Hildemaras Gesicht war aschfahl. »Jagangs Männer werden dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen, Bertrand, und ich werde mit Entzücken dabei zusehen. Meine einzige Sorge ist nur, dass du für mich ein ähnliches Schicksal ausersehen hast!«
Bertrand hob abwiegelnd die Hand. »Unsinn, meine Liebe. Vielmehr ist es mir gelungen, die Mutter Konfessor und Lord Rahl hinzuhalten, während Jagangs Truppen immer näher rücken.«
Diesmal neigte Dalton dazu, Hildemara Recht zu geben. Was immer man gegen sie vorbringen mochte, sie war eine brillante Strategin. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde das Volk, zumindest die Hakenier, sich eher für die Freiheiten des Reiches von Lord Rahl entscheiden, als sich freiwillig der Tyrannei der Imperialen Ordnung zu unterwerfen.
Dalton wusste aber auch, dass hinter Bertrands selbstzufriedenem Grinsen noch etwas anderes stecken musste. Der Mann verfügte über das unheimliche Geschick, Dinge kalt und taktisch zu berechnen, ohne sich gefühlsmäßig von dem gewünschten Ergebnis abhängig zu machen, was das Aufgehen der Gleichung gefährden würde. Bertrand sprang nur, wenn er wusste, dass er den Abgrund überbrücken konnte. Er sprang nicht einfach nur, weil er den Wunsch danach verspürte.
Dank seiner umfassenden Kenntnisse des Rechts wusste Dalton, dass nur wenige Waffen einen Widersacher so wirkungsvoll zur Bedeutungslosigkeit verdammen konnten, wie es die schlichte Taktik der Verzögerung vermochte. Er hoffte nur, dass Bertrand keine Waffe schwang, die statt dem Feind ihnen selbst zum Verhängnis wurde.
»Ich fürchte, Minister, das könnte schwierig werden. Es ist vollkommen richtig, Lord Rahl hinzuhalten, aber nur, wenn er dadurch keine Gelegenheit erhält, die Bevölkerung gegen die Imperiale Ordnung aufzuhetzen und stattdessen für sich zu gewinnen. Wenn es dazu kommt, können wir unsere Vereinbarungen nicht erfüllen. Wir befänden uns dann im Mittelpunkt der kriegerischen Auseinandersetzungen.«
»Und Jagang würde ein Exempel statuieren, um den anderen zu zeigen, was mit all denen geschieht, die nicht wie versprochen liefern«, setzte Hildemara hinzu.
Bertrand nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher, den er in das private Arbeitszimmer mitgebracht hatte. Er stellte den silbernen Becher auf einer kleinen marmornen Tischplatte ab und genoss den Geschmack des Rums, bevor er ihn hinunterschluckte.
»Meine liebe Gemahlin, mein vertrauter Adjutant, erkennt ihr beide nicht die schlichte Brillanz, die darin liegt? Wir werden sie hinhalten, damit die Imperiale Ordnung genügend Zeit hat, hierher zu kommen. Sie hinhalten, bis es zu spät für sie ist, etwas Wirkungsvolles zu unternehmen. Könnt Ihr Euch zu allem Überfluss vorstellen, wie dankbar Jagang sein wird, wenn wir ihm seinen ärgsten Feind ausliefern?«
»Und wie willst du das schaffen?«, wollte seine Gemahlin wissen.
»Ein Monat dieser Wählerei, und die Imperiale Ordnung wird in der Lage sein, ihre Vorhut zu positionieren; anschließend können sie die Dominie Dirtch ganz nach eigenem Gutdünken in ihre Gewalt bringen. Die Streitkräfte des Lord Rahl – selbst wenn er sie in seiner Nähe haben sollte – werden ihm und der Mutter Konfessor nicht mehr zu Hilfe eilen können, sobald sie die Unterstützung aus dem Volk verloren haben. Jagang wird unbesiegbar sein.
Der Kaiser bekommt wie versprochen ein Land sowie das Volk, es zu bewirtschaften, und wir erhalten dafür, dass wir es ihm überreichen, eine stattliche Belohnung. Wir werden über uneingeschränkte Macht verfügen. Keine Direktoren mehr, über die man sich sorgen müsste – nie mehr. Wir werden Anderith auf Lebenszeit regieren, wie es uns passt, ohne uns über Widerstand sorgen zu müssen.«
Das Leben für das anderische Volk würde weitergehen, das wusste Dalton. Das Leben vieler würde, sobald sie dem höheren Wohl der Imperialen Ordnung dienten, weitgehend noch dasselbe sein, wenn auch ärmer. Es würde zu den unvermeidbaren Erschütterungen und Todesfällen kommen. Manch einer würde verschleppt werden, damit er dem Kaiser diente. Die meisten würden dankbar sein, einfach nur zu leben.
Dalton dachte darüber nach, wie sein eigenes Schicksal aussehen würde, wäre er nicht zum vertrauten Adjutant des Ministers aufgestiegen und somit aufgrund von Stellung und Zwangsläufigkeiten in die Geschichte hineingezogen worden. Ihm schauderte bei der Vorstellung, was aus Teresa geworden wäre.
»Vorausgesetzt, er hält sich tatsächlich an seine Vereinbarungen«, murmelte Hildemara.
»Der Kaiser wird geradezu erfreut sein, sich an unsere Vereinbarungen zu halten, denn seine Streitkräfte werden über einen Platz verfügen, wo sie vor Angriffen sicher sind«, meinte Bertrand. »Was er uns als Gegenleistung versprochen hat, wenn wir dafür sorgen, dass die Bevölkerung Anderiths schuftet, wie sie es gegenwärtig tut, übersteigt bei weitem unsere Möglichkeit, es jemals auszugeben; verglichen mit dem, was er hinzugewinnt, ist es für ihn jedoch kaum mehr als ein Almosen. Wir müssen lediglich dafür Sorge tragen, dass die Imperiale Ordnung bei ihrer Eroberung der Midlands mit Lebensmitteln versorgt wird. Dafür wird er mehr als gerne wie vereinbart zahlen.«
Lady Chanboor schnaubte verärgert. »Aber wenn Lord Rahl die Menschen dazu bringt, für einen Anschluss mit ihm zu stimmen, wird das kein gutes Ende nehmen.«
Bertrand entfuhr ein frohlockendes Lachen. »Du beliebst zu scherzen. Das, meine Liebe, ist das Einfachste an der ganzen Geschichte.«
Sie verschränkte die Arme, als verlangte sie eine Erklärung.
Dalton bereitete dieser Punkt ebenfalls Sorge. »Ihr habt also nicht die Absicht, es zu dieser Abstimmung kommen zu lassen?«
Bertrands Blick wanderte von einem zum anderen.
»Begreift ihr nicht? Eine solche Abstimmung würden wir mühelos zu unseren Gunsten entscheiden.«
»Vielleicht bei den Anderiern«, versetzte sie, »aber bei den Hakeniern? Willst du unser Schicksal etwa in die Hände der Hakenier legen? Die uns zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen sind? Sie werden sich für die Freiheit entscheiden.«
»Wohl kaum. Die Hakenier werden unwissend gehalten. Es mangelt ihnen an den geistigen Fähigkeiten, die Problematik zu begreifen. Sie sind fest überzeugt, nur durch unser Wohlwollen irgend etwas bekommen zu können, sei dies Arbeit oder Lebensmittel oder auch einen Platz in der Armee. Sie glauben, ihre Freiheiten, die Hoffnungen, die sie hegen, können ihnen nur von Anderiern gewährt werden. Zur Freiheit gehört Verantwortung – und das ist nicht der einfache Weg, den sie bevorzugen.«
Seine Gemahlin schien unbeeindruckt. »Wie kannst du da so sicher sein?«
»Wir werden Sprecher vor das Volk treten lassen, die händeringend und unter Tränen ihrer tiefen Angst darüber Ausdruck verleihen, was den Menschen in der Gewalt des brutalen d’Haranischen Reiches widerfahren wird, in den Händen eines gleichgültigen Lord Rahl, der keine Ahnung hat von ihren Bedürfnissen als Hakenier und dem nur an seiner dunklen Magie gelegen ist. Das hakenische Volk wird sich so sehr ängstigen, die paar Krumen zu verlieren, die wir ihnen zugestehen, dass sie vor dem zum Greifen nahen Laib zurückschrecken werden – wir müssen sie nur glauben machen, dieser Laib sei Gift.«
Dalton drehte sich bereits der Kopf vor Überlegungen, wie sich der Plan des Ministers durchführen ließe. Welche Möglichkeiten sich dadurch tatsächlich boten, ging ihm erst allmählich auf.
»Wir müssen überlegen, wie wir es richtig einfädeln«, meinte Dalton. »Am besten halten wir uns ganz im Hintergrund.«
»Genau mein Gedanke.«
»Ja…«, machte Hildemara gedehnt, als sie es sich, ganz angetan, vorzustellen begann. »Wir müssen so tun, als wendeten wir uns Rat suchend an das Volk statt umgekehrt.«
»Andere werden die Worte verkünden, die wir ihnen vorgeben«, sagte Bertrand mit einem Nicken in ihre Richtung. »Wir müssen um jeden Preis darüber erhaben bleiben – und so tun, als seien uns durch unser nobles Festhalten an der Anständigkeit die Hände gebunden, während unser Schicksal in der Hand der Weisheit des Volkes liegt – als würden wir dieses Prinzip und seine Wünsche über alles stellen.«
»Ich verfüge über Leute, die genau den richtigen Ton treffen dürften.« Dalton fuhr sich mit dem Finger unter der Unterlippe entlang. »Wo immer Lord Rahl hingeht, müssen unsere Sprecher ihm folgen und die Botschaft überbringen, die wir ausgearbeitet haben.«
»Sehr richtig«, meinte Bertrand. »Eine Botschaft, die eindringlicher, durchdringender und beängstigender ist.«
Tief in Gedanken, während er versuchte, sich die Strategie in allen Einzelheiten vorzustellen, schwenkte Dalton einen Finger hin und her.
»Lord Rahl und die Mutter Konfessor werden rasch und verärgert Klage erheben, wenn sie etwas Derartiges vermuten. Im Grunde wäre es besser, sie erführen gar nicht erst, was man den Leuten erzählt – zumindest anfangs nicht. Unsere Botschaften dürfen erst unter die Leute gebracht werden, wenn sie zum nächsten Ort weitergereist sind.
Sollen sie doch den Leuten Hoffnungen machen. Anschließend kommen wir und entlarven die Hoffnung, die sie erwecken, als Lüge und treiben ihnen diese Hirngespinste durch Einschüchterung aus.«
Dalton wusste, wie leicht sich die Gedanken der Menschen mit den richtigen Worten beeinflussen ließen, vor allem, wenn sie durch andere Dinge abgelenkt waren und Widersprüche sie verwirrten.
»Wenn das geschickt gemacht wird, werden wir bei den Menschen weitgehend auf Zustimmung stoßen, während wir sie zur gleichen Zeit betrügen.« Endlich lächelte Dalton. »Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden sie uns noch jubelnd dazu ermutigen.«
Bertrand nahm noch einen kräftigen Schluck Rum. »Jetzt denkt Ihr endlich wie der Mann, den ich angeheuert habe.«
»Aber wenn die Menschen sein Angebot ablehnen«, sagte Hildemara, »wird Lord Rahl zweifellos verärgert auf seine Niederlage reagieren: Er wird zu Gewalt greifen.«
»Möglich.« Bertrand stellte den Becher fort. »Doch bis dahin hat die Imperiale Ordnung die Dominie Dirtch bereits eingenommen, und für Lord Rahl ist es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Er und die Mutter Konfessor werden auf sich gestellt sein, ohne auf Verstärkung hoffen zu können.«
»Er und die Mutter Konfessor werden in Anderith in der Falle sitzen…« Endlich lächelte auch sie und ballte ihre krallenbewehrten Finger zu einer Faust. »Und Jagang wird sie in seine Gewalt bekommen.«
Bertrand feixte. »Und uns dafür belohnen.« Er wandte sich zu Dalton. »Wo wurden die d’Haranischen Truppen einquartiert?«
»Zwischen hier und Fairfield.«
»Gut. Sorgt dafür, dass Lord Rahl und die Mutter Konfessor alles bekommen, was immer sie auch begehren. Sie sollen tun und lassen können, was immer ihnen beliebt. Wir müssen uns überaus entgegenkommend zeigen.«
Dalton nickte. »Sie haben den Wunsch geäußert, die Bibliothek aufzusuchen.«
Bertrand griff abermals nach seinem Becher. »Wunderbar. Stellt sie ihnen zur freien Verfügung – findet heraus, was sie wollen. Es gibt in der Bibliothek nichts, das ihnen irgendwie von Nutzen sein könnte.«
Richard drehte sich nach dem Lärm um.
»Verschwinde!«, schrie Vedetta Firkin. Die alte Frau fuchtelte mit den Armen und fügte der bereits geäußerten verbalen Drohung eine handgreifliche hinzu. »Verschwinde, du Dieb!«
Der Rabe draußen auf dem vor dem Fenstersims angebrachten Brett sprang hin und her, flatterte mit den Flügeln und bekundete lauthals sein Missfallen über sie. Sie sah sich um und schnappte sich einen Stock, der griffbereit an der Wand lehnte, um das Fenster daneben abzustützen, wenn es geöffnet war. Den Stock wie ein Schwert schwingend, lehnte sie sich aus dem offenen Fenster und schlug nach dem Raben. Mit ausgebreiteten Flügeln, das Halsgefieder zerzaust, die Federn auf dem Kopf wie Hörner aufgestellt, wich er hüpfend zurück und kreischte sie an.
Sie schlug erneut nach dem großen schwarzen Vogel. Diesmal unternahm der Rabe einen strategischen Rückzug auf einen nahen Ast. Aus dieser gesicherten Stellung heraus ließ er eine heftige Schimpfkanonade vom Stapel. Sie schlug das Fenster zu.
Vedetta Firkin drehte sich um, stellte den Stock an seinen Platz zurück und wischte sich triumphierend die Hände ab. Erhobenen Hauptes wandte sie sich wieder menschlichen Belangen zu.
Richard und Kahlan hatten beim Betreten der Bibliothek mit ihr gesprochen, um ihr die Befangenheit zu nehmen. Richard hatte sich lieber ihrer Zusammenarbeit versichern wollen, statt sie auf den Gedanken zu bringen, es sei womöglich ihre Pflicht, irgendwelche Bücher vor ihnen zu verstecken. Sie hatte auf die zwanglose, freundliche Art der beiden sehr vielversprechend reagiert.
»Verzeiht«, raunte sie mit gesenkter Stimme, als wollte sie ihr Geschrei wieder gutmachen. Sie näherte sich Richard und Kahlan mit trippelnden Schritten. »Ich habe das Brett am Fenstersims angebracht und Körner für die Vögel darauf gestreut, aber ständig kommen diese widerwärtigen Raben und fressen die Körner weg.«
»Raben sind auch Vögel«, meinte Richard.
Die Frau richtete sich leicht verwirrt auf. »Ja, aber – es sind halt Raben. Die reinste Plage. Erst stehlen sie sämtliche Körner, und dann kommen die süßen kleinen Singvögel nicht mehr. Dabei liebe ich Singvögel so sehr.«
»Verstehe«, meinte Richard lächelnd, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte.
»Jedenfalls, Lord Rahl, Mutter Konfessor, die Störung tut mir Leid. Ich wollte nur nicht, dass diese krakeelenden Raben Euch behelligen, wie sie es ganz bestimmt getan hätten. Am besten verscheucht man sie sofort. Ich werde von jetzt an dafür sorgen, dass Ihr Eure Ruhe habt.«
Kahlan hob den Kopf und blickte die Frau lächelnd an. »Vielen Dank, Madame Firkin.«
Sie wollte sich schon umdrehen, als sie kurz zögerte. »Verzeiht, dass ich das sage, Lord Rahl, aber Ihr habt ein wundervolles Lächeln. Es erinnert mich so sehr an das Lächeln eines Freundes.«
»Tatsächlich? Wer ist es denn?«, fragte Richard gedankenverloren.
»Ruben…« Sie wurde rot. »Er ist ein ehrenwerter Freund.«
Richard zeigte ihr das Lächeln, das ihr so sehr gefiel. »Ihr habt ihm bestimmt allen Grund gegeben, Euch anzulächeln, Madame Firkin.«
»Ruben«, murmelte Kahlan kaum hörbar, als die Frau schon gehen wollte. »Das erinnert mich an Zedd. Diesen Namen hat er früher gelegentlich benutzt.«
Richard seufzte, als er voller Sehnsucht an seinen verschollenen Großvater dachte. »Ich wünschte, der alte Mann wäre jetzt hier«, meinte er leise zu Kahlan.
»Wenn Ihr etwas braucht«, sagte Vedetta Firkin über ihre Schulter, während sie sich schlurfend entfernte, »zögert bitte nicht, danach zu fragen. Ich kenne mich mit der Kultur Anderiths, mit unserer Geschichte, ziemlich gut aus.«
»Ja, vielen Dank«, rief Richard der Frau hinterher und nutzte die Gelegenheit, als sie ihnen den Rücken zukehrte, Kahlans Bein unter dem Tisch vertraut zu drücken.
»Richard«, sagte Kahlan, »konzentriere dich auf die Arbeit.«
Richard tätschelte ihr besänftigend den Schenkel. Ohne ihre süße Wärme so dicht neben sich fiele es ihm leichter, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Er klappte das Buch zu und zog ein anderes heran, schlug den alten Band mit dem städtischen Register auf und überflog ihn auf der Suche nach irgend etwas, was entfernt brauchbar aussah.
Sie hatten nicht gerade eine Fülle von Informationen gefunden, aber trotzdem genug entdeckt, um ein paar Fakten zusammenzustellen, die sich vielleicht als nützlich erweisen würden. Wie sich herausstellte, lohnte die Bibliothek zweifellos seine Mühe, denn allmählich entwickelte er ein anfangs nicht vorhandenes Gespür für diesen Ort. Es handelte sich tatsächlich um eine Bibliothek der Kultur. Richard bezweifelte, dass viele Menschen aufgrund ihrer Geisteshaltung und erklärten Überzeugungen auch nur eine verschwommene Vorstellung von der unverständlichen Geschichte direkt vor ihrer Nase hatten, die sich unmittelbar vor ihren Augen verbarg.
Er gelangte zunehmend zu der Erkenntnis, dass ein großer Teil des alten Anderith vor der Zeit der Hakenier von einer Führung profitierte, die die Entwicklung der Bevölkerung damals in den Schatten stellte. Jemand hatte seine schützende Hand über sie gehalten.
Anhand alter Lieder und Gebete, deren Niederschrift er gefunden hatte, sowie späterer Berichte über die Ehrfurcht, mit dem man diesem sorgsam wachenden Schutzherrn begegnete, vermutete Richard, dass es sich um die Handschrift Joseph Anders handelte. Eine solche Bewunderung würde zu Kolos Beschreibung dieses Mannes passen. Viele dieser wundersamen Unterweisungen waren möglicherweise das Werk eines Zauberers, wie Richard erkannte. Nach Anders Ableben glichen die Menschen Waisenkindern, die ohne den Beistand der Idole, die sie nach wie vor verehrten, die ihnen jedoch nicht mehr antworteten, verloren waren. Verwirrt und hilflos waren sie Kräften ausgeliefert, die sie nicht begriffen.
Richard lehnte sich zurück, räkelte sich und gähnte. Die alten Bücher erfüllten die Bibliothek mit einem muffigen Geruch; dieser war, ähnlich wie lange verborgene Geheimnisse, recht interessant, insgesamt jedoch nicht unbedingt angenehm. Nach einer Weile begann er sich nach der frischen, sonnendurchströmten Luft jenseits der Fenster ebenso zu sehnen wie nach einer Auflösung des lange verborgenen Rätsels.
Ganz in der Nähe hatte Du Chaillu es sich bequem gemacht, liebevoll mit der Hand ihr ungeborenes Baby streichelnd, während sie ein Buch mit verschlungenen Verzierungen auf vielen Seiten betrachtete. Dort gab es Zeichnungen kleiner Tiere: Frettchen, Wiesel, Wühlmäuse, Füchse und Ähnliches. Sie konnte nicht lesen, aber das Buch mit seinen Zeichnungen brachte sie immer wieder zum Schmunzeln. Etwas Vergleichbares hatte sie bislang nicht zu Gesicht bekommen. Richard konnte sich nicht erinnern, ihre dunklen Augen jemals derart funkeln gesehen zu haben. Sie strahlte wie ein kleines Kind.
Nicht weit entfernt saß Jiaan untätig herum. Zumindest erweckte der Meister der Klinge einen recht überzeugenden Anschein von Untätigkeit. Richard wusste, dass er nur deshalb unauffällig wirken wollte, weil er auf diese Weise alles beobachten konnte. Ein halbes Dutzend d’Haranischer Soldaten schlenderte durch den Saal. Auch anderische Gardisten gab es, an den Eingangstüren.
Einige der anderen Anwesenden hatten die Bibliothek augenblicklich verlassen, weil sie befürchteten, sie könnten die Mutter Konfessor und Lord Rahl stören. Einige wenige waren geblieben, Spione, wie Kahlan ihm gegenüber angedeutet hatte, die man geschickt hatte, um sie zu beobachten. Zu dieser Einschätzung war er mittlerweile ebenfalls gelangt.
Er traute dem Minister ebenso wenig wie Kahlan. Seit das Thema Anderith zum ersten Mal aufgekommen war, hatte ihre offenkundige Abneigung für dieses Land seine Betrachtungsweise einseitig beeinflusst. Der Minister für Kultur hatte nichts getan, um diesen Eindruck zu entkräften, was Kahlans Warnungen vor diesem Mann zusätzliches Gewicht verlieh.
»Hier«, sagte Richard, auf die Seite tippend. »Hier steht es wieder.«
Kahlan beugte sich herüber und warf einen Blick darauf. Sie machte ein Geräusch tief in ihrer Kehle, als sie den Namen erkannte: Westbrook.
»Der Eintrag hier bestätigt, was wir bereits früher gefunden haben«, erklärte Richard.
»Ich kenne den Ort. Es handelt sich um eine kleine Stadt. Soweit ich mich erinnere, ist dort nicht viel zu sehen.«
Richard hob den Arm und versuchte die Aufmerksamkeit der alten Frau auf sich zu lenken. Sie kam sofort herbeigeeilt.
»Ja, Lord Rahl? Kann ich Euch behilflich sein?«
»Madame Firkin, Ihr sagtet, Ihr wüsstet eine Menge über die Geschichte Anderiths.«
»O ja, das stimmt. Das ist mein Lieblingsthema.«
»Nun, ich bin an mehreren Stellen auf einen Ort namens Westbrook gestoßen. Dort heißt es, Joseph Ander habe früher dort gelebt.«
»Ja, das stimmt. Er liegt oben in den Ausläufern der Berge. Oberhalb des Nareef-Tales.«
Das hatte Kahlan ihm bereits erklärt, trotzdem war es gut zu wissen, dass die Frau sie weder zu täuschen versuchte, noch ihnen Informationen vorenthielt.
»Und gibt es dort noch irgendwas von ihm zu sehen? Dinge, die ihm gehört haben?«
Sie lächelte begeistert, offenkundig freute sie sich, dass er etwas über Joseph Ander wissen wollte, jenen Mann, der ihrem Land seinen Namen gegeben hatte. »Nun ja, es gibt dort eine kleine Gedenkstätte, die Joseph Ander gewidmet ist. Die Menschen können sich dort den Stuhl ansehen, den er damals benutzte, sowie ein paar andere kleine Gegenstände.
Das Haus, in dem er wohnte, ist erst vor kurzem niedergebrannt – es war ein entsetzliches Feuer –, einige der Gegenstände konnten jedoch gerettet werden, weil man sie für die Zeit der Reparaturarbeiten am Haus fortgeschafft hatte. Immer wieder drang Wasser ein und vernichtete Gegenstände. Der Wind riss Dachziegel heraus. Äste von Bäumen – es müssen wohl Äste gewesen sein – zerbrachen die Fenster, woraufhin der Wind ziemlich heftig hineinblies und Regen hineinwehte und alles durchnässte. Eine Menge seiner wertvollen Besitztümer ging auf diese Weise verloren. Anschließend brannte das Feuer – durch einen Blitz, wie die Leute glauben – das Haus bis auf die Grundmauern nieder.
Aber ein paar seiner Sachen wurden, wie ich schon sagte, gerettet, weil sie sich wegen der Reparaturarbeiten – vor dem Brand – nicht im Haus befanden. Und jetzt hat man diese Dinge ausgestellt, damit die Leute sie sich anschauen können. Sogar den Stuhl, auf dem er damals gesessen hat.«
Sie beugte sich herunter. »Und, was am interessantesten für mich war, auch einige seiner Schriften sind unversehrt geblieben.«
Richard setzte sich gerader hin. »Schriften?«
Sie nickte mit ihrem grauen Kopf. »Ich hab sie alle gelesen. Ist nichts wirklich Wichtiges dabei. Nur seine Beobachtungen über die Berge in der Gegend, wo er lebte, über den Ort und über einige der Personen, die er kannte. Nichts Wichtiges, aber interessant ist es doch.«
»Verstehe.«
»Jedenfalls nicht so interessant wie die Dinge, die wir hier haben.«
Plötzlich war Richard ganz bei der Sache. »Was für Dinge?«
Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Wir haben einige seiner Schriften hier, in unserem Gewölbekeller. Sein Geschäftsverkehr mit anderen, seine Briefe, Bücher über seinen Glauben. Und Ähnliches.
Möchtet Ihr vielleicht einen Blick hineinwerfen?«
Richard tat sein Möglichstes, nicht interessiert zu wirken. Diese Leute sollten nicht wissen, wonach er suchte; deswegen hatte er sich zu Beginn nach nichts Bestimmtem erkundigt.
»Ja, das wäre durchaus interessant. Ich habe mich immer schon für – Geschichte interessiert. Ich würde gern einige seiner Schriften einsehen.«
Gleichzeitig mit Vedetta Firkin bemerkte er, wie jemand die Treppe herunterkam. Es war eine Art Bote – Richard hatte eine ganze Reihe von ihnen gesehen, alle gleich gekleidet. Der rothaarige Mann sah Madame Firkin mit Richard und Kahlan sprechen, daher blieb er mit leicht gespreizten Beinen stehen, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und wartete in einiger Entfernung.
Richard wollte vor den Augen eines Boten nicht über die Werke Joseph Anders sprechen, also deutete er mit einer Handbewegung auf den Mann. »Warum fragt Ihr nicht, was er will?«
Vedetta Firkin bedankte sich mit einem Nicken für sein Entgegenkommen. »Entschuldigt mich einen Augenblick.«
Kahlan schloss ihr Buch und legte es auf die anderen, die sie bereits durchgesehen hatte. »Wir müssen aufbrechen, Richard. Du weißt, das Treffen mit den Direktoren und einigen anderen Leuten. Wir können doch anschließend wieder hierher kommen.«
»Stimmt.« Er seufzte. »Wenigstens müssen wir nicht noch einmal mit dem Minister zusammentreffen. Noch eines dieser Festessen würde ich nicht überstehen.«
»Bestimmt ist er ebenso erfreut, dass wir seine Einladung ausgeschlagen haben. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber wir beide scheinen Feste stets zu verderben.«
Richard stimmte ihr zu und ging Du Chaillu holen. Madame Firkin kehrte gerade zurück, als Du Chaillu sich erhob.
»Ich würde Euch gern die Bücher heraussuchen und aus dem Gewölbekeller heraufholen, Lord Rahl, aber zuvor muss ich noch rasch eine Besorgung machen. Wenn Ihr vielleicht einen kleinen Augenblick warten könntet, es wird nicht lange dauern. Ihr werdet an Joseph Anders Schriften ganz sicher Eure Freude haben. Nicht viele Menschen erhalten Gelegenheit, sie zu sehen, aber so bedeutenden Persönlichkeiten wie Euch und der Mutter Konfessor würde ich…«
»Um die Wahrheit zu sagen, Madame Firkin, ich würde die Bücher sehr gerne sehen. Im Augenblick jedoch müssen wir zu einer Besprechung mit den Direktoren. Ich könnte allerdings nachher noch einmal herkommen, später am Nachmittag oder vielleicht heute Abend?«
»Das wäre perfekt«, erwiderte sie, sich grinsend die Hände reibend. »Dann habe ich Zeit, sie alle herauszusuchen und hervorzuholen. Ich werde sie für Euch bereithalten, wenn Ihr zurückkommt.«
»Habt vielen Dank. Die Mutter Konfessor und ich können es kaum erwarten, derart seltene Bücher zu sehen.«
Richard hielt inne und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Und, Madame Firkin, ich schlage vor, Ihr gebt dem Raben ein paar Körner. Der arme Kerl sieht aus, als wäre er völlig aus dem Häuschen.«
Sie drohte ihm scherzhaft mit den Fingern. »Wenn Ihr es sagt, Lord Rahl.«
Er erhob sich, als die alte Frau am Arm eines seiner Boten das Zimmer betrat.
»Danke, dass Ihr gekommen seid, Madame Firkin.«
»Du liebe Güte, Meister Campbell, was habt Ihr für ein prächtiges Büro.« Sie sah sich um, als sei sie daran interessiert, die Räumlichkeiten käuflich zu erwerben. »Ja, überaus prächtig, wahrhaftig.« Er befahl dem Boten mit einer leichten Kopfbewegung zu verschwinden; der Mann schloss hinter sich die Tür.
»Oh, seht doch«, sagte sie, die Hände wie zum Gebet unter dem Kinn aneinander gelegt. »Seht doch all die prächtigen Bücher. Ich wusste gar nicht, dass hier oben so viele prächtige Bände stehen.«
»Gesetzestexte größtenteils. Mein Interesse gilt dem Recht.«
Sie richtete ihr Augenmerk auf ihn. »Ein prächtiger Beruf, Meister Campbell, ein prächtiger Beruf. Steht Euch gut zu Gesicht. Dass Ihr mir ja dabei bleibt.«
»Ja, das habe ich auch vor. Madame Firkin, da wir gerade vom Gesetz sprechen … das bringt mich auf den Grund, weshalb ich Euch hergebeten habe.«
Sie warf einen Seitenblick auf den Stuhl. Er bot ihn ihr absichtlich nicht an, sondern ließ sie stattdessen stehen.
»In einem meiner Berichte war von einem Besucher der Bibliothek die Rede, der gleichfalls am Recht interessiert war. Offenbar hat er ziemliches Aufsehen erregt.« Dalton stemmte seine Finger auf die in seinen Schreibtisch eingelassene lederne Schreibunterlage, beugte sich vor und fixierte sie mit finsterem Blick. »Man berichtete mir, Ihr hättet ohne Erlaubnis ein indiziertes Buch aus dem Gewölbekeller geholt und ihm gezeigt.«
Blitzschnell verwandelte sie sich von einer geschwätzigen in eine verängstigte alte Dame.
Das, was sie getan hatte, war zwar nicht völlig ungewöhnlich, trotzdem stellte es einen Bruch der Regeln und somit des Gesetzes dar. Die meisten dieser Gesetze wurden nur von Fall zu Fall durchgesetzt, wobei ein Verstoß, wenn überhaupt, nur milde bestraft wurde. Gelegentlich jedoch brachten sich Personen mit einem Verstoß gegen diese Gesetze in Schwierigkeiten. Als Mann des Gesetzes war Dalton sich des Wertes von weithin missachteten Gesetzen bewusst; fast jeder verstrickte sich in ihnen, was einem Macht über die Menschen verlieh. Sollte er sich entscheiden, der Sache nachzugehen, dann hatte sie ein ernst zu nehmendes Unrecht begangen, das nur einen Schritt unterhalb des Diebstahls von wertvollem Kulturgut lag.
Sie nestelte an einem Knopf an ihrem Hals. »Aber ich habe es ihn nicht anfassen lassen, Meister Campbell, das schwöre ich. Ich habe es keinen Augenblick aus der Hand gegeben, hab sogar die Seiten für ihn umgeblättert. Ich wollte ihn nur einen Blick auf die Handschrift unseres ruhmvollen Gründungsvaters werfen lassen. Ich wollte nicht…«
»Nichtsdestoweniger ist dies nicht gestattet und wurde zur Anzeige gebracht. Ich bin also gezwungen, Klage zu erheben.«
»Jawohl, Sir.«
Dalton richtete sich auf. »Bringt mir das Buch.« Er trommelte auf seinen Schreibtisch. »Bringt mir sofort dieses Buch. Sofort, habt Ihr verstanden?«
»Jawohl, Sir. Sofort.«
»Ihr bringt es hier nach oben und legt es mir auf den Schreibtisch, damit ich es mir ansehen kann. Enthält es keine wertvollen Informationen, die an einen Spion verraten worden sein können, werde ich – diesmal – noch nicht zu einer Disziplinarmaßnahme raten. Aber Ihr solltet Euch besser nicht noch einmal bei einer Übertretung der Regeln erwischen lassen, Madame Firkin. Habt Ihr verstanden?«
»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.« Sie war den Tränen nahe. »Die Mutter Konfessor und Lord Rahl waren unten in der Bibliothek, Meister Campbell.«
»Das ist mir bekannt.«
»Lord Rahl bat, die Bücher und Schriften von Joseph Ander einsehen zu dürfen. Was hätte ich tun sollen?«
Dalton konnte kaum glauben, dass dieser Mann seine Zeit damit vergeudete, sich derart nutzlose Bücher anzusehen. Fast tat ihm Lord Rahl in seiner Unwissenheit Leid. Fast.
»Die Mutter Konfessor und Lord Rahl sind ehrenwerte Gäste und darüber hinaus bedeutende Persönlichkeiten. Sie dürfen jedes in unserer Bibliothek vorhandene Buch einsehen. Ihnen gegenüber dürfen keinerlei Einschränkungen gemacht werden. Ich ermächtige Euch hiermit, ihnen alles zu zeigen, was wir besitzen.«
Er trommelte abermals auf seinen Schreibtisch. »Aber dieses Buch, das Ihr diesem anderen Mann, diesem Ruben, gezeigt habt, das würde ich gerne auf meinem Schreibtisch sehen, und zwar sofort.«
»Jawohl, Sir. Sofort, Meister Campbell.« Sie entfernte sich eiligst aus dem Zimmer. Ihr ganzes Streben galt einzig der Beschaffung dieses Buches.
Dalton war das Buch im Grunde egal – um was immer es sich handelte. Er wollte nur nicht, dass die Leute in der Bibliothek nachlässig wurden und anfingen, die Regeln zu missachten. Er konnte keine wertvollen Gegenstände in die Obhut von Personen geben, denen er nicht vertraute.
In seinem Spinnennetz wimmelte es von Angelegenheiten, die wichtiger waren als ein paar nutzlose, angestaubte Bücher von Joseph Ander, trotzdem musste er alles bedenken, wie unbedeutend es auch sein mochte. Er würde einen Blick in dieses Buch werfen, doch was für ihn zählte, war allein, dass sie es ihm brachte.
Ab und zu war es erforderlich, den Menschen ein wenig Angst zu machen, um sie daran zu erinnern, dass er die Verantwortung und das Sagen über ihr Leben hatte. Die Kunde hiervon würde bis zu den anderen bei Hofe dringen. Die Angst, die dieser eine Zwischenfall erzeugte, würde jeden zur Anständigkeit anhalten. Wenn nicht, würde er den nächsten Übeltäter aus dem Hofstaat entfernen, um eine entsprechende Wirkung zu erzielen.
Dalton ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und machte sich abermals über seinen Stapel mit Nachrichten her. Am beunruhigendsten war eine, in der es hieß, der Gesundheitszustand des Herrschers bessere sich. Dem Bericht zufolge nahm er wieder Nahrung zu sich. Kein gutes Zeichen, andererseits konnte der Mann nicht ewig leben. Früher oder später würde Bertrand Chanboor Herrscher sein.
Es gab jedoch eine Reihe von Nachrichten und Berichten über andere Personen, die umgekommen waren. Merkwürdige Vorkommnisse – außergewöhnliche Todesfälle – versetzten die Menschen draußen auf dem Land in Angst und Schrecken. Brandunfälle, Todesfälle durch Ertrinken, Stürze. Landbewohner, die sich nachts vor Dingen fürchteten, drängten auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit in die Stadt.
Den Berichten nach kamen durch ähnliche Vorkommnisse auch Stadtbewohner ums Leben, die demzufolge ähnlich verängstigt waren. Sie flohen auf der Suche nach Sicherheit aus der Stadt hinaus aufs Land.
Dalton schüttelte den Kopf über die Unsinnigkeit der Ängste dieser Menschen. Er schob die Berichte zu einem Stapel zusammen. Kurz bevor er sie in die Kerzenflamme hielt, kam ihm ein Gedanke. Seine Hand hielt inne. Er zog das Bündel mit den Nachrichten von der Flamme zurück.
Eine Bemerkung Francas brachte ihn auf eine Idee.
Sie konnten ihm vielleicht noch nützlich sein, also stopfte er die Berichte in eine Schublade.
»Arbeitest du noch immer, Liebling?«
Dalton sah auf, als er die vertraute Stimme hörte. Teresa rauschte in einem verführerischen rosafarbenen Kleid, das er sich nicht erinnern konnte, jemals zuvor gesehen zu haben, ins Zimmer.
Er lächelte. »Tess, mein Schatz. Was führt dich nach hier oben?«
»Ich bin gekommen, um dich mit einer Mätresse zu ertappen.«
»Wie bitte?«
Sie ging um seinen Schreibtisch herum, zögerte und blickte aus dem Fenster. Eine grüne Samtschärpe raffte, ihre Kurven betonend, ihr Kleid an der Taille. Er malte sich seine Hände an eben jener Stelle aus, wo die Schärpe sie umschloss.
»Ich war gestern Abend ziemlich einsam«, meinte sie, während sie die Menschen draußen auf den Rasenflächen betrachtete.
»Ich weiß. Tut mir Leid, aber es sind noch Nachrichten hereingekommen, die ich unbedingt…«
»Ich dachte, du wärst bei einer anderen Frau.«
»Wie? Ich habe dir doch eine Nachricht geschickt, aus der hervorging, dass ich noch zu arbeiten hatte, Tess.«
Sie wandte sich zu ihm. »Als du mir Nachricht gabst, du müsstest noch arbeiten, habe ich mir nicht viel dabei gedacht. In letzter Zeit hast du jeden Abend länger gearbeitet. Als ich aber aufwachte und es beinahe dämmerte und du nicht neben mir lagst … na ja, da dachte ich, du liegst bestimmt im Bett einer anderen.«
»Tess, ich würde niemals…«
»Ich spielte schon mit dem Gedanken, mich Lord Rahl an den Hals zu werfen, nur um mich zu rächen, aber er hat ja die Mutter Konfessor, die schöner ist als ich, daher wusste ich, er würde mich bloß auslachen und fortschicken.
Also zog ich mich an und kam hierher, nur um später, nachdem du mich angelogen und behauptet hattest, du habest gearbeitet, sagen zu können, ich hätte gewusst, dass du eigentlich gar nicht arbeitest. Statt eines leeren Büros sah ich all deine Boten umhereilen, als bereiteten sie sich darauf vor, in den Krieg zu ziehen. Ich sah dich hier drinnen Papiere ausgeben, Befehle erteilen. Du arbeitetest tatsächlich. Ich habe eine Weile zugesehen.«
»Warum bist du nicht reingekommen?«
Endlich schwebte sie zu ihm hinüber und ließ sich auf seinen Schoß fallen. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und sah ihm in die Augen.
»Du warst so beschäftigt, da wollte ich dich nicht stören.«
»Aber du kannst mich gar nicht stören, Tess. Du bist das Einzige in meinem Leben, das mich niemals stören wird.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich schämte mich, dir zu zeigen, dass ich dachte, du würdest mich betrügen.«
»Warum gestehst du es dann jetzt?«
Sie gab ihm einen Kuss, wie nur Tess dies konnte, atemlos, heiß und feucht. Sie ließ von ihm ab und beobachtete lächelnd, wie er auf ihren Busen starrte.
»Weil«, hauchte sie, »ich dich liebe und dich vermisse. Gerade habe ich mein neues Kleid bekommen. Ich dachte, vielleicht könnte ich dich damit in mein Bett locken.«
»Ich finde dich sehr viel reizvoller als die Mutter Konfessor.«
Sie schmunzelte und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Möchtest du nicht für ein Weilchen mit nach Hause kommen?«
Er tätschelte ihr Hinterteil. »Ich werde bald bei dir sein.«
Ann öffnete leicht die Augen und sah, dass Alessandra sie beim Beten beobachtete. Ann hatte die Frau gefragt, ob es ihr etwas ausmache, wenn sie vor dem Essen betete.
Alessandra war erst überrascht gewesen und hatte dann erwidert: »Nein, warum sollte es?«
Auf dem nackten Boden im Innern ihres schmutzigen Zeltes hockend, vertiefte Ann sich inbrünstig in ihr Gebet. Sie ließ sich von der Freude des Schöpfers erfüllen, ganz so, wie sie sich ihrem Han öffnete. Sie ließ das Licht sie mit Freude erfüllen. Sie öffnete ihr Herz dem Frieden des Schöpfers in ihrem Innern, gab sich der Dankbarkeit hin für alles, was sie besaß, während es anderen doch so viel schlechter ging.
Sie betete, Alessandra möge nur einen einzigen Strahl des warmen Lichtes spüren und diesem ihr Herz öffnen.
Als sie fertig war, hob sie die Hand, soweit dies ihre Ketten zuließen, und küsste aus Treue zu ihrem Schöpfer, dem sie symbolisch angetraut war, so gut es ging ihren Ringfinger.
Alessandra würde sich ganz sicher an das unbeschreiblich erfüllende Gefühl erinnern, zum Schöpfer zu beten, wenn man dem Einen das Herz in Dankbarkeit öffnete, der einem die Seele geschenkt hatte. Im Leben einer jeden Schwester gab es Zeiten, in denen sie im Stillen, ganz für sich, aus Freude fromm darüber geweint hatte.
Für eine Schwester der Finsternis käme eine solche Tat einem Verrat am Hüter gleich.
Alessandra hatte die ihr vom Schöpfer mitgegebene Seele dem Hüter der Unterwelt versprochen – dem Bösen. Ann vermochte sich nicht vorzustellen, was der Hüter ihr im Gegenzug gegeben haben könnte, das der schlichten Freude eines Dankgebetes an den Einen, von dem alle Dinge herrührten, ebenbürtig wäre.
»Ich danke dir, Alessandra. Es war sehr freundlich von dir, mich vor dem Essen mein Gebet sprechen zu lassen.«
»Mit Freundlichkeit hat das nichts zu tun«, meinte die Frau. »Das Essen rutscht dann einfach schneller, und ich kann mich wieder um meine anderen Angelegenheiten kümmern.«
Ann nickte nur, froh, den Schöpfer in ihrem Herzen gespürt zu haben.