schurken sie mit ihrer Protektion bedachte, noch welches kulturelle Blutbad sie hinterließ.
Was immer sie privat über ihren Gemahl denken mochte, Hildemara arbeitete hingebungsvoll am Erhalt seiner Herrschaft. Stürzte er, würde sie gewiß mit ihm stürzen. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann war Hildemara selten betrunken und beschränkte ihre Begattungsakte diskret auf mitten in der Nacht.
Dalton war nicht so unklug, sie zu unterschätzen. Sie unterhielt ihre eigenen Spinnennetze.
Die Gesellschaft verfiel in ein überrascht entzücktes Jauchzen, als ein ›Matrose‹ hinter dem Marzipanschiff hervorgesprungen kam, eine fröhliche Fischermelodie auf seiner Querflöte pfiff und sich dabei selbst auf einem an seinem Gürtel hängenden Tambourin begleitete. Wie viele andere auch, applaudierte Teresa lachend.
Sie drückte unter dem Tisch das Bein ihres Mannes. »Ach, Dalton, hast du je geglaubt, wir würden an einem so großartigen Ort wohnen, so prächtige Menschen kennenlernen und derart wundervolle Dinge zu sehen bekommen?«
»Selbstverständlich.«
Abermals lachend stieß sie ihn mit der Schulter an. Dalton beobachtete, wie Claudine an einem Tisch weiter rechts applaudierte. Links von ihm spießte Stein soeben ein Stück Fleisch auf und zog es in schamloser Manier mit den Zähnen vom Messer. Offenen Mundes kauend, verfolgte er das Programm. Es entsprach ganz offenkundig nicht der von Stein bevorzugten Art von Unterhaltung.
Servierer hatten bereits damit begonnen, die silbernen Platten mit dem Fischgang hereinzutragen. Sie trugen sie zur Anrichte hinüber, wo sie vor dem Servieren mit Soßen versehen und zurechtgemacht wurden. Der Herrscher hatte seine eigenen Diener an einem Serviertisch stehen, wo sie seine Speisen vorkosteten und zubereiteten. Mit mitgebrachten Messern schnitten sie für den Herrscher und seine Familie die erlesene obere Kruste von Brötchen und Broten herunter. Sie besaßen weitere Messer ausschließlich für das Präparieren der Vorlegeplatten, auf denen die Speisen für den Herrscher serviert wurden, und die, im Gegensatz zu den Tellern der anderen, nach jedem Gang ausgewechselt wurden. Sie hatten ein Messer für das Abschneiden, eines für das Zurechtschneiden und eines für das Anrichten auf den Platten.
Der Minister beugte sich herüber, eine Scheibe soeben in Senf getunkten Schweinefleischs in den Fingern. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, denen zufolge eine gewisse Frau den Hang verspüren könnte, unerfreuliche Lügen zu verbreiten. Vielleicht solltet Ihr der Sache nachgehen.«
Mit Daumen und Zeigefinger fischte Dalton eine in Mandelmilch eingelegte Birnenscheibe von der Platte, die er mit Teresa teilte. »Ganz recht, Minister. Das habe ich bereits getan. Sie hatte keinerlei Respektlosigkeit im Sinn.« Er warf sich die Birne in den Mund.
Der Minister zog eine Braue hoch. »Dann ist ja alles gut.«
Grinsend zwinkerte er an Dalton vorbei jemandem zu. Lächelnd neigte Teresa ihren Kopf, zum Zeichen, daß sie seinen Gruß bemerkt hatte.
»Übrigens, verehrte Teresa, habe ich Euch schon gesagt, daß Ihr heute abend ganz besonders göttlich ausseht? Euer Haar ist wundervoll – es verleiht Euch das Aussehen einer Gütigen Seele, die erschienen ist, um meiner Tafel Glanz zu verleihen. Wärt Ihr nicht mit meiner rechten Hand verheiratet, ich würde Euch später zum Tanz auffordern.«
Der Minister tanzte selten mit einer anderen als seiner eigenen Frau und, aus Gründen des Protokolls, denen von Würdenträgern auf Besuch.
»Es wäre … mir eine Ehre, Minister«, meinte Teresa, die bei den Worten ins Stammeln geriet, »und für meinen Gatten auch … da bin ich ganz sicher. Weder auf dem Tanzparkett … noch irgendwo anders … könnte ich in besseren Händen sein.«
Zwar verfügte Teresa über die Fähigkeit, sich nicht so schnell aus der Fassung bringen zu lassen, trotzdem errötete sie angesichts der Ehre, die ihr Bertrand um ein Haar hätte zuteil werden lassen. Nervös an den glitzernden, in ihr Haar geflochtenen Ziermünzen nestelnd, war sie sich der neidischen Blicke bewußt, die verfolgten, wie sie sich mit dem Minister für Kultur höchstpersönlich unterhielt.
Die finsteren Blicke hinter dem Minister verrieten Dalton, daß kein Grund zur Sorge bestand, es könnte tatsächlich zu einem solchen Tanz kommen – in dessen Verlauf der Mann sich wahrscheinlich an Teresas halb entblößten Busen schmiegen würde. Lady Chanboor würde nicht zulassen, daß Bertrand es nach außen hin an völliger Hingabe für sie fehlen ließe.
Dalton wandte sich wieder geschäftlichen Dingen zu und lenkte die Unterhaltung in die gewünschte Richtung. »Einer der Beamten aus der Stadt ist sehr beunruhigt über die Situation, von der wir soeben sprachen.«
»Was hat er gesagt?« Bertrand wußte, von welchem Direktor die Rede war, und sah klugerweise davon ab, laut irgendwelche Namen auszusprechen, in seinen Augen jedoch blitzte Ärger auf.
»Nichts«, versicherte ihm Dalton. »Allerdings ist der Mann hartnäckig. Könnte sein, daß er der Sache nachgeht – und auf Erklärungen drängt. Es gibt Leute, die sich gegen uns verschwören und nur darauf warten, ein Geschrei wegen gewisser Unschicklichkeiten auszulösen. Wenn wir gezwungen wären, uns grundloser Vorwürfe des Ehebruchs zu erwehren, käme das einer lästigen Zeitverschwendung gleich und würde uns von unserer Pflicht dem anderischen Volk gegenüber ablenken.«
»Allein die Vorstellung ist absurd«, meinte der Minister, nach außen hin ihrer eigentlichen Unterhaltung folgend. »Ihr glaubt doch nicht etwa, daß es Menschen gibt, die gegen unser gutes Werk intrigieren?«
Seine Worte klangen auswendig gelernt, so oft benutzte er sie. Simple Klugheit machte es erforderlich, Diskussionen in der Öffentlichkeit mit Bedacht zu führen. Es konnte sein, daß sich mit der Gabe gesegnete Menschen unter die Gäste gemischt hatten, die nur darauf warteten, ihre Fähigkeit zu nutzen, um etwas aufzuschnappen, das nicht für die Ohren aller bestimmt war.
Dalton selbst hatte eine Frau mit solchen Fähigkeiten in seinen Diensten.
»Wir widmen unser Leben der Arbeit für das anderische Volk«, meinte Dalton, »und doch gibt es ein paar wenige, die den Fortschritt, den wir im Namen der arbeitenden Bevölkerung erzielen, behindern möchten.«
Bertrand wählte einen gerösteten Schwanenflügel von der Platte aus, die er mit seiner Gattin teilte, und tunkte diesen in eine Schale mit einem süßem Brei aus Milch und Getreide. »Ihr glaubt also, es gibt Anstifter, die auf Ärger aus sind?«
Lady Chanboor, die der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war, beugte sich zu ihrem Gatten. »Agitatoren würden die Gelegenheit, Bertrands gutes Werk zunichte machen zu können, mit beiden Händen ergreifen. Sie wären bereit, jeden Querulanten zu unterstützen.« Dabei blickte sie scharf zum Herrscher hinüber, der von seiner jungen Frau mit den Fingern gefüttert wurde. »Wir haben wichtige Arbeiten zu erledigen und können keine Feinde gebrauchen, die sich in unsere Bemühungen einmischen.«
Bertrand Chanboor galt aus aussichtsreichster Kandidat für das Amt des Herrschers, aber er hatte Gegner. Einmal ernannt, diente der Herrscher sein ganzes Leben. Jeder Ausrutscher in diesem entscheidenden Augenblick konnte seine Ernennung gefährden. Es gab eine ganze Reihe von Personen, die sich wünschten, ihm würde ein solcher Ausrutscher unterlaufen, und die mit offenen Augen und Ohren nur darauf warteten.
War Bertrand Chanboor erst einmal zum Herrscher ernannt, wären sie aller Sorgen enthoben, bis dahin jedoch konnte nichts als gewiß oder sicher gelten.
Dalton verneigte beipflichtend den Kopf. »Ihr habt einen guten Blick für die Lage, Lady Chanboor.«
Bertrand entfuhr ein leises Grunzen. »Ich nehme an, Ihr habt einen Vorschlag.«
»Ganz recht«, erwiderte Dalton und senkte seine Stimme, bis sie kaum mehr als ein Flüstern war. Es galt als unhöflich, beim Flüstern beobachtet zu werden, es ließ sich jedoch nicht vermeiden. Er war gezwungen zu handeln, und ein Flüstern würde man nicht hören. »Meiner Ansicht nach wäre es das beste, die Dinge aus dem Gleichgewicht zu bringen. Was mir vorschwebt, wird nicht nur das Unkraut im Weizen ausreißen, sondern auch verhindern, daß neues nachwächst.«
Dalton, ein Auge auf die Tafel des Herrschers haltend, erläuterte seinen Vorschlag. Lady Chanboor richtete sich durchtrieben lächelnd auf. Daltons Ratschlag entsprach ganz ihrem Charakter. Bertrand, der beobachtete, wie Claudine mäkelnd in ihrem Essen herumstocherte, pflichtete ihm ohne jede äußerliche Regung bei.
Stein zog die Klinge seines Messers über den Tisch und tat, als durchschneide er das feine weiße Leinentuch.
»Wieso schneidet Ihr ihnen nicht einfach die Kehle durch?«
Der Minister sah sich um, ob jemand Steins Vorschlag mitbekommen hatte. Hildemara wurde rot vor Zorn. Teresa erblaßte, wenn sie solche Reden hörte, zumal von einem Mann, der einen Übermantel aus menschlichen Kopfhäuten trug.
Man hatte Stein vorgewarnt. Falls solche Bemerkungen mitgehört und weitergegeben wurden, waren sie durchaus imstande, eine Flut von Ermittlungen auszulösen, was ihnen zweifellos die Mutter Konfessor auf den Hals hetzen würde. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie die ganze Wahrheit in Erfahrung gebracht hätte, und wenn es dazu kam, war sie womöglich geneigt, den Minister mit ihrer Magie aus seinem Amt zu jagen. Und zwar für immer.
Dalton setzte einen tödlichen Blick auf und bedachte Stein mit einer stummen Drohung. Stein entblößte seine gelben Zähne und grinste breit. »War bloß ein Scherz unter Freunden.«
»Es ist mir vollkommen egal, wie groß die Streitmacht der Imperialen Ordnung ist«, knurrte der Minister, an die Ohren all jener gerichtet, die Steins Bemerkung womöglich mitbekommen hatten. »Solange sie nicht zum Durchmarschieren aufgefordert werden – worüber noch zu entscheiden wäre –, werden sie alle durch die Dominie Dirtch zugrunde gehen. Der Kaiser ist sich darüber voll und ganz im klaren, sonst bäte er uns nicht, sein großzügiges Friedensangebot zu überdenken. Er wäre sicherlich alles andere als erfreut zu erfahren, daß einer seiner Männer unsere Kultur mitsamt den Gesetzen, nach denen wir leben, beleidigt.
Ihr seid hier als Abgesandter von Kaiser Jagang, um unserem Volk den Standpunkt und die großzügigen Angebote des Kaisers zu erläutern – mehr nicht. Falls erforderlich, können wir auch einen anderen für diese Erläuterungen herbitten.«
Stein reagierte mit einem Schmunzeln auf die Aufregung, die ihm entgegenschlug. »Ich habe selbstverständlich nur Spaß gemacht. Solch leeres Gerede ist bei meinem Volk üblich. Wo ich herstamme, sind solche Bemerkungen ebenso alltäglich wie harmlos. Seid versichert, sie sollten allein der Belustigung dienen.«
»Hoffentlich habt Ihr die Absicht, Euch eines besseren Tons zu befleißigen, wenn Ihr zu unserem Volk sprecht«, meinte der Minister. »Es ist eine ernsthafte Angelegenheit, die zu besprechen Ihr hergekommen seid. Die Direktoren werden einen derart kränkenden Humor gar nicht zu schätzen wissen.«
Stein entfuhr ein derber Lacher. »Meister Campbell hat in der Tat bereits erklärt, wie unduldsam Eure Kultur auf derart ungehobelte Scherze reagiert. Es ist wohl auf mein ungehobeltes Wesen zurückzuführen, daß mir seine klugen Worte längst entfallen sind. Bitte verzeiht die schlechte Wahl meines Scherzes. Ich hatte nicht die Absicht, jemanden zu kränken.«
»Nun, also gut.« Bertrand lehnte sich zurück, während sein aufmerksamer Blick über die Gäste wanderte. »Alle Menschen in Anderith betrachten Brutalität mit Skepsis und sind derartige Bemerkungen und erst recht ein dementsprechendes Verhalten nicht gewöhnt.«
Stein neigte den Kopf. »Ich werde die vorbildlichen Sitten Eurer großen Kultur noch kennenlernen müssen. Ich freue mich auf die Gelegenheit, Eure edleren Sitten und Gebräuche zu erlernen.«
Diesen präzise entwaffnenden Worten war es zu verdanken, daß der Mann in Daltons Einschätzung stieg. Steins ungepflegtes Haar täuschte. Was sich darunter befand, war längst nicht so ungeordnet.
Falls Lady Chanboor den beißenden Sarkasmus in Steins schlagfertiger Antwort bemerkt hatte, so ließ sie sich davon nichts anmerken, als sie ihr Gesicht entspannte und es seinen üblichen süßsauren Zug annahm. »Dafür haben wir Verständnis, und wir bewundern Euer ernsthaftes Bemühen, Gebräuche zu lernen, die Euch zweifellos … fremd erscheinen müssen.« Mit den Fingerspitzen schob sie Stein seinen Kelch hin. »Bitte, so kostet doch von unserem ausgezeichneten Wein aus dem Nareeftal. Wir sind hier alle ganz verrückt danach.«
Lady Chanboor mochte der feine Sarkasmus in Steins Worten entgangen sein, auf Teresa traf dies allerdings ganz und gar nicht zu. Im Gegensatz zu Hildemara hatte Teresa einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens mit Scharmützeln an der vordersten Front der weiblichen Gesellschaft zugebracht, wo Worte wie Waffen geschwungen wurden, mit denen man blutige Wunden schlug. Je höher das Niveau der Auseinandersetzung, desto gewetzter waren die Klingen. Man mußte überaus erfahren sein, wenn man wissen wollte, ob man getroffen war und blutete oder ob die Wunde umso größer war, weil die anderen sie deutlich sahen, während man selber nichts davon bemerkte.
Hildemara war auf die Klinge ihres Verstandes nicht angewiesen, ihr Schutz war unverfälschte Macht. Anderische Generäle griffen nur selten zum Schwert.
Während sie das Ganze tunlichst fasziniert verfolgte, nahm Teresa einen kleinen Schluck, als Stein seinen Becher hochriß und in langen Zügen trank.
»Er ist gut. Ich möchte sogar behaupten, es ist der Beste, den ich je gekostet habe.«
»Es freut uns, die Meinung eines so weit gereisten Mannes zu hören«, erwiderte der Minister.
Stein knallte seinen Becher auf den Tisch. »Ich habe genug gegessen. Wann kann ich endlich loswerden, was ich auf dem Herzen habe?«
Der Minister zog eine Braue hoch. »Sobald die Gäste mit Speisen fertig sind.«
Erneut grinsend spießte Stein ein Stück Fleisch auf und lehnte sich zurück, um es von der Messerspitze zu nagen. Kauend erwiderte er dreist die schwülen Blicke, mit denen er von einigen der Frauen bedacht wurde.