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Donner rollte über das Grasland heran und hallte in den schmalen Durchgängen wider, als Richard, Cara und Kahlan das Gebäude verließen, in dem man Junis Leichnam aufgebahrt hatte, um ihn für das Begräbnis zu präparieren.

Das Gebäude unterschied sich in nichts von den anderen Gebäuden im Dorf der Schlammenschen: dicke, mit Lehm verputzte Wände aus Schlammziegeln, darüber ein grasgedecktes Dach. Allein das Seelenhaus besaß ein Ziegeldach. Sämtliche Fenster im Dorf waren glaslos, einig hatte man als Schutz gegen das Wetter mit schwerem, derbem Tuch verhängt. Da die Gebäude alle dieselbe gelblichbraune Farbe aufwiesen, fiel es nicht schwer, sich das Dorf als eine Ansammlung verlassener Ruinen vorzustellen. Hochgewachsene Kräuter, die man als Opfergaben für böse Geister zog und die in drei Töpfen auf einer niedrigen Mauer wuchsen, vermochten dem Durchgang, der in erster Linie von dem böigen Wind heimgesucht wurde, jedoch kaum etwas Lebendiges zu verleihen.

Während ihnen zwei Hühner aus dem Weg huschten, raffte Kahlan mit einer Hand ihr Haar zusammen, damit der böige Wind es ihr nicht ins Gesicht peitschte. Dorfbewohner, manche von ihnen tränenüberströmt, eilten vorüber, um sich den gefallenen Jäger anzusehen. Sie hatten Juni an einem Ort zurücklassen müssen, an dem es nach säuerlichem, nassem verfaulenden Heu stank, daher war Kahlan, ohne daß sie so recht wußte, warum, noch unwohler in ihrer Haut.

Die drei hatten gewartet, bis Nissel, die alte Heilerin, hereingeschlurft kam und den Leichnam untersucht hatte. Sie sagte, sie glaube nicht, daß das Genick gebrochen sei, auch sehe sie keine andere von einem Sturz herrührende Verletzung. Sie hatte Juni für ertrunken erklärt.

Als Richard sich erkundigte, wie das habe passieren können, schien die Frage sie zu überraschen. Offenbar war sie der Ansicht, das sei augenfällig.

Sie hatte erklärt, der Tod sei durch böse Seelen hervorgerufen worden.

Die Schlammenschen glaubten, daß außer den Ahnenseelen, die sie bei einer Versammlung herbeiriefen, von Zeit zu Zeit auch böse Seelen erschienen, die als Wiedergutmachung für ein Unrecht ein Leben forderten. Der Tod konnte durch eine Krankheit, einen Unfall oder auf überirdische Weise herbeigeführt werden. Ein unverletzter Mann, der in sechs Zoll tiefem Wasser ertrank, schien für Nissel offenkundig eine überirdische Todesursache zu sein. Chandalen und seine Jäger glaubten Nissel.

Nissel hatte nicht genug Zeit gehabt, Spekulationen darüber anzustellen, welches Vergehen das Mißfallen der bösen Seelen erregt haben mochte. Sie hatte dringend zu einer dankbareren Aufgabe eilen müssen: ihre Hilfe wurde bei der Geburt eines Babys benötigt.

Kahlan hatte die Schlammenschen, wie auch andere Völker der Midlands, in ihrer offiziellen Eigenschaft als Konfessor mehrere Male aufgesucht. Zwar schlossen manche Völker für alle Fremden ihre Grenzen, doch kein Land der Midlands wagte es, seine Grenzen vor einer Konfessor zu verschließen. Die Konfessoren sorgten unter anderem für die Gerechtigkeit der Justiz – ob dies den Herrschenden genehm war oder nicht.

Die Konfessoren traten vor der Ratsversammlung als Fürsprecher für all jene auf, die über keine andere Stimme verfügten. Manche, wie die Schlammenschen, mißtrauten Außenstehenden, verzichteten auf ihr Stimmrecht und wollten nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden. Kahlan sorgte dafür, daß ihre Wünsche respektiert wurden. Das Wort der Mutter Konfessor vor der Ratsversammlung war Gesetz und somit ausschlaggebend.

Natürlich hatte sich das inzwischen alles geändert.

Wie bei anderen Völkern der Midlands hatte Kahlan sich nicht nur mit der Sprache der Schlammenschen, sondern auch mit ihren Glaubensvorstellungen befaßt. In der Burg der Zauberer in Aydindril gab es Bücher über Sprache, Regierungsform, Glaubensvorstellungen, über Speisen, Kunst und Lebensgewohnheiten eines jeden Volkes der Midlands.

Sie wußte, daß die Schlammenschen in mehreren leerstehenden Gebäuden am Nordrand des Dorfes oft aus Reiskuchen und Blumensträußen bestehende Opfergaben vor kleinen Tonfiguren niederlegten. Diese Gebäude waren ausschließlich der Nutzung durch jene bösen Seelen vorbehalten, die diese Tonfiguren darstellten.

War der Zorn der bösen Seelen erregt worden, was gelegentlich vorkam, und hatten diese ein Leben gefordert, dann, so glaubten die Schlammenschen, wanderte die Seele des Getöteten in die Unterwelt, wo sie sich zu den guten Seelen gesellte, die über die Schlammenschen wachten, und trug auf diese Weise dazu bei, die böswilligen Seelen in Schach zu halten. Auf diese Weise wuchs das Gleichgewicht zwischen den Welten stets an, daher waren sie davon überzeugt, das Böse beschränke sich ganz von alleine.

Obwohl es erst früher Nachmittag war, schien es dem Empfinden nach bereits zu dämmern, als Kahlan, Richard und Cara sich ihren Weg durchs Dorf bahnten. Düstere Wolken schienen sich unmittelbar über den Dächern zusammenzuballen. Immer näher schlugen die Blitze ein, deren Helligkeit die hohen Wände der Häuser in ein gleißendes Licht tauchte. Fast unmittelbar darauf folgte stets ein schmerzhaft harter Donnerschlag, der den Erdboden erzittern ließ.

Der böige Wind peitschte Kahlan dicke Regentropfen gegen den Hinterkopf. In gewisser Weise war sie froh über den Regen, weil er die Feuer löschen würde. Es gehörte sich nicht, Freudenfeuer brennen zu lassen, wenn jemand gestorben war. Der Regen würde irgend jemandem die unangenehme Aufgabe ersparen, die Glut der Freudenfeuer auszutreten.

Richard hatte Juni aus Gründen des Respekts den gesamten Rückweg getragen. Die Jäger verstanden dies; Juni war gestorben, während er zu Richards und Kahlans Schutz Wache gestanden hatte.

Cara jedoch war schnell zu einem anderen Schluß gekommen: Juni hatte sich vom Beschützer zur Bedrohung gewandelt. Das Wie und Warum spielte dabei keine Rolle – nur daß er sich gewandelt hatte. Sie hatte die feste Absicht, vorbereitet zu sein, sollte sich einer von ihnen das nächste Mal in eine drohende Gefahr verwandeln.

Richard war mit ihr deswegen kurz aneinandergeraten. Die Jäger hatten ihre Worte nicht verstanden, hatten aber die Hitzigkeit richtig gedeutet und gar nicht erst um eine Übersetzung gebeten.

Schließlich hatte Richard das Thema fallenlassen. Wahrscheinlich fühlte Cara sich einfach nur schuldig, weil sie Juni hatte passieren lassen. Kahlan ergriff Richards Hand, sie gingen hinterher und ließen Cara ihren Willen, Weg und Tempo zu bestimmen. In einem Dorf voller Freunde hielt sie nach lauernden Gefahren Ausschau und geleitete sie auf dem Weg zu Zedd und Ann erst in den einen, dann in den anderen Durchgang.

Kahlan war überzeugt, daß Cara sich täuschte, trotzdem empfand sie eine unerklärliche Unruhe. Sie bekam mit, wie Richard sich kurz umsah, mit einem suchenden Blick, der ihr verriet, daß auch er die Anspannung spürte.

»Was ist denn?« erkundigte sie sich leise.

Richards Blick wanderte suchend durch den gesamten Durchgang. Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Meine Nackenhaare sträuben sich, als würde ich beobachtet, aber da ist niemand.«

Sie war zwar beunruhigt, vermochte aber nicht zu sagen, ob tatsächlich böswillige Augen sie beobachteten oder ob es nur an seiner Vermutung lag, daß sie ständig über ihre Schulter blickte. Sich die eiskalte Gänsehaut reibend, die ihre Arme kribbelnd überzog, eilte sie durch die düsteren Gassen zwischen den massigen Gebäuden.

Es fing gerade ernsthaft an zu regnen, als Cara am gesuchten Ort anlangte. Den Strafer griffbereit, blickte sie prüfend nach beiden Seiten in den schmalen Durchgang, bevor sie die einfache Holztür öffnete und als erste ins Haus schlüpfte.

Der Wind wehte Kahlan das Haar ins Gesicht. Blitze zuckten, Donner krachte. Wohl verängstigt durch das Gewitter, schoß eines der im Durchgang umherstreifenden Hühner zwischen ihren Beinen hindurch und huschte vor ihnen ins Haus.

Im kleinen Kamin in der Ecke des bescheidenen Raumes brannte ein niedriges Feuer, mehrere dicke Talgkerzen standen auf einem in den Mauerputz eingelassenen Holzbord neben der kuppelartig überwölbten Feuerstelle; unter dem Holzbord gab es einen Stapel aus kleinen Feuerholzscheiten und gebündeltem Gras. Ein Rehbockfell auf dem Lehmfußboden vor der Feuerstelle bot die einzige offizielle Sitzgelegenheit. Vor dem glaslosen Fenster hing ein Tuch, das von den heftigeren Windstößen zurückgeschlagen wurde und die Kerzen flackern ließ.

Richard stemmte die Tür mit der Schulter zu und verriegelte sie gegen das Wetter. Der Raum roch nach Kerzen und dem süßlichen Duft des gebündelten Grases, das in der Feuerstelle verbrannte, aber auch nach dem beißenden Rauch, der durch die Dachöffnung über dem Kamin nicht abziehen konnte.

»Sie sind bestimmt in den hinteren Zimmern«, meinte Cara, mit ihrem Strafer auf ein schweres Fell deutend, das vor einer Türöffnung hing.

Das zufrieden gackernde Huhn, dessen Kopf von einer Seite zur anderen zuckte, stolzierte im Raum umher und umkreiste das mit dem Finger oder vielleicht mit einem Stock in den Lehmboden gezeichnete Symbol.

Von klein auf hatte Kahlan gesehen, wie Zauberer und Hexenmeisterinnen das uralte, den Schöpfer, das Leben, den Tod, die Gabe und die Unterwelt darstellende Symbol gezeichnet hatten. Sie zeichneten es in Zeiten der Muße und in Zeiten der Angst; sie zeichneten es, um Trost zu finden – und um sich ihres Verbundenseins mit allen und jedem zu erinnern, Und sie zeichneten es, um Magie heraufzubeschwören.

Für Kahlan war es das ermutigende Zauberzeichen ihrer Kindheit, einer Zeit, als die Zauberer Spiele mit ihr spielten, sie kitzelten oder durch die Korridore der Burg der Zauberer jagten, während sie vor Vergnügen quiekte. Manchmal erzählten sie ihr Geschichten, bei denen ihr vor Staunen der Atem stockte, während sie sicher und geborgen auf ihrem Schoß saß.

Vor dem Beginn ihrer harten Ausbildung hatte es eine Zeit gegeben, als sie noch Kind sein durfte. Mittlerweile waren alle diese Zauberer tot; bis auf einen hatten alle ihr Leben geopfert, um sie in ihrem Bemühen zu unterstützen, die Grenze zu überqueren und Hilfe für den Kampf gegen Darken Rahl zu finden. Dieser eine hatte sie verraten. Es hatte jedoch eine Zeit gegeben, als sie ihre Freunde waren, ihre Spielgefährten, ihre Onkel, ihre Lehrer, diejenigen, auf die sie ihre ganze Verehrung und Liebe richtete.

»Das habe ich schon mal irgendwo gesehen«, meinte Cara, nachdem sie die Zeichnung auf dem Boden kurz aufmerksam betrachtet hatte. »Darken Rahl hat es manchmal gezeichnet.«

»Man nennt es eine Huldigung«, erläuterte Kahlan.

Der Wind hob das Rechteck aus derbem Tuch vor dem Fenster an, und das grelle Gleißen eines Blitzes fiel auf die auf den Erdboden gezeichnete Huldigung.

Richard öffnete den Mund, zögerte dann aber und behielt seine Frage für sich. Er betrachtete das Huhn, das neben dem in die hinteren Räume führenden Fellvorhang auf dem Boden herumpickte.

Er gestikulierte. »Cara, öffnet bitte die Tür.«

Sie riß sie auf, und Richard versuchte, das Tier mit den Armen fuchtelnd hinauszuscheuchen. Das Huhn wollte ausweichen, schoß flügelschlagend und mit fliegenden Federn mal hier-, mal dorthin und weigerte sich, das Zimmer bis zur offenen Tür zu durchqueren und sich in Sicherheit zu bringen.

Richard, die Hände in den Hüften, hielt inne und blickte verwundert auf das Huhn hinab; schwarze Musterungen im weißbraunen Gefieder verliehen ihm einen verwirrenden Streifeneffekt. Das Huhn protestierte lauthals, als Richard sich behutsam in Bewegung setzte und den verwirrten Vogel mit angedeuteten Fußtritten durch das Zimmer scheuchte.

Als es die Zeichnung auf dem Fußboden erreichte, stieß es einen Schrei aus, schlug in neuerlich erwachter Panik mit den Flügeln, brach seitlich aus und rannte an der Zimmerwand entlang und schließlich zur Tür hinaus. Es war die erstaunliche Darbietung eines Tieres, das zu verängstigt war, auf geradem Weg zu einer weit offen stehenden Tür zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen.

Cara schloß hinter ihm die Tür. »Wenn es ein Tier gibt, das dümmer ist als ein Huhn«, meckerte sie, »dann hab ich es noch nicht gesehen.«

»Was soll dieser Lärm?« war eine altbekannte Stimme zu vernehmen.

Sie gehörte Zedd, der aus der in die hinteren Zimmer führenden Tür trat. Er war größer als Kahlan, allerdings nicht so groß wie Richard – in etwa so groß wie Cara, wenn auch sein dichter Schopf aus krausem, weißem Haar, das wirr in sämtliche Richtungen abstand, den Anschein nicht vorhandener Größe vermittelte. Ein schweres, kastanienbraunes Gewand mit schwarzen Ärmeln und von einer Kapuze bedeckten Schultern verstärkte den Eindruck, daß sein knochendürrer Körper massiger wirkte, als er tatsächlich war. Drei Silberbrokatstreifen säumten die Manschetten seiner Ärmel. Schwererer Goldbrokat lief um den Kragen herum und an der Vorderseite herunter. Ein roter, mit einer Goldschnalle besetzter Samtgürtel raffte sein Gewand an der Hüfte.

Früher hatte Zedd stets bescheidene Kleidung getragen; für einen Zauberer seines Ranges und seiner Machtbefugnis war dieser Aufzug äußerst bizarr. Auffällige Kleidungstücke kennzeichneten jemanden, der die Gabe besaß, als Anfänger. Jemanden, der die Gabe nicht besaß, wiesen solche Kleider mancherorts als Angehörigen des Adels aus, und praktisch überall als reichen Kaufmann, daher hatten sie sich, obwohl Zedd grelle Kleidung zuwider war, als wertvolle Tarnung erwiesen.

Richard und sein Großvater umarmten sich herzlich. Die beiden lachten vor Freude darüber, wieder vereint zu sein; sie hatten lange darauf warten müssen.

»Zedd«, sagte Richard, den anderen auf Armeslänge von sich haltend und offenbar über den Aufzug seines Großvaters noch erstaunter als Kahlan, »wo hast du nur diese Kleider her?«

Zedd drehte die goldene Schnalle mit Hilfe seines Daumens so, daß er sie prüfend betrachten konnte. Seine haselnußbraunen Augen funkelten. »Es ist die goldene Schnalle, hab ich recht? Wirkt sie vielleicht ein wenig übertrieben?«

Ann schob das schwere Fell zur Seite, das vor der Tür hing, und tauchte darunter hindurch. Sie wirkte klein und etwas untersetzt und trug ein schmuckloses dunkles Wollkleid, das kennzeichnend war für ihre Machtbefugnis als Führerin der Schwestern des Lichts – Hexenmeisterinnen aus der Alten Welt, unter denen sie allerdings die Illusion geschürt hatte, sie sei getötet worden, um so die Freiheit zu haben, wichtigen Angelegenheiten nachzugehen. Sie wirkte genauso alt wie Zedd, Kahlan wußte jedoch, daß sie sehr viel älter war.

»Schluß mit deiner Angeberei, Zedd«, meinte Ann. »Wir haben zu tun.«

Zedd warf ihr einen finsteren Blick zu. Kahlan sah, wie ein ebenso finsterer Blick zu ihm zurück wanderte, und fragte sich, wie die beiden es geschafft hatten, gemeinsam zu reisen, ohne daß mehr als nur verbal die Funken geflogen waren. Kahlan hatte Ann erst tags zuvor kennengelernt, Richard allerdings schätzte sie sehr, trotz der Umstände, unter denen er sie kennengelernt hatte.

Zedd musterte Richards Anzug. »Ich muß schon sagen, Junge, du siehst selber auch ziemlich prächtig aus.«

Richard war Waldführer gewesen und hatte stets einfache Kleidung getragen, daher hatte Zedd ihn noch nie in seinem neuen Gewand gesehen. Den Anzug seines entfernten Vorgängers hatte er größtenteils in der Burg der Zauberer gefunden. Offenbar hatten früher nicht alle Zauberer schlichte Gewänder getragen, möglicherweise als Vorwarnung.

Die Schäfte von Richards schwarzen Stiefeln waren mit Lederriemen umwickelt, in denen mit geometrischen Mustern verzierte Silberembleme steckten, darunter verbargen sich schwarze Wollhosen. Über einem schwarzen Hemd trug er einen schwarzen, an den Seiten offenen Waffenrock, der mit Symbolen verziert war, die sich entlang eines goldenen, um den gesamten, rechtwinklig ausgesparten Saum herumlaufenden Bandes zogen. Sein breiter, mehrlagiger Ledergürtel raffte den prunkvollen Waffenrock an der Hüfte. Der Gürtel war mit weiteren Silberemblemen besetzt und besaß an jeder Seite einen golddurchwirkten Lederbeutel; am Gürtel war auch eine kleine, lederne Geldbörse eingehakt. An beiden Handgelenken trug er breite, ledergepolsterte Silberreifen aus miteinander verbundenen Silberringen, auf denen sich weitere jener seltsamen Symbole befanden. Auf seinen breiten Schultern prangte jenes Cape, das an nichts so sehr erinnerte wie an gesponnenes Gold.

Auch ohne sein Schwert wirkte er auf den ersten Blick edel und furchteinflößend. Königlich und tödlich. Er sah aus wie jemand, der Königen Befehle erteilte, und wie eine Verkörperung jenes Namens, der ihm in den Prophezeiungen gegeben worden war: der Bringer des Todes.

Trotz alledem wußte Kahlan, daß er noch immer jenes gütige und großzügige Herz besaß, das ihm schon als Waldführer eigen gewesen war. Statt alles andere seiner Wirkung zu berauben, unterstrich seine ungekünstelte Ernsthaftigkeit dies noch.

Sein furchteinflößendes Aussehen war ebenso begründet wie in vielerlei Hinsicht irreführend. Richard zeigte sich zwar zielstrebig und leidenschaftlich im Kampf gegen ihre Feinde, Kahlan kannte ihn aber auch als durch und durch liebenswürdigen, verständnisvollen und freundlichen Menschen. Nie war sie einem faireren oder geduldigeren Mann begegnet; sie hielt ihn für einen einzigartigen Menschen.

Ann bedachte Kahlan mit einem breiten Lächeln und berührte ihr Gesicht wie eine freundliche Großmutter das eines geliebten Kindes. Kahlan spürte, wie herzerwärmend ehrlich die Geste gemeint war. Mit funkelnden Augen wiederholte Ann die Geste bei Richard.

Sie band ihr graues Haar zu einem lockeren Knoten zusammen, drehte sich um und legte ein kleines Scheit aus gebündeltem Gras aufs Feuer. »Ich hoffe, der erste Tag eurer Ehe verläuft angenehm?«

Kahlan und Richard sahen sich kurz an. »Wir waren vorhin bei den Quellen und haben gebadet.« Sowohl Kahlans als auch Richards Lächeln verschwand. »Dabei kam einer der Jägerposten ums Leben.«

Ihre Worte trugen ihnen die volle Aufmerksamkeit von Zedd und Ann ein.

»Und wie?« erkundigte sich Ann.

»Er ist ertrunken.« Mit einer Handbewegung forderte Richard alle auf, Platz zu nehmen. »Der Bach war seicht, soweit wir es jedoch beurteilen können, ist der Mann weder gestrauchelt noch gestürzt.« Während die vier sich rings um die in der Zimmermitte in den Lehm geritzte Huldigung niederließen, deutete er mit dem Daumen über seine Schulter. »Wir haben ihn in eines der Gebäude dort hinten gebracht.«

Zedd warf einen Blick über Richards Schulter, fast so, als könnte er durch die Mauer blicken und Junis Leichnam in Augenschein nehmen. »Ich werde ihn mir ansehen.« Er blickte zu Cara auf, die mit dem Rücken zur Tür Wache stand. »Was ist Eurer Meinung nach passiert?«

Ohne Zögern antwortete Cara: »Ich glaube, Juni war zur Gefahr geworden. Als er nach Lord Rahl suchte, um ihm etwas anzutun, ist er gestürzt und ertrunken.«

Zedd zog erstaunt die Brauen hoch. Er wandte sich an Richard.

»Zu einer Gefahr! Warum sollte der Mann dir gegenüber plötzlich aggressiv werden?«

Richard warf der Mord-Sith einen finsteren Blick zu. »Cara täuscht sich. Er hatte nicht die Absicht, uns etwas anzutun.« Zufrieden, daß sie ihm nicht widersprach, richtete er sein Augenmerk wieder auf seinen Großvater. »Als wir ihn fanden – tot –, hatte er einen seltsamen Blick in den Augen. Er muß vor seinem Tod etwas gesehen haben, das diesen maskenhaften Ausdruck … ich weiß nicht … der Sehnsucht vielleicht, auf seinem Gesicht zurückließ. Nissel, die Heilerin, kam und untersuchte seinen Leichnam. Sie meinte, er weise keinerlei Verletzungen auf, sei aber zweifellos ertrunken.«

Richard stützte sich mit dem Unterarm auf dem Knie ab und beugte sich vor. »Ertrunken, Zedd, in sechs Zoll tiefem Wasser. Nissel meint, böse Seelen hätten ihn umgebracht.«

Zedd zog seine Brauen noch höher. »Böse Seelen?«

»Die Schlammenschen glauben, daß manchmal böse Seelen erscheinen und das Leben eines Dorfbewohners einfordern«, erläuterte Kahlan. »Die Dorfbewohner legen Opfergaben vor Tonfiguren nieder, in einigen Gebäuden dort drüben.« Sie deutete mit ihrem Kinn Richtung Norden. »Offenbar glauben sie, diese bösen Seelen durch das Zurücklassen von Reiskuchen versöhnlich stimmen zu können. Als könnten ›böse Seelen‹ essen oder würden sich so leicht bestechen lassen.«

Draußen peitschte der Regen gegen die Häuser. Wasser sammelte sich in einem dunklen Fleck unter dem Fenster und tropfte hier und dort durch das Grasdach. Fast unaufhörlich hörte man Donnergrollen, das die inzwischen längst verstummten Trommeln abgelöst hatte.

»Ah, ich verstehe«, meinte Ann. Sie hob den Kopf und lächelte dabei auf eine Weise, die Kahlan merkwürdig fand. »Ihr glaubt also, die Schlammenschen hätten euch, verglichen mit dem prunkvollen Ereignis, das euch in Aydindril zuteil geworden wäre, eine schäbige Hochzeit ausgerichtet. Hmmm?«

Kahlan zog verblüfft die Brauen zusammen. »Natürlich nicht. Es war die wundervollste Hochzeit, die wir uns nur hätten wünschen können.«

»Tatsächlich?« Ann machte eine ausholende Armbewegung, die das ganze Dorf einschloß. »Menschen in geschmacklosem Flitter und bekleidet mit Tierfellen? Die sich das Haar mit Schlamm glätten? Kinder, die während einer solchen Feierlichkeit nackt herumtollen, lachen und spielen? Männer mit beängstigenden aufgemalten Masken aus Schlamm, die herumtanzen und sich Geschichten von Tieren, von der Jagd und von Kriegen erzählen? Das sind die Dinge, die eurer Ansicht nach ein gelungenes Hochzeitsfest ausmachen?«

»Nein … das war es nicht, was ich meinte oder was daran so wichtig war«, stammelte Kahlan. »Das, was sich in ihren Herzen abspielte, hat die Hochzeit zu etwas so Besonderem gemacht. Sie war für uns so bedeutungsvoll, weil die Menschen unsere Freude ganz aufrichtig und ehrlich geteilt haben. Was hat das außerdem mit den Reiskuchenopfern für nicht vorhandene böse Seelen zu tun?«

Mit der Seite ihres Fingers korrigierte Ann eine der Linien der Huldigung – jene Linie, die die Unterwelt darstellte. »Wenn du sagst: ›Geliebte Seelen, behütet die Seele meiner verstorbenen Mutter‹, erwartest du dann, daß die geliebten Seelen augenblicklich herbeigeeilt kommen, nur weil du deinem Wunsch Ausdruck verliehen hast?«

Kahlan spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Oft betete sie zu den Seelen, sie möchten die Seele ihrer Mutter beschützen. Allmählich dämmerte ihr, warum diese Frau Zedd zur Verzweiflung trieb.

Richard kam Kahlan zur Hilfe. »Die Gebete sind nicht als unmittelbare Bitte gedacht. Wir wissen schließlich, daß die Seelen nicht auf so simple Weise funktionieren. Nein, sie sind der tiefempfundene Ausdruck der Liebe und der Hoffnung auf den Frieden ihrer Mutter in der nächsten Welt.« Er strich mit dem Finger über die entgegengesetzte Seite der Linie, die Ann ausgebessert hatte.

Anns Wangen rundeten sich zu einem Lächeln. »Genau so ist es, Richard. Die Schlammenschen werden ganz bestimmt nicht so dumm sein, die mächtigen Kräfte, an die sie glauben und die sie fürchten, mit Reiskuchen bestechen zu wollen, meinst du nicht auch?«

»Entscheidend ist die Opfergabe selbst«, erwiderte Richard. Seine unerschütterliche Haltung gegenüber dieser Frau bewies Kahlan, daß Richard gelernt hatte, wie man die Kohlen aus dem Feuer holte.

Zudem verstand Kahlan durchaus, was er meinte. »Das Unbekannte soll durch das Anflehen gefürchteter Mächte versöhnlich gestimmt werden.«

Ann hob den Finger und zog dazu die Brauen hoch. »Ganz recht. In Wirklichkeit ist die Opfergabe ihrem Wesen nach symbolisch, sie soll die Ehrerbietung verdeutlichen. Durch eine solche Verbeugung. vor besagter Macht hoffen sie, diese milde zu stimmen.« Anns erhobener Finger sank zurück.

»Manchmal genügt ein höfliches Nachgeben, um einem erzürnten Widersacher Einhalt zu gebieten, nicht?«

Sowohl Kahlan als auch Richard pflichteten ihr bei.

»Besser, man tötet den Feind und hat es hinter sich«, maulte Cara von hinten an der Tür.

Ann lachte stillvergnügt in sich hinein, lehnte sich zurück und sah zu Cara hinüber. »Nun, manchmal, Liebes, hat eine solche Alternative durchaus ihre Vorzüge.«

»Und wie würdest du ›böse Seelen‹ umbringen?« fragte Zedd mit einer dünnen Stimme, die durch das prasselnde Geräusch des Regens schnitt.

Cara wußte keine Antwort und machte daher ein wütendes Gesicht.

Richard achtete nicht auf ihre Unterhaltung. Er schien wie gelähmt von der Huldigung, als er das Wort ergriff. »Aus dem gleichen Grunde könnten böse Seelen … und ähnliches durch eine Geste der Respektlosigkeit verärgert werden.«

Kahlan wollte gerade den Mund öffnen, um Richard zu fragen, wieso er die bösen Seelen der Schlammenschen plötzlich so ernst nahm, als Zedd sie mit den Fingern seitlich am Bein berührte. Sein Seitenblick verriet ihr, daß sie still sein sollte.

»Manche denken so, Richard«, brachte Zedd leise vor.

»Warum habt ihr dieses Symbol, diese Huldigung, gezeichnet?« fragte Richard.

»Ann und ich benutzten es dazu, einige Dinge zu bewerten. Manchmal kann eine Huldigung von unschätzbarem Wert sein. Eine Huldigung ist eine einfache Sache, und doch unendlich komplex. Etwas über eine Huldigung in Erfahrung zu bringen kommt einer lebenslangen Reise gleich, doch wie bei einem Kind, das laufen lernt, beginnt diese mit dem ersten Schritt. Da du mit der Gabe geboren wurdest, dachten wir weiterhin, dies wäre ein guter Zeitpunkt, dich damit bekannt zu machen.«

Für Richard war seine Gabe größtenteils ein Rätsel. Jetzt, da er wieder mit seinem Großvater vereint war, mußte Richard dieses Geburtsrecht ergründen und endlich damit beginnen, sich einen Plan von der noch unvertrauten Landschaft seiner Kraft zu machen. Kahlan wünschte, sie hätten die Zeit, die Richard dafür benötigte, doch die hatten sie nicht.

»Zedd, ich möchte dich wirklich bitten, einen Blick auf Junis Leichnam zu werfen.«

»Der Regen wird in Kürze nachlassen«, beruhigte ihn Zedd, »dann gehen wir und sehen ihn uns an.«

Richard fuhr mit dem Finger an der Linie entlang, die die Gabe darstellte – und somit die Magie. »Wenn es ein erster Schritt und so überaus wichtig ist«, fragte Richard Ann beißend, »warum haben die Schwestern des Lichts nicht versucht, mich in der Huldigung zu unterrichten, als sie mich zum Palast des Volkes in der Alten Welt verschleppten? Als sie die Gelegenheit dazu hatten.«

Kahlan wußte, wie schnell Richard auf der Hut war und mißtrauisch wurde, sobald er das Kribbeln eines Strickes zu fühlen glaubte, den man ihm über die Ohren streifen wollte, ganz gleich, wie behutsam man dabei vorging oder wie unschuldig die Absicht war. Anns Schwestern hatten ihm damals einen Halsring umgelegt.

Ann warf Zedd einen verstohlenen Blick zu. »Die Schwestern des Lichts hatten zuvor noch nie versucht, jemanden wie dich zu unterweisen – jemanden, der sowohl mit der Gabe für die Subtraktive als auch für die Additive Magie geboren war.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Besonnenheit war geboten.«

Richards Stimme hatte die kaum merkliche Wandlung vom Befragten zum Fragenden vollzogen.

»Und doch seid ihr jetzt der Ansicht, ich sollte in dieser … dieser Huldigung unterrichtet werden?«

»Auch Unwissenheit kann gefährlich sein«, murmelte Ann zweideutig.

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