Zedd ächzte unter dem Gewicht, als er den Sattel von Spinne heruntergleiten ließ. Allmählich wurde er zu alt für diese Dinge, entschied er. Die Ironie des Gedankens ließ ihn schmunzeln.
Er warf den Sattel über einen umgestürzten Baumstamm, um ihn nicht auf den Boden legen zu müssen. Spinne überließ ihm mit Freuden das übrige Zaumzeug, das Zedd über den Sattel legte. Anschließend deckte er alles mit der Satteldecke zu.
Der Baumstamm mit der Ausrüstung lehnte am Stamm einer alten Fichte, daher war er vor den Unbilden des Wetters geschützt, jedenfalls bis zu einem gewissen Maße. Er häufte Kiefernzweige über das Zaumzeug, die er ineinander verflocht und gegen den Stamm der Fichte lehnte, damit die Ausrüstung so trocken wie möglich blieb, denn er zweifelte nicht daran, dass der Nieselregen bald in Regen übergehen würde.
Spinne, aus ihrer Pflicht entlassen, graste ganz in der Nähe, hielt jedoch ein Auge und Ohr auf ihn gerichtet. Der dreitägige Ritt über den Fluss Drun und hinauf in die Berge war beschwerlich gewesen. Mehr für ihn als für das Pferd; das Pferd war nicht alt. Als er sah, dass Spinne glücklich und zufrieden war, wandte Zedd sich seinem eigenen Vorhaben zu.
Ein kleines, aus einem halben Dutzend Fichten bestehendes Gehölz versperrte ihm den Blick auf sein Ziel. Forschen Schritts ging er am stillen Ufer um die Bäume herum. Unmittelbar hinter ihnen stieg er auf eine Felsnase, die aus dem Boden herausragte, beinahe so, als hätte dort jemand ein Podest errichten wollen. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Zedd hinaus auf den See.
Es war ein betörender Ort. Der Wald hinter ihm endete ein gutes Stück vom Ufer entfernt, als befürchtete er, diesem zu nahe zu kommen, sodass die einsame Höhe und der sachte Anstieg bis auf die wenigen tapferen Fichten frei von Bäumen war. Da und dort war die Halbinsel von Gestrüpp überwuchert, hauptsächlich jedoch sah man dichte Büschel unterschiedlicher Gräser, zwischen denen sich kleine blaue und rosa Wildblumen tummelten.
Rings um den Rest des tiefen Bergsees ragten steile Felswände in die Höhe. Falls dieses einsame und abgelegene Gewässer einen Namen hatte, so war er ihm unbekannt. Außer über diese eine Stelle am Ufer gab es keinen gangbaren Zugang.
Auf der anderen Seite und ein Stück weiter links erhoben sich, mit einer sehr steilen Alm in ihrer Mitte, die wild zerklüfteten Berge, die kaum mehr als ein paar dürren Bäumchen da und dort Gelegenheit boten, ihre zähen Wurzeln zu schlagen. Rechts davon versperrten dunkle Felsklippen den Blick, er wusste jedoch, dass dahinter weitere Berge folgten.
Auf der anderen Seeseite stürzte ein Wasserfall über den Rand einer vorstehenden Felswand. Unmittelbar vor ihm spiegelte sich dieses Bild der Ruhe im still daliegenden See.
Die eisigen, in den See hinabstürzenden Wassermassen stammten aus dem Hochland, aus jenem riesigen See weiter droben in der ungeschützten Ödnis, wo allein die Kriegervögel wachten. Sie bildeten einen Teil des Oberlaufs des Flusses Dammar, der wiederum in den Drun mündete. Dieses kalte, von einem Ort des Todes stammende Wasser mäanderte hinunter in das tiefer liegende Nareef-Tal und ermöglichte dort Leben.
Hinter dem Wasserfall befanden sich die Öfen.
In der Felswand hinter den herabstürzenden Wassermassen waren die Chimären dreitausend Jahre zuvor durch ein in die Unterwelt führendes Tor bestattet worden.
Und nun waren sie auf freiem Fuß.
Dort warteten sie auf die ihnen versprochene Seele.
Zedd bekam allein von der Vorstellung eine Gänsehaut wie von tausend Spinnen auf seinen Beinen.
Wie schon unzählige Male zuvor, so versuchte er auch jetzt wieder seine Gabe der Magie herbeizurufen. Er tat sein Möglichstes, sich einzureden, sie würde diesmal kommen. Er breitete die Arme aus, reckte sie, die Handflächen nach oben gedreht, gen Himmel, und bemühte sich, die Magie durch gutes Zureden herbeizulocken.
Der friedlich daliegende See sollte seine Magie nicht zu sehen bekommen. Stumm wartend nahmen die Berge sein Scheitern hin.
Zedd, der sich sehr allein und sehr alt fühlte, entfuhr ein stolzes, übermütiges Lachen. Er hatte es sich tausendmal anders vorgestellt.
Nie jedoch hatte er geglaubt, auf diese Weise zu sterben.
Deshalb hatte er Richard nicht sagen dürfen, dass es die Chimären selbst waren, die sich auf freiem Fuß befanden. Richard hätte Zedds Vorhaben, zu dem er keine Alternative sah, niemals gutgeheißen.
Zedd riss sich aus seinen alles erdrückenden, schwermütigen Gedanken und ließ den Blick über den See schweifen. Er musste mit den Gedanken bei der Sache bleiben, sonst konnte ihm leicht ein Fehler unterlaufen, und sein Opfer wäre vergeblich. Wenn er dies schon tat, dann wenigstens richtig. Eine gut gemachte Arbeit hatte etwas Befriedigendes, selbst eine Arbeit wie diese.
Während er geübten Auges die Szenerie musterte, offenbarte das anfangs so friedlich wirkende Wasser mehr. Im Wasser wimmelte es von unsichtbaren, in lauernden Schwärmen umherziehenden Wesen, die vor düsteren Absichten überzuschäumen schienen.
Im Wasser wimmelte es von Chimären des Todes.
Zedd sah wieder zum Wasserfall hinüber. Unmittelbar dahinter konnte er den dunklen Schlund der Höhle erkennen. Dort musste er hin, über das Wasser, über das von den Chimären geradezu aufgewühlte Wasser.
»Sentrosi!« Zedd breitete die Arme aus. »Ich bin gekommen, um dir aus freien Stücken die Seele anzubieten, nach der du trachtest. Was mir gehört, überlasse ich nun dir!«
Flammen umzüngelten die Wassersäule und verschlangen sie mit großen, dröhnend hervorschießenden Feuerwolken, die sich zuckend und peitschend aus jenem Ort, genannt ›die Öfen‹, hervorwälzten; die Glut des Feuers spiegelte sich orangefarben auf der Oberfläche des Sees. Der Wasserfall wurde für einen Augenblick in Dampf verwandelt. Tintenschwarzer Rauch türmte sich gemeinsam mit dem weißen Dampf empor und verdrehte sich zu einer unheimlichen Säule, die den Schlund des Todes markierte.
Dann erklang der helle Glockenschlag einer Chimäre, der in den Bergen widerhallte.
Sentrosi hatte geantwortet.
Die Antwort lautete: ja.
»Reechani!«, rief er zum Wasser vor ihm. »Vasi!«, rief er in die ihn umgebende Luft. »Lasst mich passieren, denn ich bin gekommen, um euch allen meine Seele zu überlassen.«
Das Wasser geriet wirbelnd und kreisend in Bewegung, als hätte sich ein Schwarm aus Fischen in Ufernähe vor ihm versammelt. Eher noch schien aber das Wasser selbst lebendig, hungrig, voller Gier. Zedd vermutete, dass es das auch war.
Die Luft ringsum schien sich zu verdichten, sie bedrängte ihn, schob ihn voran.
Das Wasser richtete sich auf und drehte sich gestikulierend zu den Öfen. Die Luft summte vom Klang der Chimären, zahllosen einzelnen Glockenschlägen gleich, die zusammen ein einziges, kristallklares Geräusch ergaben. Die Luft roch verbrannt.
Da es bereits zu regnen begonnen hatte, sah Zedd nicht ein, wieso es eine Rolle spielen sollte, wenn er noch nasser würde. Er trat hinaus ins Wasser.
Statt wie erwartet schwimmen zu müssen, fand er eine Oberfläche vor, die fest genug war, ihn zu tragen, beinahe wie Eis, nur dass sie sich bewegte. Seine Schritte zogen Kreise, die ihn berührten und wieder zurückschwappten, als wäre dies nichts weiter als eine kleine Pfütze, durch die er watete. Jeder seiner Schritte stieß auf Unterstützung.
Es war die Unterstützung der Chimären, von Reechani, die ihn zu seinem Verhängnis trugen, zu ihrer Königin. Vasi, die Chimären der Luft, begleiteten ihn, ein Gewand aus Tod, das ihn vollständig einhüllte.
Zedd spürte den Hauch der Unterwelt in der Luft. Er spürte den feuchten Tod zu seinen Füßen. Er wusste, jeder Schritt konnte sein letzter sein.
Er musste an Juni denken, den Jäger der Schlammenschen, der ertrunken war. Zedd fragte sich, ob Juni den erhofften Frieden gefunden hatte, den Frieden, den man ihm vor seinem Tod versprochen hatte.
Da er die Absicht der Chimären kannte, vermutete Zedd stark, dass sie ihn erst mit quälender Gelassenheit locken, dann ihren Terror ausüben und ihm schließlich das Leben nehmen würden.
Er hatte den Wasserfall noch nicht ganz erreicht, als sich etwas Unsichtbares durch die Wassersäule bohrte. Körperlose Hände teilten den Wasserfall und ließen in der Mitte eine Öffnung zurück, durch die er in die dahinter liegende Höhle treten konnte. Er vermutete, dass er Sentrosi, dem Feuer, leidlich trocken lieber war.
Als er in die Felsenöffnung trat und bevor er hindurchging in die Höhle, vernahm er ein missbilligendes Schnauben von Spinne. Zedd drehte sich um.
Das Pferd stand am Ufer, die Beine gespreizt, die Muskeln angespannt. Die Ohren waren angelegt, die Augen funkelten. Ihr Schweif schlug, ihre Flanken peitschend, von einer Seite auf die andere.
»Alles in Ordnung, Spinne!«, rief Zedd dem aufgeregten Tier zu. »Ich schenke dir die Freiheit.« Zedd lächelte. »Wenn ich nicht zurückkomme … freu dich deines Lebens, meine Freundin. Genieße das Leben.«
Spinne stieß einen lang gezogenen, verärgerten schrillen Schrei aus. Zedd winkte ihr ein letztes Mal, und der Schrei ging in ein tiefes Brüllen über.
Zedd drehte sich um und trat hinter das herabstürzende Wasser – in die Dunkelheit. Der Vorhang des Wasserfalls schloss sich hinter ihm.
Er zögerte nicht, denn er war fest entschlossen, den Chimären zu geben, was sie verlangten: eine Seele. Wenn er es auf eine Weise tun konnte, die ihm das Leben erhielt, dann würde er es tun. Ohne seine Magie bestand allerdings nur wenig Hoffnung, dass er sein Vorhaben durchführen und dabei unversehrt bleiben konnte.
Als Oberster Zauberer besaß er einige Kenntnisse über das anstehende Problem. Die Chimären brauchten eine Seele, um in der Welt des Lebendigen verweilen zu können – auf diese Weise waren sie heraufbeschworen worden. Mehr noch, sie benötigten eine ganz besondere Seele: ebenjene, die man ihnen versprochen hatte.
Wesen aus der Unterwelt, vor allem seelenlose Wesen, hatten zweifellos nur ein begrenztes Verständnis dafür, was es hieß, eine Seele zu besitzen, oder was für eine Art von Seele man ihnen zugesichert hatte. Natürlich mussten gewisse spezifische Vorschriften zur Anwendung kommen, darüber hinaus jedoch befanden sich die Chimären in einer für sie fremden Welt. Auf dieser Unwissenheit beruhte seine einzige Hoffnung.
Wegen ihrer engen Verwandtschaft, und weil das Leben durch ihn an Richard weitergegeben worden war, waren ihre Seelen über zarte Bande und Verbindungen miteinander verknüpft; ihre Seelen waren wie ihre Körper miteinander verwandt. So wie sie andere Dinge gemeinsam hatten, die Form des Mundes zum Beispiel, wiesen auch ihre Seelen die gleichen Merkmale auf.
Dennoch war jeder von ihnen ein einzigartiges Individuum, und genau darin lag die Gefahr.
Er hoffte, die Chimären würden seine Seele mit jener verwechseln, die sie benötigten, und sie als die Seele akzeptieren, die sie haben wollten, und, da es letztendlich die falsche war, daran ersticken. Sozusagen.
Es war Zedds einzige Hoffnung. Er wusste keine andere Möglichkeit, den Chimären Einhalt zu gebieten. Mit jedem Tag, der verstrich, stieg die Gefahr für die Welt des Lebendigen. Jeden Tag starben Menschen. Mit jedem Tag wurde die Magie schwächer.
So gerne er weitergelebt hätte, er wusste einfach keinen anderen Ausweg, als sein Leben zu verwirken, um die Chimären zu stoppen, und zwar jetzt sofort, bevor es zu spät war.
Sobald sie sich der ihnen versprochenen Seele öffneten und sie dadurch verwundbar waren, würde seine Seele den Fluss jenes Bannes unterbinden, mit dessen Hilfe sie in diese Welt gelangt waren.
In Anbetracht dessen, dass er ein Zauberer war, war diese Hoffnung nicht ganz unbegründet; genau genommen war sein Vorgehen durchaus logisch. Von zweifelhaftem Ausgang, aber logisch.
Zedd wusste, dass sein Plan den Bann zumindest in gewissem Maße stören würde – in etwa vergleichbar mit einem in tödlicher Absicht auf ein Tier abgeschossenen Pfeil, der sein Ziel knapp verfehlte, das Tier aber wenigstens verwundete.
Doch wie sich das alles auf ihn selbst auswirken würde, wusste er nicht. Zedd gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. Vernünftigerweise erwartete er, sein Vorhaben werde, wenn es ihn nicht bereits durch den Verlust seiner Seele umbrachte, die Chimären verärgern, woraufhin diese ihre Rache nehmen würden.
Zedd lächelte. Der Ausgleich dafür bestand darin, dass er endlich seine geliebte Erylin in der Welt der Seelen Wiedersehen würde, wo ihr unsterblicher Geist auf ihn wartete.
Die Hitze im Innern war erdrückend.
Die Wände bestanden aus langsam wogendem, sich hin und her werfendem, wirbelndem, flüssigem Feuer.
Er befand sich im Innern der Bestie.
In der Mitte der pulsierenden Höhle richtete Sentrosi, die Königin des Feuers, ihren todbringenden Blick auf ihn. Flammenzungen kosteten die Luft ringsum. Sie lächelte – ein gelber Flammenwirbel.
Ein letztes Mal unternahm Zedd den vergeblichen Versuch, seine Magie herbeizurufen.
Sentrosi schoss mit Furcht erregender Geschwindigkeit und in beängstigender Gier auf ihn zu.
Zedd spürte den sengenden Schmerz in jedem Nerv, während eine unvorstellbare Angst von seiner Seele Besitz ergriff.
Die Welt ging in Flammen auf. Sein Schrei explodierte in einem ohrenbetäubenden Glockenschlag.
Richard schrie auf. Der Schmerz des schneidenden, schallenden Glockenschlags schien ihm den Schädel zu zerreißen.
Er nahm seine Umgebung nur undeutlich wahr, als er über die Weichen seines Pferdes nach hinten stürzte. Der Schmerz des Aufpralls auf dem Boden war eine angenehme Abwechslung zu dem überlauten Klingen, das ihm die Beherrschung raubte und den Schrei entriss.
Er hielt sich den Kopf, als er sich unkontrolliert vor Schmerzen brüllend auf der Straße zu einem Ball zusammenrollte.
Die Welt war nichts als glühende Qual.
Ringsum sprangen Leute Befehle brüllend von den Pferden. Richard nahm sie nur als verschwommen umherirrende Schatten wahr. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Er erkannte keinen.
Er begriff nichts, außer seinem Schmerz.
In seinem quälenden Kampf gegen den unerbittlich über ihn hereinbrechenden Schmerz konnte er nichts weiter tun, als die fadendünne Verbindung zu seinem Bewusstsein, zum Leben, aufrechtzuerhalten.
Das Einzige, was ihn noch am Leben hielt, war die Tatsache, dass er wie jeder zukünftige Zauberer den Schmerztest bestanden und überlebt hatte. Ohne die damals gelernten Lektionen wäre er längst tot.
Er befand sich allein in einer Hölle ganz für ihn allein.
Und er wusste nicht, wie lange er sich noch ans Leben würde klammern können.
Alles schien gleichzeitig aus den Fugen geraten zu sein. Beata rannte über den grasbewachsenen Untergrund, so schnell ihre Füße sie trugen. Ein entsetzliches Gefühl der Angst wütete in ihrem Innern.
Turner hatte aufgehört zu schreien. Es war grauenhaft gewesen, hatte aber nur wenige Sekunden gedauert.
»Halt!«, schrie Beata aus Leibeskräften. »Halt! Habt ihr den Verstand verloren? Halt!«
Die Luft hallte noch immer wider vom Geräusch der Dominie Dirtch. Das tiefe Glockengeläut ließ den Staub über dem Gras aufsteigen, sodass man den Eindruck hatte, als rauche rundherum der Erdboden. Die Vibrationen rollten den Staub zu kleinen Kügelchen. Sie brachten einen kleinen, einzeln stehenden Baum zu Fall, den der letzte Trupp gepflanzt hatte.
Die gesamte Welt erzitterte unter ihrem schauderhaften Brummen.
Tränenverschmiert rannte Beata über das Feld und schrie, sie sollten aufhören, die Glocke anzuschlagen.
Turner hatte sich ein Stück vor ihnen auf einem normalen Patrouillengang befunden, um sicherzustellen, dass sich niemand in dem Gelände vor der Dominie Dirtch aufhielt.
Sein Gebrüll war nur Sekunden nach dem Anschlagen der Dominie Dirtch abgerissen, doch noch immer hallten ihr seine Qual und sein Entsetzen durch den Kopf. Sie würde diesen Schrei ihr Leben lang nicht vergessen.
»Halt!«, gellte ihre Stimme, und sie packte das Geländer, um sich daran auf die Treppe zu ziehen. »Halt!«, rief sie noch einmal, die Stufen hinaufhastend.
Mit erhobenen Fäusten stürzte Beata auf die Plattform, bereit, auf den Wahnsinnigen einzuprügeln, der die Dominie Dirtch angeschlagen hatte.
Beata blieb keuchend stehen und sah sich um. Emmeline stand starr vor Schreck da, die Augen aufgerissen. Auch Bryce schien halb wahnsinnig vor Angst. Er schaute sie in Panik erstarrt an.
Der lange Schlegel, mit dem die Dominie Dirtch angeschlagen wurde, stand noch in seiner Halterung. Keiner der beiden auf der Plattform befand sich auch nur in seiner Nähe. Von ihnen hatte niemand den hölzernen Schlegel dazu benutzt, die tödliche Waffe auszulösen.
»Was habt ihr nur getan!«, schrie sie die beiden an. »Womit habt ihr sie ausgelöst? Habt ihr den Verstand verloren?« Sie blickte über ihre Schulter auf den von Knochen durchsetzten Haufen jener blutigen Masse, die wenige Augenblicke zuvor noch Turner gewesen war.
Beatas Arm schnellte vor und zeigte darauf. »Ihr habt ihn umgebracht! Warum habt ihr das getan? Was ist nur los mit euch?«
Emmeline schüttelte langsam und verständnislos den Kopf. »Ich habe mich keinen Schritt von der Stelle gerührt.«
Bryce fing an zu zittern. »Ich auch nicht. Wir haben das verdammte Ding nicht angeschlagen, Sergeant. Ich schwöre es. Wir standen nicht mal in seiner Nähe. Wir waren das nicht.«
Als sie die beiden in der Stille anstarrte, wurde Beata plötzlich bewusst, das sie von weitem Schreie hörte. Sie blickte hinaus in die Ebene, hinüber zur nächsten Dominie Dirtch. Dort drüben konnte sie gerade eben Menschen ausmachen, die umherliefen, als wäre die Welt aus den Fugen geraten.
Sie wirbelte herum und spähte in die entgegengesetzte Richtung. Dort bot sich das gleiche Bild: Menschen schrien, liefen durcheinander. Beata schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in die Ferne. Die Überreste zweier Soldaten lagen draußen vor ihrem Posten.
Estelle Ruffin und Corporal Marie Fauvel trafen bei Turners Überresten ein. Estelle fing, sich mit beiden Händen die Haare raufend, an zu schreien. Marie wandte sich ab und übergab sich.
Schuld daran war ihre Ausbildung. Schuld war die Art, wie bestimmte Dinge getan werden mussten. Angeblich wurde es seit Jahrtausenden schon so gemacht.
Jeder Trupp, von jeder Dominie Dirtch, sandte zur selben Zeit eine Patrouille aus, um das Gelände zu erkunden. Auf diese Weise konnte, was oder wer immer dort draußen gerade sein Unwesen trieb, nicht einfach dem einen Soldaten ausweichen und sich andernorts verstecken.
Nicht nur ihre, sondern sämtliche Dominie Dirtch entlang der Grenze waren von selbst erklungen.
Kahlan packte Richards Hemd; er war immer noch bewusstlos vor Schmerzen. Es gelang ihr nicht, ihn aus der zusammengekrümmten Haltung zu lösen, zu der er sich eingerollt hatte. Sie wusste nicht genau, was geschehen war, aber sie hatte eine Befürchtung.
Offensichtlich schwebte er in tödlicher Gefahr.
Sie hatte seinen Aufschrei gehört. Sie hatte gesehen, wie er vom Pferd gestürzt und auf dem Boden aufgeschlagen war. Nur wusste sie einfach nicht, warum.
Ihr erster Gedanke war: ein Pfeil. Die Vorstellung, der Pfeil eines gedungenen Mörders könnte ihn getötet haben, hatte ihr einen entsetzlichen Schrecken eingejagt, doch konnte sie kein Blut erkennen. Sie hatte ihre Gefühle ausgeschaltet, hatte nach Blut gesucht, aber bei einer ersten flüchtigen Untersuchung keines gefunden.
Kahlan sah auf, als eintausend d’Haranische Soldaten rings um sie ausschwärmten. Nach Richards Schrei und seinem Sturz vom Pferd waren sie augenblicklich und ohne ihren Befehl in Bewegung geraten. Im Nu wurden Schwerter aus ihren Scheiden gezogen, Äxte lösten sich aus den Gürtelhalterungen und landeten in angriffsbereiten Fäusten, Lanzen wurden gesenkt.
Im gesamten Umkreis hatten Männer ein Bein über den Hals ihres Pferdes geschwungen und waren, die Waffen kampfbereit in den Händen, zu Boden gesprungen. Andere Soldaten schlossen, den nächsten Schutzring bildend, die Reihen und wendeten ihre Pferde, bereit zum Sturmangriff nach außen. Wieder andere, der äußerste Rand der Einsatztruppe, waren davongestürmt, um die Angreifer ausfindig zu machen und das Gelände von allen Feinden zu säubern.
Kahlan hatte sich Zeit ihres Lebens im Umfeld von Armeen aufgehalten und kannte sich aus mit kämpfenden Truppen. An ihrer Reaktion erkannte sie, dass diese Männer so gut waren, wie man es sich nur wünschen konnte. Befehle waren nicht erforderlich gewesen; jedes Verteidigungsmanöver wurde erwartungsgemäß ausgeführt, und das schneller, als hätte sie die entsprechenden Befehle erteilt.
Über ihr und Richard bildeten die Baka Tau Mana, die Schwerter gezückt und kampfbereit, einen undurchdringlichen Schutzring. Worin der Angriff auch bestand, ob es ein Pfeil war, ein Wurfspeer oder etwas anderes, Kahlan konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Beschützer den Angreifern ein weiteres Mal Gelegenheit geben würden, ihren Lord Rahl zu attackieren. Selbst wenn alles andere versagte, hatten sich inzwischen zu viele Männer in Ringen um sie geschart, als dass ein Pfeil noch hätte hindurchgelangen können.
Kahlan, ein wenig überwältigt von dem plötzlichen Durcheinander, erkannte mit einem Anflug von Besorgnis, dass Cara vielleicht verärgert sein könnte, weil sie zugelassen hatte, dass Richard etwas zugestoßen war. Schließlich hatte Kahlan versprochen, alles Unheil von ihm fern zu halten – als hätte sie das Cara extra versprechen müssen.
Du Chaillu bahnte sich einen Weg durch ihre Meister der Klinge und ging auf Richards anderer Seite in die Hocke. Sie hatte einen Wasserschlauch und ein Stück Stoff zum Verbinden der Wunde bei sich.
»Habt Ihr die Verletzung gefunden?«
»Nein«, antwortete Kahlan, an ihm herumsuchend.
Sie legte ihm eine Hand seitlich gegen das Gesicht und fühlte sich dabei an die Zeit erinnert, als er die Pest hatte und wegen des Fiebers nicht bei klarem Verstand war, nicht wusste, wo er sich befand. Eine Krankheit konnte er nicht haben, nicht so, wie er geschrien hatte und vom Pferd gestürzt war, trotzdem schien er vor Fieber zu glühen.
Du Chaillu tupfte Richard das Gesicht mit einem feuchten Lappen ab. Kahlan fiel auf, dass auch Du Chaillus Gesicht von Sorgenfalten gezeichnet war.
Kahlan setzte ihre Untersuchung bei Richard fort und versuchte herauszufinden, ob er von irgendeiner Art Speer oder Bolzen getroffen worden war. Er zitterte heftig, fast krampfartig. Hektisch suchend wälzte sie ihn auf die Seite und untersuchte seinen Rücken, um endlich herauszufinden, woher seine Schmerzen rührten. Sie konzentrierte sich auf das, was sie tat, und versuchte nicht an ihre Besorgtheit zu denken, um nicht vom Schock überwältigt zu werden.
Du Chaillu, die offenbar kein Bedürfnis verspürte, nach einer Wunde zu suchen, streichelte Richard das Gesicht, als Kahlan ihn sachte wieder auf den Rücken wälzte.
»Ich kann nichts finden«, meinte Kahlan schließlich erbittert.
»Das werdet Ihr auch nicht«, meinte Du Chaillu kühl.
»Warum nicht?«
Die Seelenfrau der Baka Tau Mana flüsterte Richard zärtliche Worte zu. Obwohl Kahlan ihre genaue Bedeutung nicht verstand, begriff sie doch die Gefühle, die dahinter steckten.
Kahlan sah sich nach den Soldaten um, die einen Ring um sie gebildet hatten. Sie legte Richard die Hände schützend auf die Brust.
»Was soll das heißen?«
Du Chaillu schob Kahlans Hände sacht beiseite.
»Es handelt sich um eine Verletzung des unsterblichen Geistes. Der Seele. Lasst mich ihn versorgen.«
Kahlan legte Richard ihre Hand zärtlich aufs Gesicht. »Woher willst du das wissen?«
»Ich bin eine Seelenfrau. Ich sehe diese Dinge.«
»Nur weil…«
»Habt Ihr eine Wunde gefunden?«
Kahlan schwieg einen Augenblick und versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden. »Hast du eine Idee, wie wir ihm helfen können?«
»Dies übersteigt Eure Fähigkeit zu helfen.« Du Chaillu senkte ihren Kopf mit dem braunen Haarschopf und presste Richard die Hände auf die Brust.
»Überlasst das mir«, murmelte Du Chaillu, »sonst stirbt unser Gemahl.«
Kahlan ließ sich auf die Fersen sinken und sah zu, wie die Seelenfrau der Baka Tau Mana, den Kopf gesenkt, die Hände auf Richards Körper, die Augen schloss, als versinke sie in einer Art Trance. Man hörte leise geflüsterte Worte, die vielleicht ihr selbst galten, ganz sicher aber nicht für fremde Ohren bestimmt waren. Ihre Arme zitterten.
Du Chaillu verzog schmerzgequält das Gesicht.
Unvermittelt wich sie zurück und unterbrach die Verbindung. Kahlan hielt sie am Arm fest, damit sie nicht nach hinten kippte.
»Alles in Ordnung?«
Du Chaillu nickte. »Meine Kraft. Es hat funktioniert. Sie war wieder da.«
Kahlan blickte von der Frau zu Richard. Er wirkte ruhiger.
»Was hast du gemacht? Was ist passiert?«
»Irgendetwas hat versucht, seine Seele zu rauben. Ich habe diese Kraft mit Hilfe meiner Magie zunichte gemacht und verhindert, dass der Tod nach ihm greift.«
»Deine Kraft ist zurückgekehrt?« Kahlan zweifelte daran. »Aber wie ist das möglich?«
Du Chaillu schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Sie kehrte zurück, als der Caharin aufschrie und von seinem Pferd stürzte. Ich wusste es sofort, weil ich meine Bande zu ihm wieder spüren konnte.«
»Vielleicht sind die Chimären geflohen und in die Unterwelt zurückgekehrt?«
Wiederum schüttelte Du Chaillu den Kopf. »Was immer es war, es lässt bereits wieder nach. Meine Kraft wird wieder schwächer.« Sie starrte einen Augenblick vor sich hin. »Jetzt ist sie wieder fort. Sie war gerade lange genug da, dass ich ihm helfen konnte.«
Du Chaillu gab ihren Männern leise Befehl, zurückzutreten, es sei vorüber.
Kahlan war alles andere als überzeugt. Sie warf abermals einen Blick auf Richard. Alles deutete darauf hin, dass er ruhiger wurde. Sein Atem ging zusehends gleichmäßiger.
Unvermittelt schlug er die Augen auf. Er blinzelte in die Helligkeit.
Du Chaillu beugte sich über ihn und tupfte ihm mit dem feuchten Lappen den Schweiß von der Stirn.
»Jetzt seid Ihr wieder wohlauf, mein Gemahl«, sagte sie.
»Du Chaillu«, murmelte er, »wie oft muss ich es dir noch erklären, ich bin nicht dein Gemahl. Du deutest die alten Gesetze falsch.«
Du Chaillu sah lächelnd zu Kahlan auf. »Seht Ihr? Es geht ihm schon wieder besser.«
»Den Gütigen Seelen sei Dank, dass du hier warst, Du Chaillu«, meinte Kahlan mit leiser Stimme.
»Erklärt ihm das, wenn er das nächste Mal jammert, ich solle ihn verlassen.«
Kahlan konnte nicht anders, sie musste über Richards Hilflosigkeit gegenüber Du Chaillu sowie ihre eigene freudige Erleichterung schmunzeln. Und plötzlich drohten ihr die Tränen zu kommen, doch sie hielt sie zurück.
»Geht es dir gut, Richard? Was ist passiert? Was hat dich vom Pferd geworfen?«
Richard versuchte sich aufzusetzen, doch sowohl Kahlan als auch Du Chaillu drückten ihn wieder hinunter.
Richard gab seinen Versuch sich aufzurichten auf. Er sah Kahlan aus seinen grauen Augen an. Sie hielt seinen Arm fest umklammert, noch einmal den Gütigen Seelen dankend.
»Was genau passiert ist, weiß ich nicht«, meinte er schließlich. »Es war, als sei dieses Geräusch – wie von einer ohrenbetäubend lauten Glocke – in meinem Kopf explodiert. Die Schmerzen waren, als ob…« Ein Teil der Farbe wich aus seinem Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gespürt.«
Er setzte sich auf, diesmal die ihn zurückhaltenden Hände beiseite wischend. »Aber jetzt geht es wieder.«
»Da bin ich nicht so sicher«, zweifelte Kahlan.
»Doch, bestimmt«, meinte er. Er sah sich um. »Es war, als hätte etwas an meiner Seele selbst gezogen.«
»Es hat sie nicht bekommen«, erklärte Du Chaillu. »Es hat es versucht, aber es hat sie nicht bekommen.«
Sie meinte es todernst. Kahlan glaubte ihr.
Das Fell nervös zuckend, stand die Stute regungslos da, die Hufe in den grasbewachsenen Boden gestemmt. Ihr Instinkt riet ihr, davonzulaufen. Kleine Wellen der Panik ließen ihre Muskeln erzittern, trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle.
Der Mann war hinter dem herabstürzenden Wasser verschwunden, in dem dunklen Loch.
Sie mochte keine Löcher. Kein Pferd mochte die.
Er hatte geschrien. Der Erdboden hatte gebebt. Das war vor langer Zeit gewesen. Seitdem hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt. Jetzt war alles still.
Die Stute wusste jedoch, dass ihr Freund noch lebte.
Sie stieß einen lang gezogenen, tiefen Schrei aus.
Er lebte noch, war aber nicht wieder herausgekommen.
Die Stute war allein.
Für ein Pferd gab es nichts Schlimmeres, als allein zu sein.