26

»Dort«, meinte Richard und beugte sich hinüber, damit Kahlan an seinem Arm entlang blicken konnte, während er auf einen fernen Punkt am Horizont zeigte. »Siehst du den tief dunklen Flecken auf der Wolke vor dem etwas helleren Teil?« Er wartete ab, bis sie nickte. »Unterhalb davon, und dann ein Stück weiter rechts.«

Kahlan, inmitten eines scheinbar endlosen Meeres aus beinahe hüfthohem Gras stehend, hielt sich die Hand an die Stirn, um ihre Augen gegen die morgendliche Helligkeit zu schützen.

»Ich kann ihn noch immer nicht erkennen.« Sie machte ihrer Unzufriedenheit mit einem Seufzer Luft. »Allerdings konnte ich weit entfernte Dinge noch nie so gut sehen wie du.«

»Ich sehe ihn auch nicht«, meinte Cara.

Richard sah nochmals über seine Schulter und ließ den Blick suchend über das umliegende menschenleere Grasland schweifen, um sich zu überzeugen, daß nicht plötzlich jemand angeschlichen kam und sie überraschte, während sie das Näherkommen dieses Mannes beobachteten. Er konnte nichts Bedrohliches entdecken.

»Noch nicht, aber gleich.«

Er langte hinüber, um sich zu vergewissern, daß sein Schwert fest in der Scheide steckte, doch erst als er merkte, daß sein Schwert nicht an seiner linken Hüfte hing, wurde ihm bewußt, was er tat. Stattdessen nahm er seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil ein.

Unzählige Male hatte er sich gewünscht, das Schwert der Wahrheit und die damit verbundene Magie los zu sein, da es in seinem Innern Gefühle auslöste, die er zutiefst verabscheute. Die Magie des Schwertes konnte mit diesen Empfindungen zu einem tödlichen Zorn verschmelzen. Als Zedd ihm damals das Schwert überreicht hatte, hatte er Richard erklärt, es sei nichts weiter als ein Werkzeug, Es hatte eine Weile gedauert, bis Richard Zedds Ratschlag schließlich verstanden hatte.

Nichtsdestoweniger war es ein beängstigendes Werkzeug, wenn man gezwungen war, sich seiner zu bedienen.

Wer dieses Schwert führte, dem oblag nicht nur die Kontrolle über die Waffe, sondern auch über sich selbst. Dies zu begreifen war unter anderem entscheidend, wenn man die Waffe ihrer Bestimmung gemäß benutzen wollte. Und bestimmt war diese Waffe ausschließlich für einen echten Sucher der Wahrheit.

Richard schauderte bei der Vorstellung, diese Erfindung der Magie könnte in die falschen Hände geraten. Er dankte den Guten Seelen, daß es, wenn er es schon nicht bei sich tragen konnte, wenigstens in Sicherheit war.

Unterdessen kam der Mann unter den fernen, sich hoch auftürmenden Wolken, deren Innenleben im morgendlichen Licht in tiefem Gelb bis hin zu beunruhigendem Violett erglühte – Farben, die auf die Heftigkeit des in ihnen verborgenen Unwetters hindeuteten –, immer näher. Im Innern des enormen Wolkengebirges zuckte und flackerte ein auf diese Entfernung lautloser Blitz und brachte verborgene Schluchten, Talwände und wallende Gipfel zum Aufleuchten. Verglichen mit anderen Orten, an denen er gewesen war, wirkten Himmel und Wolken über den flachen Ebenen unfaßbar grandios. Vermutlich, weil von einem Ende des Horizonts bis zum anderen nichts – kein Berg, kein Baum, überhaupt nichts – das Schauspiel auf der Bühne des Himmelsgewölbes störte.

Die abziehenden Gewitterwolken waren erst kurz vor dem Morgendämmern endlich nach Osten weitergezogen und hatten den Regen mitgenommen, der ihnen während ihres Aufenthaltes bei den Schlammenschen so sehr zu schaffen gemacht hatte. Es war ihr erster Reisetag und ihre erste erbärmlich kalte Nacht ohne ein Lagerfeuer gewesen. Im Regen unterwegs zu sein war überaus unangenehm. Die drei waren, so kurz nach Abzug des Regens, noch immer gereizt.

Wie er, war auch Kahlan besorgt um Zedd und Ann, zudem beunruhigte es sie, was der Lauer als nächstes anstellen würde. Außerdem war es frustrierend, eine langwierige Reise unternehmen zu müssen, wenn sie es so eilig hatten und die Angelegenheit so wichtig war, statt kurzerhand in der Sliph nach Aydindril zurückzukehren.

Richard wäre um ein Haar bereit gewesen, das Risiko einzugehen. Um ein Haar.

Cara dagegen schien eine ganz andere Sorge zu beschäftigen. Sie war so übellaunig wie eine im Sack gefangene Katze. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, hineinzugreifen und sich zerfleischen zu lassen. Wenn es wirklich wichtig war, davon ging er aus, würde sie es ihnen schon erklären.

Außerdem machte Richard der Umstand zu schaffen, daß er jetzt, da es Ärger zu geben schien, sein Schwert nicht bei sich trug. Er befürchtete, der Lauer könnte versuchen, Kahlan etwas anzutun, jetzt, da er sie nicht beschützen konnte. Auch ohne den durch die Schwestern der Finsternis ausgelösten Ärger drohten einem Konfessor eine Menge ganz gewöhnlicher Gefahren, darüber hinaus gab es eine ganze Reihe von Personen, die ihre Hilflosigkeit nur zu gerne ausnutzen würden, um alte Rechnungen zu begleichen.

Jetzt, da der Bann die Magie zerfraß, würde ihre Konfessorenkraft früher oder später dahingeschwunden sein, und sie würde auf ihren Schutz verzichten müssen. Er mußte sie unbedingt beschützen können, doch ohne sein Schwert befürchtete er, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein.

Jedesmal, wenn er nach seinem Schwert griff und es nicht da war, empfand er ein Gefühl der Leere, das er nicht in Worte zu kleiden vermochte. Ihm war, als fehlte ein Stück von ihm selbst.

Richard war allerdings auch noch aus einem anderen Grund wegen ihrer Reise nach Aydindril unbehaglich zumute. Irgend etwas schien daran verkehrt zu sein. Er versuchte es mit der Sorge um Zedd zu erklären, den er in geschwächtem und verletzbarem Zustand zurückgelassen hatte. Zedd hatte ihm jedoch zu verstehen gegeben, er habe keine andere Wahl.

Bis zu dem Augenblick, da er den Fremden erblickt hatte, schien ihr zweiter Tag sonnig, trocken und insgesamt angenehmer zu werden. Richard setzte die Bogensehne leicht unter Spannung. Seit ihrer Begegnung mit dem Hühnerwesen und weil mittlerweile so viel auf dem Spiel stand, hatte er nicht die Absicht, jemanden in ihre Nähe zu lassen, solange er nicht fest davon überzeugt war, daß es sich um einen Freund handelte.

Richard runzelte die Stirn und sah zu Kahlan hinüber. »Weißt du was, wenn ich mich recht erinnere, hat mir meine Mutter mal eine Geschichte über eine Katze namens ›Lauer‹ erzählt.«

Eine Hand im Haar, damit es ihr nicht über das Gesicht geweht wurde, erwiderte sie seinen nachdenklichen Blick. »Eigenartig. Bist du ganz sicher?«

»Das nicht. Sie starb, als ich noch klein war. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich mich tatsächlich erinnere oder ob ich mir nur einrede, mich zu erinnern.«

»Und woran glaubst du dich noch zu erinnern?« wollte Kahlan wissen.

Richard überdehnte die Bogensehne, um sie zu prüfen, ließ dann die Spannung wieder ein Stück nach. »Ich glaube, ich war gestürzt und hatte mir die Knie oder irgend etwas aufgeschürft, und sie wollte mich zum Lachen bringen – du weißt schon, damit ich vergesse, daß ich mir weh getan hatte. Ich glaube, sie hat mir nur dieses eine Mal erzählt, ihre Mutter habe ihr, als sie noch klein war, von einer Katze erzählt, die ständig auf der Lauer gelegen, sich auf alles mögliche gestürzt und sich so den Namen ›Lauer‹ eingehandelt habe. Ich schwöre, ich weiß noch genau, wie sie lachend fragte, ob ich nicht fände, das sei ein komischer Name.«

»Ja, wirklich sehr komisch.« Cara ließ keinen Zweifel daran, daß sie ganz anderer Ansicht war.

Sie schob die Pfeilspitze mitsamt Bogen mit einem Finger in die Richtung jener Gefahr, die er ihrer Ansicht nach offenkundig vernachlässigte.

»Wie kommst du gerade jetzt darauf?« fragte Kahlan.

Richard deutete mit dem Kinn auf den nahenden Mann. »Ich dachte gerade darüber nach, daß dort draußen ein Mann herumläuft – du weißt schon, ich war mit dem Gedanken beschäftigt, welche Gefahren sonst noch dort lauern könnten.«

»Und während Ihr so über die Gefahren nachdachtet, die dort lauern«, meinte Cara, »habt Ihr gleich auch beschlossen, einfach stehenzubleiben und abzuwarten, bis sie über Euch herfallen, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt?«

Richard ignorierte Cara und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann. »Jetzt müßtest du ihn auch erkennen.«

»Nein, ich kann immer noch nicht sehen, wo du … Augenblick…« Die Hand an der Stirn, stellte sich Kahlan auf die Zehenspitzen, als könnte sie dadurch besser sehen. »Da ist er. Jetzt sehe ich ihn.«

»Ich denke, wir sollten uns im Gras verstecken und uns dann auf ihn werfen«, meinte Cara.

»Er hat uns im selben Augenblick gesehen wie wir ihn«, widersprach Richard. »Er weiß, daß wir hier sind. Wir können ihn nicht mehr überraschen.«

»Wenigstens ist es nur einer.« Cara gähnte. »Er wird uns keine Schwierigkeiten machen.«

Cara hatte die mittlere Wache übernommen und ihn bei seinem Wachantritt nicht so früh geweckt, wie sie eigentlich sollte, sondern hatte ihn mindestens eine Stunde länger schlafen lassen. Der mittleren Wache stand üblicherweise ohnehin weniger Schlaf zu.

Richard blickte wieder über seine Schulter. »Du siehst vielleicht nur einen, es sind aber eine ganze Reihe mehr. Mindestens ein Dutzend.«

Kahlan legte ihre Hand wieder an die Stirn, um ihre Augen zu schützen. »Ich kann sonst niemanden erkennen.« Sie sah sich nach den Seiten und nach hinten um. »Ich sehe bloß den einen. Bist du sicher?«

»Ja. Als ich ihn sah und er mich, hat er sofort die anderen zurückgelassen und sich uns allein genähert. Sie warten noch immer.«

Cara nahm ein Bündel vom Boden auf. Sie stieß erst Kahlan gegen die Schulter, dann Richard. »Gehen wir. Wir können sie abhängen, bis wir außer Sicht sind, und uns dann verstecken. Wenn sie uns verfolgen, werden wir sie überrumpeln und der Jagd ein schnelles Ende machen.«

Richard erwiderte den Schubs. »Vielleicht beruhigt Ihr Euch endlich? Er kommt allein, weil er keine Pfeile auf sich ziehen möchte. Wollte er uns angreifen, hätte er all seine Männer auf einmal mitgebracht. Wir werden hier warten.«

Cara verschränkte die Arme und preßte ihre Lippen leicht vergrätzt aufeinander. Sie schien in ihrer Rolle als Beschützerin nicht ganz sie selbst zu sein. Ob sie gewillt war, ihm davon zu erzählen oder nicht, sie würden sich mit ihr unterhalten und herausfinden müssen, was sie auf dem Herzen hatte. Vielleicht hatte Kahlan dabei eine glückliche Hand.

Der Mann hob seine Arme und winkte ihnen freundlich zu.

Auf einmal erkannte Richard ihn. Er ließ die Bogensehne los und erwiderte den Gruß.

»Es ist Chandalen.«

Kurz darauf winkte auch Kahlan. »Du hast recht, es ist Chandalen.«

Richard steckte den Pfeil in den Köcher an seinem Gürtel zurück. »Ich frage mich, was er da draußen macht.«

»Du warst noch mit der Untersuchung der Hühner in den Gebäuden beschäftigt«, erklärte Kahlan, »als er aufbrach, um nach einigen seiner Männer zu sehen, die sich auf einem ausgedehnten Patrouillengang befanden. Er sagte, sie seien auf einige schwer bewaffnete Leuten gestoßen. Er war besorgt deswegen.«

Nickend beobachtete Richard, wie Chandalen näher kam. Ihm fiel auf, daß er bis auf ein im Gürtel steckendes Messer keinerlei Waffen mitgebracht hatte. Wie es Brauch war, lächelte er nicht, als er trabend bei ihnen anlangte. Schlammenschen lächelten gewöhnlich erst nach dem Austausch der gebührenden Begrüßungen, selbst wenn sie draußen auf der Ebene auf Freunde stießen.

Mit grimmiger Miene gab Chandalen Richard, Kahlan und Cara rasch eine Ohrfeige. Obwohl er den größten Teil der Strecke gerannt war, schien er kaum außer Atem zu sein, als er sie mit ihren Titeln begrüßte.

»Kraft der Mutter Konfessor. Kraft Richard mit dem Zorn.« Seiner an Cara gerichteten Begrüßung fügte er ein leichtes Senken des Kopfes hinzu. Sie war eine Beschützerin, genau wie er. Alle drei erwiderten die Ohrfeige und wünschten ihm Kraft.

»Wohin wollt ihr?« fragte Chandalen.

»Es gibt Ärger«, meinte Richard, während er ihm den Wasserschlauch reichte. »Wir müssen zurück nach Aydindril.«

Chandalen nahm den Wasserschlauch mit einem besorgten Brummen entgegen. »Das Huhn, das keines ist?«

»In gewisser Weise, ja«, erklärte ihm Kahlan. »Wie sich herausstellte, handelt es sich um einen von den Schwestern der Finsternis – die von Jagang festgehalten werden – heraufbeschworenen Zauber.«

»Lord Rahl hat das Huhn, das keines ist, mit seiner Magie vernichtet«, warf Cara ein.

Chandalen, sichtlich erleichtert über ihre Information, trank einen ordentlichen Schluck Wasser. »Warum müßt ihr dann nach Aydindril?«

Richard stützte das eine Bogenende auf der Erde ab und umfaßte das andere mit der Hand. »Der Bann, den die Schwestern ausgesprochen haben, bringt jeden und alles in Gefahr, das Magie besitzt. Er schwächt Zedd und Ann. Sie sind in deinem Dorf zurückgeblieben und warten. Wir hoffen, in Aydindril eine Magie freisetzen zu können, die den Schwestern der Finsternis entgegenwirkt, anschließend sollte Zedd kräftig genug sein, alles wieder in Ordnung zu bringen.«

»Die Magie der Schwestern hat dieses Hühnerwesen geschaffen, das Juni getötet hat. Bis zu unserer Ankunft in Aydindril ist niemand sicher.«

Chandalen hörte aufmerksam zu, schließlich steckte er den Stöpsel wieder auf den Wasserschlauch und gab ihn zurück.

»Dann müßt ihr bald aufbrechen und das tun, was nur ihr tun könnt.« Er warf einen suchenden Blick über die Schulter. Jetzt, da Chandalen sich zu erkennen gegeben hatte, kamen auch die anderen näher. »Aber meine Männer sind auf Fremde gestoßen, die euch unbedingt noch vorher sprechen müssen.«

Richard streifte seinen Bogen wieder über die Schulter und spähte in die Ferne. Er vermochte die Leute nicht zu erkennen.

»Und, wer sind nun diese Leute?«

Chandalen wagte einen verstohlenen Blick auf Kahlan, bevor er Richard antwortete. »Es gibt bei uns ein altes Sprichwort: ›Am besten hält man in der Nähe des Kochs den Mund, sonst endet man noch zusammen mit dem Huhn im Topf, das das Gemüse fürs Abendessen aufgefressen hat‹.« Richard wußte beim besten Willen nicht wieso, aber er glaubte die Redewendung zu verstehen – so seltsam sie auch klingen mochte. Vielleicht, dachte er, handelte es sich um eine ungenaue Übersetzung.

Die näherkommenden Personen waren nicht mehr weit entfernt. Chandalen, der hatte erleben müssen, wie einer seiner treuen Jäger von dem Lauer getötet worden war, wollte bestimmt, daß Richard und Kahlan alles in ihrer Macht Stehende taten, um dem Feind Einhalt zu gebieten. Er würde nicht ohne triftigen Grund darauf bestehen, daß sie ihre Reise hinauszögerten.

»Gehen wir ihnen entgegen, wenn es ihnen so wichtig ist, mit uns zu sprechen.«

Chandalen packte Richards Arm. »Sie wollen nur dich sprechen.

Vielleicht willst du allein gehen? Anschließend könntet ihr sofort aufbrechen.«

»Warum sollte Richard allein gehen wollen?« fragte Kahlan mit wachsendem Argwohn in der Stimme. Sie setzte etwas in der Sprache der Schlammenschen hinzu, das Richard nicht verstand.

Chandalen zeigte ihr seine leeren Hände, als ob er sagen wollte, er sei unbewaffnet und habe nicht die Absicht zu kämpfen. Aus irgendeinem Grund schien er mit dem, was sich hier abspielte, nichts zu tun haben zu wollen.

»Vielleicht sollte ich…« Richard schloß den Mund sofort wieder, als ihn Kahlans argwöhnisch funkelnder Blick traf. Er räusperte sich.

»Ich wollte sagen, wir haben keinerlei Geheimnisse voreinander.« Richard nahm seine Ausrüstung vom Boden auf. »Kahlan ist stets willkommen, mich zu begleiten. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Gehen wir.«

Chandalen nickte und machte kehrt, um sie ihrem Schicksal entgegenzuführen. Richard glaubte zu sehen, wie der Mann die Augen verdrehte, als wollte er sagen: »Und behaupte nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Richard vermochte zehn von Chandalens Jägern zu erkennen, die den sieben ihnen entgegenkommenden Reisenden folgten, während drei weitere Jäger ein Stück weit entfernt die Flanken sicherten und die Fremden auf diese Weise umzingelten, ohne übermäßig bedrohlich zu wirken. Die Jäger der Schlammenschen schienen die Fremden lediglich zu begleiten und zu führen, doch Richard wußte, sie waren bereit, auf das geringste Anzeichen von Feindseligkeit hin anzugreifen. Bewaffnete Außenstehende auf dem Gebiet der Schlammenschen waren wie Zunder kurz vor einem Gewitter.

Richard hoffte, daß auch dieses Unwetter abziehen und einen blauen Himmel zurücklassen würde. Kahlan, Cara und Richard eilten hinter Chandalen durch das feuchte, junge Gras.

Chandalens Männer bildeten die erste Verteidigungslinie der Schlammenschen. Daß fast jeder einen weiten Bogen um das Gebiet der Schlammenschen machte, sprach für ihre Erbarmungslosigkeit im Kampf.

Und doch riefen Chandalens geschickte und tödliche Jäger, die gegenwärtig zu einer Eskorte geworden waren, bei den sechs Männern in ihrer weiten Flachskleidung nicht mehr als eine gleichgültige Unbekümmertheit hervor. Irgend etwas an dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, daß sie umzingelt waren, forderte Richards Erinnerungsvermögen heraus.

Als die näherkommende Gruppe so nahe war, daß Richard sie mit einem Schlag erkannte, hielt er kurz inne.

Ein paar Augenblicke lang mußte er ganz genau hinsehen, bis er glauben konnte, was er sah. Endlich verstand er die furchtlose Unbekümmertheit, die sie Chandalens Männern entgegenbrachten. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Männer so fern ihrer Heimat machten.

Die Männer waren alle auf dieselbe Weise gekleidet und trugen dieselben Waffen. Obwohl Richard nur einen mit Namen kannte, waren sie ihm alle bekannt. Diese Leute hatten sich einem Ziel verschrieben, das vor Jahrtausenden von ihren Gesetzgebern – den Zauberern im Großen Krieg, die ihre Heimat eingenommen und das Tal der Verlorenen geschaffen hatten, um die Neue Welt von der Alten zu trennen – festgelegt worden war.

Ihre schwarzgriffigen Schwerter mit ihren typisch gekrümmten, zu den abgeschrägten Spitzen hin breiter werdenden Klingen blieben in den Scheiden stecken. An einem Ring am Schwertknauf eines jeden Mannes war eine Schnur befestigt; deren anderes Ende führte, als Vorsichtsmaßnahme gegen das Verlieren der Schwerter im Kampf, in einer Schlaufe um den Hals des Schwertkämpfers. Zusätzlich führte jeder der sechs Speere und einen kleinen, runden schmucklosen Schild mit. Richard hatte bereits gleichermaßen gekleidete und bewaffnete Frauen gesehen, die sich denselben Zielen verschrieben hatten, diesmal jedoch handelte es sich ausschließlich um Männer.

Für diese Männer war das Üben mit dem Schwert eine Kunst. Hatten sie tagsüber nicht die nötige Zeit gefunden, praktizierten sie diese Kunst bei Mondschein. Der Umgang mit den Schwertern kam einer religiösen Andacht gleich, der sie mit geradezu frommer Hingabe nachgingen. Diese Männer waren Meister der Klinge.

Die siebte, eine Frau, war anders gekleidet und nicht bewaffnet – zumindest nicht im üblichen Sinn.

Richard war nicht besonders gut darin, diese Dinge nach dem Augenschein einzuschätzen, ein kurzes Nachrechnen ergab jedoch, daß sie mindestens im sechsten Monat schwanger sein mußte.

Ein dichter Schopf schwarzen Haars umrahmte ihr wunderschönes Gesicht, und ihr Auftreten verlieh ihrem Gesichtsausdruck, besonders ihren dunklen Augen, eine gewisse Gereiztheit. Im Gegensatz zu den weiten Männerkleidern aus schlichtem Tuch trug sie ein knielanges Kleid aus fein gewobenem, in einem satten Erdton gefärbten Flachs, der an der Taille von einem Wildledergürtel gerafft wurde. Die Gürtelenden waren mit grob geschliffenen Edelsteinen verziert.

An den Außenseiten der Arme und quer über den Schultern wies das Kleid eine Reihe von kleinen, verschiedenfarbigen Stoffstreifen auf. Jeder von ihnen war durch ein unter einem gestreiften Band befindliches Loch geknotet und, wie Richard wußte, von einem Bittsteller dort festgebunden worden.

Es handelte sich um ein Gebetskleid. Jeder einzelne der kleinen, bunten Stoffstreifen sollte, wenn er im Wind flatterte, ein Gebet an die Guten Seelen schicken. Das Kleid durfte ausschließlich von der Seelenfrau getragen werden.

Richard gingen die unterschiedlichsten Gründe durch den Kopf, warum diese Menschen sich so weit von ihrer Heimat entfernt haben mochten. Es fiel ihm kaum ein angenehmer ein, und viele, die höchst unerfreulich waren.

Richard war stehengeblieben. Kahlan stand wartend links von ihm, Cara rechts und Chandalen wiederum rechts neben ihr.

Alle anderen ignorierend, legten die Männer in den weiten Gewändern ihre Speere neben sich auf dem Boden ab und knieten vor Richard nieder. Sie beugten sich nach vorn, berührten mit der Stirn den Boden und verharrten in dieser Stellung.

Die Frau musterte ihn schweigend. In ihren dunklen Augen war jene Zeitlosigkeit zu erkennen, die Richard schon oft bei anderen aufgefallen war; unter anderem bei Schwester Verna, bei der Hexe Shota, bei Ann und Kahlan. An diesem zeitlosen Blick erkannte man die Gabe.

Während sie Richards Augen mit einem Blick musterte, der eine Weisheit anzudeuten schien, die er nie würde erlangen können, kam der Hauch eines Lächelns über ihre Lippen. Ohne ein Wort sank sie an der Spitze ihrer sechs Begleiter auf die Knie. Sie berührte den Erdboden mit der Stirn und küßte dann die Spitze seines Stiefels.

»Caharin«, hauchte sie ergeben.

Richard langte nach unten, zog sie an der Schulter ihres Kleides hoch und drängte sie aufzustehen.

»Du Chaillu, es erfreut mein Herz, zu sehen, daß du wohlauf bist, aber was tust du hier?«

Sie erhob sich, während das bedrohlich berückende Lächeln auf ihrem Gesicht immer breiter wurde.

»Ich bin selbstverständlich gekommen, um dich zu sehen, Richard, Sucher, Caharin und Gemahl.«

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