65

Dalton blickte auf und sah Hildemara in sein neues Büro hineinschlüpfen. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus goldfarbenem Satin mit weißem Besatz, ganz so, als hätte irgend jemand Interesse an den tiefen Einblicken, die Hildemara gewährte.

Er erhob sich hinter seinem neuen, bombastischen Schreibtisch, einem Schreibtisch, wie er ihn sich niemals hätte träumen lassen.

»Hildemara. Was für eine Freude, dass Ihr auf einen Besuch hereinschaut.«

Sie musterte ihn lächelnd wie ein Hund sein nächstes Fressen. Dann schlenderte sie um seinen Schreibtisch herum, stellte sich dicht neben ihn und lehnte sich mit dem Hinterteil gegen den Tisch, um ihm vertraulich in die Augen sehen zu können.

»Dalton, dieser Anzug steht Euch ausgezeichnet«, sagte sie, mit dem Finger an seinem mit Stickereien verzierten Ärmel entlangfahrend. »Ihr macht Euch gut in Eurem neuen Büro. Besser, als mein nichtswürdiger Gatte dies jemals getan hat. Ihr verleiht ihm … Klasse.«

»Danke, Hildemara. Ich muss sagen, Ihr selbst seht auch ganz reizend aus.«

Ihr Lächeln wurde breiter – ob aus echter Freude oder nur zum Schein, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen. Seit dem unerwarteten Ableben des alten Herrschers war sie mit ihrer offenen Bewunderung für ihn alles andere als zurückhaltend gewesen. Andererseits kannte er sie gut genug, um sich nicht dazu verleiten zu lassen, ihr sozusagen den Rücken zuzukehren. Er wusste nicht zu unterscheiden, ob sie innig und freundlich war oder das Beil des Henkers hinter ihrem Rücken verborgen hielt. Wie auch immer, er war auf der Hut.

»Die Stimmen aus der Stadt sind ausgezählt, und auch mit den zurückkehrenden Soldaten treffen bereits die ersten Ergebnisse ein.«

Jetzt glaubte er den Grund für ihr Lächeln – und auch das Ergebnis der Entscheidung des Volkes – zu kennen. Trotzdem, in diesen Dingen konnte man nie ganz sicher sein.

»Und wie haben die rechtschaffenen Bewohner Anderiths auf Lord Rahls Aufforderung, sich ihm anzuschließen, reagiert?«

»Ich fürchte, Lord Rahl kann Euch nicht das Wasser reichen, Dalton.«

Ein noch unentschlossenes Lächeln begann sich mühsam in sein Gesicht vorzuarbeiten. »Tatsächlich? Wie überzeugend ist die Entscheidung ausgefallen? Wenn es keine deutliche Ablehnung war, könnte Lord Rahl sich veranlasst sehen, seine Angelegenheit mit Nachdruck weiterzuverfolgen.«

Sie zuckte neckisch mit den Schultern. »Den Menschen aus der Stadt widerstrebt es selbstverständlich, Lord Rahl zu glauben. Sieben von zehn haben mit einem Kreuz gegen ihn gestimmt.«

Dalton legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Danke, Hildemara«, meinte er schmunzelnd. »Und die Übrigen?«

»Sie kommen eben erst herein. Die Soldaten werden eine Weile brauchen für den Ritt zurück nach…«

»Aber bis jetzt? Wie sieht es bis jetzt aus?«

Sie strich mit einem Finger über die Schreibtischplatte. »Überraschend.«

Das verwirrte ihn. »Überraschend? Inwiefern?«

Sie bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Das schlechteste Ergebnis lautet drei von vier Stimmen zu unseren Gunsten. In einigen Orten haben sogar zwischen acht und neun von zehn ihr Kreuz gegen Lord Rahl gemacht.«

Dalton legte eine Hand auf seine Brust und seufzte abermals erleichtert auf. »Ich hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet, aber man kann in diesen Dingen nie ganz sicher sein.«

»Einfach erstaunlich, Dalton. Ihr habt ein Wunder vollbracht.« Sie drehte ihre Handflächen nach oben. »Dabei brauchtet Ihr nicht einmal zu betrügen. Man stelle sich vor.«

Dalton ballte aufgeregt die Fäuste. »Danke, Hildemara. Danke, dass Ihr mir die Neuigkeiten überbracht habt. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss sofort zu Teresa und ihr davon berichten. Ich war so beschäftigt, dass ich sie seit Wochen kaum gesehen habe. Sie wird überaus erfreut sein, die Neuigkeiten zu hören.«

Er wollte schon gehen, doch Hildemara hielt ihn mit einem Finger gegen seine Brust zurück. Ihr Lächeln hatte wieder den bekannten tödlich bissigen Zug angenommen.

»Ich bin sicher, Teresa weiß bereits davon.«

Dalton runzelte die Stirn. »Wer hätte ihr davon erzählen sollen, noch bevor man mir Bericht erstattet?«

»Ich bin sicher, Bertrand hat es ihr gesagt.«

»Bertrand? Wie kommt er dazu, Teresa derartige Neuigkeiten zu erzählen?«

Hildemara setzte ein kleines, affektiertes Lächeln auf. »Ach, Ihr wisst doch, wie gesprächig Bertrand zwischen den Beinen einer Frau wird, die er erregend findet.«

Dalton erstarrte. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf, als er sich all die Gelegenheiten ins Gedächtnis rief, bei denen er Teresa seit Bertrands Ernennung zum Herrscher allein gelassen hatte, als ihm einfiel, wie begeistert Teresa von der Person des Herrschers war. Er erinnerte sich, wie sie nach der Begegnung mit dem Herrscher die ganze Nacht aufgeblieben war und gebetet hatte. Und er erinnerte sich an ihre ehrfürchtige Bewunderung, als Bertrand Herrscher wurde.

Doch er zwang sich, diese Grübeleien einzustellen. Solche Grübeleien konnten sich zu einem heimtückischen Feind auswachsen, der einen von innen her zerfraß. Hildemara, die wusste, wie beschäftigt er gewesen war, wollte ihm wahrscheinlich nur einen Schrecken einjagen oder Unfrieden stiften. Das sähe ihr ähnlich.

»Das ist nicht im Geringsten amüsant, Hildemara.«

Eine Hand auf den Schreibtisch gestützt, beugte sie sich zu ihm und strich ihm mit dem Finger der anderen Hand über das Kinn. »Das soll es auch nicht sein.«

Dalton schwieg, sorgfältig darauf bedacht, keinen falschen Zug zu machen, bevor er nicht genau wusste, was tatsächlich gespielt wurde. Dies konnte noch immer ein lächerlicher Trick von ihr sein, ihn gegen Teresa aufzubringen, in der Hoffnung, ihn dadurch in ihre Arme zu treiben, oder es war nichts weiter als eine Information, die sie falsch gedeutet hatte. Allerdings neigte Hildemara seines Wissens nicht dazu, Informationen dieser Art misszuverstehen. Sie hatte ihre eigenen Quellen, und die waren ebenso verlässlich wie die Daltons.

»Ich denke, Hildemara, Ihr solltet keine verleumderischen Gerüchte verbreiten.«

»Das ist kein Gerücht, mein lieber Dalton, sondern eine Tatsache. Ich habe Eure gute Frau aus seinen Gemächern kommen sehen.«

»Ihr kennt Teresa, sie betet gerne…«

»Ich habe mitgehört, wie Bertrand gegenüber Stein damit prahlte, er habe sie besessen.«

Dalton war wie betäubt. »Was?«

Das affektierte Lächeln wurde mit tödlicher Perfektion breiter.

»Nach dem, was Bertrand Stein erzählt, ist sie offenbar ganz die hemmungslose Hure und genießt es geradezu, in seinem Bett ein äußerst ungezogenes Mädchen zu sein.«

Dalton spürte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht schoss. Er spielte mit dem Gedanken, Hildemara auf der Stelle umzubringen. Als seine Finger das Heft seines Schwertes berührten, zog er dies allen Ernstes in Erwägung. Am Ende schien es ihm jedoch sinnvoller, stattdessen seine Selbstbeherrschung zu bewahren, obwohl seine Knie zitterten.

»Ich dachte nur, Ihr solltet es wissen, Dalton«, setzte sie hinzu. »Ich fand es reichlich traurig: Mein Gemahl bespringt Eure Gattin, und Ihr wisst gar nichts davon. Das könnte – peinlich werden. Ihr könntet Euch durch Eure Unwissenheit versehentlich in eine unangenehme Lage bringen.«

»Warum, Hildemara?«, brachte er leise hervor. »Was befriedigt Euch daran so sehr?«

Endlich blühte ihr Lächeln zu unverhohlener Freude auf. »Weil ich Eure selbstgefällige Überheblichkeit bezüglich Eurer Treueschwüre noch nie habe ausstehen können – wie Ihr die Nase gerümpft habt, weil Ihr Euch und Eure Gemahlin für etwas Besseres hieltet als uns andere.«

Dalton hielt sich durch schiere Willenskraft zurück. In Augenblicken schicksalhafter Prüfung oder Not konnte er stets ganz nüchtern werden, um für die Situation, der er sich gegenübersah, die beste Lösung zu finden.

Genau das tat er jetzt – mit unbarmherziger Entschlossenheit.

»Danke für die Information, Hildemara. Es hätte in der Tat recht peinlich werden können.«

»Tut mir einen Gefallen und verfallt darüber nicht in Trübsinn, Dalton. Ihr habt allen Grund, mehr als erfreut zu sein. Wir reden hier über den Herrscher. Schließlich bedeutet es für jeden Mann eine Ehre, einer so verehrten und erhabenen Persönlichkeit wie dem Herrscher Anderiths seine Gemahlin zur Verfügung zu stellen. Man wird Euch dafür, dass Eure Gemahlin dem Herrscher Erleichterung von den Belastungen seines hohen Amtes verschafft, nur umso mehr verehren und respektieren.

Das solltet Ihr eigentlich wissen, Dalton. Schließlich habt Ihr ihn zu dem gemacht, was er ist: den Berater des Schöpfers in dieser Welt. Eure Gemahlin verhält sich nur wie eine treu ergebene Untertanin.« Sie lachte amüsiert. »Überaus treu ergeben, nach allem, was ich mitgehört habe. Nun, man müsste schon ganz Frau sein, wenn man es mit ihr aufnehmen wollte.«

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss aufs Ohr. »Aber versuchen würde ich es gerne, Dalton, mein Schatz.« Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen. »Du hast mich schon immer fasziniert. Du bist der verschlagenste, gefährlichste Mann, den ich je kennen gelernt habe, dabei sind mir schon einige Prachtexemplare über den Weg gelaufen.«

In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Wenn du es erst einmal akzeptiert hast, wirst du feststellen, dass es vollkommen bedeutungslos ist, Dalton. Du wirst schon sehen.

Und ist das Gelübde erst gebrochen, werde ich dann wie bereits angedeutet die Erste sein, an die du dich wendest? Vergiss nicht, du hast es mir versprochen.«

Dalton stand allein in seinem Büro, während seine Gedanken rasten und er überlegte, was er tun sollte.


Kahlan stützte die Arme auf seine Schultern, beugte sich vor und legte ihre Wange an sein Ohr. Es war ein warmes und ermutigendes Gefühl, obwohl es ihn unnötig ablenkte.

»Wie kommst du voran?«

Richard räkelte sich gähnend. Wo sollte er anfangen?

»Dieser Mann hatte einen ausgeprägten Hang zu ungewöhnlichen Ansichten.«

»Wie meinst du das?«

»Ich muss noch eine Menge übersetzen, aber allmählich kann ich mir ein Bild von den Geschehnissen damals machen.« Richard rieb sich die Augen. »Der Mann wird hierher entsandt, um die Chimären zu vertreiben. Sofort macht er sich an die Untersuchung des Problems und sieht eine einfache Lösung. Die Zauberer in der Burg halten sie für erleuchtet und genial, was sie ihm auch sagen.«

»Darauf war er sicherlich sehr stolz«, sagte sie, unverkennbar genau das Gegenteil meinend.

Er verstand ihren sarkastischen Unterton und teilte ihre Einschätzung. »Du hast Recht, nicht Joseph Ander. Er lässt sich hier nicht darüber aus, aber nach dem, was ich zuvor gelesen habe, weiß ich, wie er denkt. Joseph Ander wäre niemals stolz gewesen, etwas zu begreifen, sondern hätte Verachtung für all jene empfunden, die dazu nicht fähig waren.«

»Also gut«, meinte sie, »er hatte also die Lösung. Und weiter?«

»Man trug ihm auf, sich umgehend der Sache anzunehmen. Offenbar hatte man damals ähnliche Schwierigkeiten mit den Chimären wie wir und wollte, dass der Bedrohung unverzüglich ein Ende gemacht wurde. Er beklagt sich, wenn sie schon so vernünftig seien, ihn mit der Angelegenheit zu beauftragen, dann sollten sie auch aufhören, ihm Vorschriften zu machen.«

»Nicht gerade geschickt, so mit den Vorgesetzten in der Burg umzuspringen.«

»Der Grund, dass man ihn beschwor, den Chimären Einhalt zu gebieten, war, dass immer mehr Menschen ohne ersichtlichen Grund starben. Offenbar kannte man ihn dort gut genug, um zu wissen, dass man ihm besser nicht drohte, jedenfalls nicht, solange man sich um andere Aspekte des Krieges zu kümmern hatte. Also trug man ihm auf, sich nach bestmöglicher Einschätzung der Lage zu entscheiden, nur sollte er sich bitte mit der Lösung beeilen, damit die Menschen endlich vor der Bedrohung sicher wären.

Diese Mitteilung erfreute ihn schon weitaus mehr, trotzdem nahm er sie zum Anlass, den Zauberern in der Burg Vorträge zu halten.«

»Worüber?«

Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es war ein frustrierendes Unterfangen, in Worte kleiden zu wollen, was Joseph Ander im Sinn gehabt hatte.

»In diesem Buch muss noch eine Menge übersetzt werden, es geht nur langsam voran. Trotzdem glaube ich nicht, dass es uns verraten wird, wie man die Chimären vertreibt. Es entspricht einfach nicht Joseph Anders Denkweise, so etwas niederzuschreiben.«

Kahlan richtete sich auf und drehte sich mit dem Rücken zum Tisch, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Sie verschränkte die Arme. »Also schön, Richard. Ich kenne dich besser. Was verheimlichst du mir?«

Richard stand auf, kehrte ihr den Rücken zu und presste die Fingerspitzen an die Schläfen.

»Warum vertraust du mir nicht, Richard?«

Er drehte sich zu ihr um und ergriff ihre Hand. »Nein, nein, das ist es nicht … Es ist nur – bei einigen seiner Bemerkungen weiß ich einfach nicht, wo die Wahrheit aufhört und wo Joseph Anders Wahn beginnt. Es übersteigt alles, was ich je über Magie gehört, gelernt oder geglaubt habe.«

Jetzt war es an ihr, ein besorgtes Gesicht zu machen. Vermutlich machte er ihr grundlos Angst, andererseits konnte er ihr vermutlich nicht einmal ansatzweise so viel Angst machen, wie er bereits verspürte.

»Joseph Ander«, begann er, »hielt sich schlicht für besser als die anderen Zauberer.«

»Das wissen wir bereits.«

»Ja, aber möglicherweise hatte er sogar Recht.«

»Was?«

»Manchmal liegen Genie und Wahnsinn dicht beieinander. Ich weiß einfach nicht, wo ich die Grenze ziehen soll, Kahlan. Nichts über Magie zu wissen, kann einerseits von Nachteil sein, andererseits aber bedeutet es, dass ich, im Gegensatz zu den Zauberern auf der Burg damals, nicht mit vorgefassten Meinungen belastet bin. Ich könnte also die Wahrheit in seinen Worten erkennen, wo sie nicht dazu imstande waren.

Sieh doch, Joseph Ander betrachtete Magie nicht so sehr als ein System von Bedingungen – du weißt schon, eine Prise hiervon, dann dieses Wort dreimal aufsagen, während man sich auf dem linken Fuß um seine Achse dreht, und all diese Dinge.

Er sah Magie als eine Form der Kunst – als Ausdrucksmittel.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht ganz folgen. Entweder man bewirkt einen Bann, wenn er wirken soll, so, wie es sich gehört, oder er funktioniert eben nicht. So, wie ich meine Kraft über eine Berührung herbeirufe. So, wie wir die Chimären herbeigerufen haben, indem wir gewisse Anforderungen der Magie erfüllt und sie dadurch freigesetzt haben.«

Er wusste, dass sie aufgrund ihres magischen Könnens, ihres Hintergrundes und ihres Wissens über Magie vor den gleichen Schwierigkeiten stand wie die Zauberer damals. Richard spürte einen winzigen Hauch jener Frustration, die auch Joseph Ander verspürt haben musste. Auch in diesem Punkt verstand er diesen Mann um vieles besser – und begriff ein wenig, wie frustrierend es sein musste, sich von den Menschen irgendwelche unumstößlichen Tatsachen anhören zu müssen, obwohl man es besser wusste, ohne sie jedoch dazu bringen zu können, das abstrakte Gedankengebäude eines größeren Ganzen zu erkennen, das unmittelbar vor ihnen lag.

Wie Joseph Ander erwog auch Richard, es noch einmal zu versuchen.

»Ja, ich weiß, und ich behaupte auch nicht, dass es nicht funktioniert, nur glaubte er, es stecke mehr dahinter. Er war überzeugt, die Magie könne auf eine höhere Ebene geführt werden – auf eine Bewusstseinsebene, die höher liegt als jene, derer sich die meisten mit der Gabe Gesegneten bedienten.«

Jetzt runzelte sie endgültig die Stirn. »Das ist doch Wahnsinn, Richard.«

»Nein, das glaube ich nicht.« Er nahm das Reisebuch zur Hand. »Dies ist die Antwort auf eine ihrer nicht im Buch aufgeführten Fragen – aber du musst sie dir anhören, um zu verstehen, wie Joseph Ander denkt.«

Er las ihr den entscheidenden Punkt der Übersetzung vor.

»›Ein Zauberer, der nicht wirklich zerstören kann, kann auch nicht wirklich erschaffen.‹« Richard tippte auf das Buch. »Damit meinte er einen Zauberer ähnlich denen, die gegenwärtig mit der Gabe gesegnet sind, einen Zauberer, der ausschließlich über Additive Magie verfügt – wie zum Beispiel Zedd. Wer nicht über beide Seiten der Magie verfügte, der besaß in Anders Augen nicht einmal die Gabe. Ein solcher Mann war für ihn nichts weiter als eine Abweichung von der Regel und obendrein hoffnungslos benachteiligt.«

Richard wandte sich wieder dem Reisebuch zu und fuhr fort: »›Ein Zauberer muss sich selbst kennen, sonst läuft er Gefahr, eine unheilvolle Magie zu bewirken, die seinem eigenen freien Willen zuwiderläuft.‹ Hier spricht er von den schöpferischen Aspekten der Magie jenseits ihres eigentlichen Gefüges. ›Magie investiert und bündelt Leidenschaften, sie stärkt nicht nur Empfindungen wie Freude, sondern auch ins Verderben führende Leidenschaften, die auf diese Weise zu Obsessionen werden können.‹«

»Klingt, als wollte er den Hang zu Zerstörung rechtfertigen«, warf sie ein.

»Das denke ich nicht. Ich glaube, er ist einer wichtigen Sache auf der Spur, einer höheren Ausgewogenheit sozusagen.«

Kahlan, die offenkundig nicht begriff, was er sah, schüttelte den Kopf. Da er jedoch nicht wusste, wie er es ihr näher bringen sollte, fuhr er fort: »Was jetzt kommt, ist wichtig. ›Phantasie macht einen großen Zauberer aus, denn mit ihrer Hilfe kann er die Grenzen der Tradition überschreiten, das Gefüge des gegenwärtig Bestehenden verlassen und in den Bereich der Erschaffung des eigentlichen Stoffes der Magie eintreten.‹«

»Das war es, wovon du gesprochen hast? Dass er es für eine – eine Kunstform hält, ein Ausdrucksmittel? Als sei er der Schöpfer persönlich – der aus dem Nichts ein Gewebe der Magie herstellt?«

»Genau. Aber hör dir das an. Ich glaube, dies ist das Wichtigste, was Joseph Ander zu sagen hat. Als die Chimären kein Problem mehr waren, fragten die anderen Zauberer vorsichtig nach, was er getan habe. Man hört ihren Worten beinahe an, wie besorgt sie waren. Dies ist die knappe Antwort auf ihre Frage, was mit den Chimären geschehen sei. ›Eine Huldigung kann in Abhängigkeit zu einem schöpferischen Bann entstehen.‹«

Kahlan rieb sich die Arme, die Antwort hatte sie sichtlich verwirrt. »Bei den Gütigen Seelen, was hat denn das nun wieder zu bedeuten?«

Richard beugte sich ganz nah zu ihr. »Ich glaube, es bedeutet, dass er etwas ersonnen hat – eine neue Magie außerhalb der Parameter des ursprünglichen Zaubers, mit dessen Hilfe die Chimären in diese Welt gelangt waren. Eine Magie, die genau der Situation angepasst war und ihm selbst.

Mit anderen Worten, Joseph Anders wurde schöpferisch tätig.«

Kahlans grüne Augen wanderten ziellos umher. Er wusste, sie versuchte zu ergründen, wie tief die geistigen Verirrungen reichten, mit denen sie es hier zu tun hatten. Dies war der Wahnsinnige, dem sie letztendlich die Chimären zu verdanken hatten.

»Die Welt bricht auseinander«, meinte sie leise bei sich, »und du redest davon, dass Joseph Ander die Magie wie eine Kunstform benutzt hat?«

»Ich erzähle dir lediglich, was dieser Mann geschrieben hat.« Richard wandte sich der letzten Seite zu. »Ich habe einiges übersprungen. Ich wollte sehen, was er den Zauberern ganz zum Schluss aufgeschrieben hat.«

Richard ging die Worte auf Hoch-D’Haran noch einmal durch, um sich der Übersetzung sicher zu sein, dann las er Joseph Anders Worte vor.

»›Schließlich gelangte ich zu dem Schluss, dass ich sowohl Schöpfer als auch Hüter verwerfen muss. Stattdessen schaffe ich meine eigene Lösung, meine eigene Wiedergeburt und meinen eigenen Tod, und indem ich dies tue, werde ich mein Volk für alle Zeiten beschützen. Daher lebt wohl, denn ich werde meinen unsterblichen Geist aufgewühlten Wassern übergeben und auf diese Weise für alle Zeiten über das wachen, was ich mit so viel Sorgfalt gestaltet habe und das jetzt gesichert ist und unantastbar.‹«

Richard blickte auf. »Siehst du es jetzt? Verstehst du?« Er sah, dass sie es nicht verstand. »Ich glaube, Kahlan, er hat die Chimären gar nicht verbannt, wie er sollte. Ich glaube, er hat sie stattdessen für sein eigenen Zwecke benutzt.«

Sie rümpfte die Nase. »Sie benutzt? Wozu kann man Chimären benutzen?«

»Für die Dominie Dirtch.«

»Was! Aber wie war es dann möglich, dass wir einer so genau festgelegten, vorgeschriebenen und klar umrissenen Vorgabe gefolgt sind und sie aus Versehen herbeigerufen haben? Genau das ist es doch, was Joseph Ander überwunden zu haben glaubte, wie du mir weismachen willst.«

Auf diesen Einwand hatte Richard nur gewartet. »Genau darin liegt die Ausgewogenheit. Begreifst du nicht? Magie muss ausgewogen sein. Um etwas Schöpferisches tun zu können, musste er es durch etwas NichtSchöpferisches ausgleichen, nämlich durch eine sehr strenge Formel. Dass diese in ihren Bedingungen für die Freisetzung der Chimären so streng ist, ist in sich der Beweis für das Schöpferische seines Tuns.«

Er kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie weder damit einverstanden war noch in der Stimmung, zu widersprechen. Sie sagte schlicht: »Und wie vertreiben wir die Chimären nun?«

Richard schüttelte den Kopf. In diesem Punkt gab er sich geschlagen.

»Das weiß ich nicht. Ich fürchte, auf diese Frage gibt es keine Antwort. Die Zauberer zu Joseph Anders Zeit standen dem Mann genauso hilflos gegenüber. Am Ende galt dieser Ort bei ihnen schlicht als verloren. Allmählich glaube ich, Joseph Ander schuf eine unzerstörbare Magie im Zentrum eines Rätsels, das keine Lösung hat.«

Kahlan nahm ihm das Buch aus der Hand, klappte es zu und legte es zurück auf den kleinen Tisch.

»Richard, ich glaube, durch das Lesen dieses hochtrabenden Geschwafels eines Irren hast du inzwischen selbst ein wenig den Verstand verloren. So funktioniert Magie einfach nicht.«

Genau das hatten die Zauberer in der Burg gegenüber Ander auch behauptet – dass er ein entscheidendes Element, das von Natur aus unbeherrschbar ist, nicht beherrschen und umformen könne. Das verriet Richard Kahlan jedoch nicht. Sie war nicht darauf vorbereitet, Magie auf diese Weise zu betrachten.

Genauso wenig wie die anderen Zauberer.

Joseph Ander war alles andere als erfreut gewesen, dass man seine Ideen so rundweg ablehnte, daher auch sein endgültiger Abschied.


Kahlan schlang ihm die Arme um den Hals. »Tut mir Leid. Ich weiß, du hast dein Möglichstes getan. Nur werde ich langsam nervös. Das Ergebnis der Abstimmung müsste bald eintreffen.«

Richard legte ihr die Hände um die Taille. »Eines Tages, Kahlan, werden die Menschen die Wahrheit erkennen. Sie haben gar keine andere Wahl.«

Ihr Blick war leer. »Richard«, meinte sie leise, »liebst du mich, jetzt gleich?«

»Hier? Jetzt sofort?«

»Wir können den Zelteingang zubinden. Es kommt ohnehin niemand herein, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.« Sie lächelte. »Ich verspreche dir, ganz leise zu sein und dich nicht in eine peinliche Situation zu bringen.« Sie hob sein Kinn mit einem Finger an. »Ich verspreche, nicht einmal deiner anderen Frau davon zu erzählen.«

Richard lächelte verhalten, dann entgegnete er: »Das können wir nicht tun, Kahlan.«

»Also, ich könnte schon. Und ich wette, ich könnte dich sogar so weit bringen, dass du es dir anders überlegst.«

Richard nahm den kleinen schwarzen Stein an ihrer Halskette in die Hand. »Die Magie ist versiegt, Kahlan. Das hier wird nicht wirken.«

»Ich weiß. Deswegen will ich es ja gerade.« Sie packte sein Hemd. »Es ist mir egal, Richard. Dann zeugen wir eben ein Kind. Was macht das schon?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Wäre das wirklich so schlimm, Richard? Wirklich?« Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen. »Wäre es wirklich so schlimm, wenn wir beide ein Kind zeugten?«

»Nein, nein. Natürlich nicht, Kahlan. Das ist nicht der Grund. Du weißt, ich will es auch. Aber im Augenblick können wir es nicht. Wir können es uns nicht leisten, in jedem Schatten Shota lauern zu sehen, die nur darauf wartet, ihr Versprechen wahr zu machen. Wir dürfen uns nicht von unserer Pflicht ablenken lassen.«

»Von unserer Pflicht. Und was ist mit uns? Mit unseren Wünschen?«

Richard wandte sich ab. »Willst du ein Kind in diese Welt voller Wahnsinn setzen? Des Wahnsinns der Chimären und eines grauenvollen Krieges, der uns zunehmend bedroht?«

»Und wenn ich ›ja‹ sage?«

Er drehte sich wieder zu ihr um und lächelte, denn er sah ein, dass er sie nur verwirrte. Du Chaillus Schwangerschaft hatte Kahlan womöglich auf den Gedanken gebracht, selbst ein Kind zu wollen.

»Wenn du es willst, Kahlan, dann will ich es auch. Einverstanden? Wir werden es tun, wann immer du willst, und um Shota werde ich mich kümmern. In der Zwischenzeit aber … sollten wir da nicht abwarten, bis wir wissen, ob es überhaupt eine Welt des Lebendigen – oder gar eine Welt in Freiheit – geben wird, in die wir unser Kind hineingebären?«

Endlich lächelte sie. »Natürlich. Du hast Recht, Richard. Schätze, es ist einfach mit mir durchgegangen. Wir müssen uns um die Chimären kümmern, um die Imperiale Ordnung…«

Richard nahm sie in die Arme und wollte sie trösten, als draußen vor dem Zelt Captain Meiffert rief. »Siehst du?«, meinte er leise zu ihr. Sie lächelte.

»Ja, Captain, kommt herein.«

Der Mann trat widerstrebend ein. Er vermied es, Richard in die Augen zu sehen.

»Was gibt’s, Captain?«

»Ah, Lord Rahl, Mutter Konfessor … die Abstimmung in Fairfield ist ausgezählt. Einige unserer Männer sind mit Ergebnissen zurückgekehrt. Allerdings nicht alle«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Es werden noch weitere erwartet. Es wird noch einige Tage dauern, bis alle wieder zurück sind.«

»Und wie lautet nun das Ergebnis, Captain?«

Der Mann überreichte ein Stück Papier. Richard las es, doch es dauerte einen Augenblick, bis der Inhalt zu ihm durchdrang.

»Sieben von zehn gegen uns«, entfuhr es ihm leise.

Kahlan nahm ihm das Blatt Papier vorsichtig aus der Hand und betrachtete es. Sie legte es wortlos auf den Tisch.

»Also gut«, sagte er, »wir wissen, dass sie überall in der Stadt Lügen erzählt haben. Dann werden wir eben davon ausgehen müssen, dass es sich auf dem Land anders verhält.«

»Richard«, meinte Kahlan leise, »sie werden auf dem Land dieselben Lügen erzählt haben.«

»Aber wir haben doch mit diesen Leuten gesprochen. Wir waren eine Zeit lang bei ihnen.« Richard wandte sich zu Captain Meiffert. »Was ist mit den weiter außerhalb liegenden Orten?«

»Nun…«

»Was ist mit diesem Ort … mit…« Richard schnippte mit den Fingern. »Mit Westbrook. Wo wir eine Weile zugebracht haben, um uns Joseph Anders Hinterlassenschaft anzusehen? Liegt das Ergebnis von dort schon vor?«

Der Mann war einen Schritt zurückgewichen. »Ja, Lord Rahl.«

»Und wie lautet es, nun redet endlich.«

Kahlan legte ihm eine Hand auf den Arm. »Richard«, meinte sie leise, »der Captain steht auf unserer Seite.«

Richard presste die Finger gegen seine Schläfen und atmete tief durch. »Wie lautet das Ergebnis aus Westbrook, Captain?«

Der Mann, dem ein großer Teil der Farbe aus dem Gesicht gewichen war, räusperte sich. »Neun von zehn haben mit einem Kreuz gegen uns gestimmt, Lord Rahl.«

Richard war bestürzt. Er hatte zu diesen Menschen gesprochen, erinnerte sich noch an einige ihrer Namen, an ihre hübschen Kinder.

Richard war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, als stürzte er durch eine Leere aus Sinnlosigkeit. Tag und Nacht war er auf den Beinen gewesen und hatte versucht, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, selbst über ihr Leben zu bestimmen, über ihre Freiheit, und sie hatten diese Chance zurückgewiesen.

»Richard«, sagte Kahlan sanft, voller Mitgefühl, »es ist nicht deine Schuld. Sie haben diesen Menschen Lügen erzählt. Ihnen Angst gemacht.«

Richard hob die Hand zu einer unbestimmten Geste. »Aber … Ich habe zu ihnen gesprochen, ihnen erklärt, sie täten es für sich, für ihre Zukunft, für die Freiheit ihrer Kinder…«

»Ich weiß, Richard.«

Captain Meiffert wurde verlegen. Kahlan entließ ihn mit einer Handbewegung. Er verbeugte sich und zog sich rasch aus dem Zelt zurück.

»Ich gehe ein Stück spazieren«, meinte Richard leise. »Ich muss allein sein.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die Decken. »Geh einfach schon ohne mich zu Bett.«

Richard trat allein hinaus in die Dunkelheit.

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