Richard hatte das Gefühl, als ob die widersprüchlichen Gedanken in seinem Kopf sich bekriegten. Einerseits suchte er verzweifelt nach einer Lösung für die gespenstisch irreale Bedrohung, gleichzeitig verfolgten ihn die Bilder endlos marschierender Truppen, die aus der Alten Welt ins Land strömten.
»Also gut«, rief er und streckte eine Hand aus, um zu verhindern, daß alle durcheinanderredeten. »Also gut. Immer mit der Ruhe. Denken wir über die Sache nach.«
»Die gesamte Welt könnte den Chimären erlegen sein, bevor es Jagang gelingt, die Midlands zu erobern«, erklärte Kahlan. »Wir müssen uns vor allem um die Chimären kümmern – davon hast du mich überzeugt. Nicht einfach nur deshalb, weil die Welt des Lebendigen womöglich ohne Magie nicht überleben kann, sondern weil wir Magie brauchen, um Jagang entgegenzuwirken. Nichts käme ihm mehr gelegen, als wenn wir ihn mit dem Schwert allein bekämpfen würden.
Wir müssen unbedingt nach Aydindril. Du hast es selbst gesagt: Was wäre, wenn das, was Zedd über das Fläschchen in der Burg der Zauberer sagte und was wir damit anstellen müssen, der Wahrheit entspricht? Wenn es uns nicht gelingt, unseren Auftrag zu erfüllen, helfen wir den Chimären womöglich bei der Eroberung der Welt des Lebendigen. Wenn wir nicht rechtzeitig handeln, ist es vielleicht für immer zu spät.«
»Und ich brauche unbedingt wieder einen funktionierenden Strafer«, sagte Cara mit quälender Ungeduld, »sonst kann ich Euch beide nicht so beschützen, wie es meine Pflicht wäre. Ich sage auch, wir müssen nach Aydindril und den Chimären Einhalt gebieten.«
Richards Blick wanderte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Schön. Aber wie wollen wir den Chimären Einhalt gebieten, wenn Zedds Auftrag nichts weiter als eine Art Aprilscherz ist, damit wir ihm nicht in die Quere kommen? Wenn er lediglich um uns besorgt ist und nicht möchte, daß uns etwas zustößt, während er sich selber des Problems annehmen will?
Ihr wißt schon, wie zum Beispiel ein Vater, der einen verdächtigen Fremden kommen sieht und seinen Kindern sagt, sie sollen rasch ins Haus laufen und das Feuerholz in der Kiste nachzählen.«
Richard betrachtete die beiden Gesichter mit einem Gefühl verbitterter Verzweiflung. »Ich meine, es ist eine durchaus nützliche Information, daß dieser Joseph Ander, ausgesandt, den Chimären Einhalt zu gebieten, derselbe war, der dieses Land Anderith begründet hat. Möglicherweise ist das von Bedeutung, und möglicherweise war Zedd sich dieser Bedeutung nicht bewußt. Das soll nicht heißen, daß wir nach Anderith gehen sollten. Die Seelen wissen, auch ich will nach Aydindril. Ich möchte nur kein wichtiges Detail übersehen.« Richard preßte die Finger an die Schläfen. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Dann sollten wir nach Aydindril gehen«, meinte Kahlan. »Zumindest wissen wir, daß wir dort eine Chance haben.«
Richard dachte über diese Möglichkeit laut nach. »Vielleicht wäre das das beste. Was wäre schließlich, wenn der ›Berg‹, Joseph Ander, den Chimären ganz woanders, ganz am anderen Ende der Midlands, Einhalt geboten hätte – und danach in seinem späteren Leben, irgendwann nach dem Krieg vielleicht, geholfen hätte, dieses Land, das jetzt den Namen Anderith trägt, ins Leben zu rufen?«
»Genau. In diesem Fall müßten wir so schnell wie möglich nach Aydindril«, beharrte Kahlan. »Und darauf hoffen, den Chimären dadurch das Handwerk zu legen.«
»Hört zu«, sagte Richard und bat mit erhobenem Finger um Geduld, »der Meinung bin ich auch, nur wie sollen wir die Chimären aufhalten, wenn das alles vergeblich ist? Wenn alles Teil von Zedds Täuschungsmanöver ist? Dann hätten wir gegen keine der beiden Bedrohungen etwas unternommen. Diese Möglichkeit müssen wir ebenfalls in Betracht ziehen.«
»Lord Rahl«, ging Cara dazwischen, »eine Reise nach Aydindril wäre trotzdem sinnvoll. Dort könntet Ihr Euch nicht nur Euer Schwert wiederholen und tun, worum Zedd Euch gebeten hat, auch Kolos Tagebuch stünde Euch wieder zur Verfügung. Berdine ist ebenfalls dort. Sie kann Euch bei der Übersetzung helfen. Bestimmt hat sie während unserer Abwesenheit daran gearbeitet; vielleicht hat sie inzwischen mehr über die Chimären in Erfahrung gebracht. Vielleicht hat sie längst Antworten gefunden, die nur darauf warten, daß Ihr sie Euch anseht. Wenn nicht, hättet Ihr dennoch das Buch und wüßtet, wonach Ihr suchen müßt.«
»Das ist wahr«, meinte Richard. »Außerdem gibt es in der Burg der Zauberer auch noch andere Bücher. Kolo schreibt, die Bekämpfung der Chimären habe sich als erheblich einfacher erwiesen, als alle ursprünglich angenommen hatten.«
»Allerdings besaßen sie alle Subtraktive Magie«, gab Kahlan zu bedenken.
Das traf zwar auch auf Richard zu, allerdings wußte er herzlich wenig darüber, wie man sie einsetzen konnte. Das Schwert war der einzige Gegenstand, mit dem er wirklich umzugehen verstand.
»Vielleicht enthält eines der Bücher in der Burg der Zauberer auch die Lösung für das Verhalten gegenüber den Chimären«, sagte Cara, »und womöglich ist sie gar nicht so kompliziert. Vielleicht braucht man dazu gar keine Subtraktive Magie.«
Die Mord-Sith verschränkte die Arme, der Gedanke an Magie bereitete ihr offenkundig Mißbehagen. »Vielleicht könnt Ihr einfach mit dem Finger in der Luft herumfuchteln und verkünden, sie seien nicht mehr da.«
»Aber ja, du bist ein Mann mit Magie«, gab Du Chaillu zum besten, der Caras beißender Sarkasmus entgangen war. »Das könntest du doch tun.«
»Du zollst mir mehr Anerkennung, als ich verdient habe«, sagte er an Du Chaillu gewandt.
»Klingt, als wäre der Weg nach Aydindril unsere einzig echte Möglichkeit«, meinte Kahlan.
Richard schüttelte unsicher den Kopf. Wenn es nur nicht so schwierig wäre, sich für die richtige Vorgehensweise zu entscheiden. Er war hin und her gerissen, neigte mal zur einen, mal zur anderen Lösung. Was hätte er darum gegeben, im Besitz der entscheidenden, ausschlaggebenden Information zu sein.
Manchmal wünschte er sich, einfach herausschreien zu können, er sei doch nur ein einfacher Waldführer, der nicht wisse, was er tun soll, und es gäbe jemanden, der einschreiten und dafür sorgen könnte, daß alles ganz einfach wurde.
Manchmal kam er sich in seiner Rolle als Lord Rahl wie ein Hochstapler vor, hätte am liebsten einfach alles hingeworfen und wäre nach Hause, nach Westland, zurückgekehrt. Jetzt war einer dieser Augenblicke.
Hätte Zedd ihn nur nicht angelogen. Menschenleben waren in Gefahr, nur weil sie die Wahrheit nicht kannten und Richard keinen Gebrauch von Zedds Weisheit gemacht hatte, als er noch Gelegenheit dazu hatte. Hätte er doch bloß seinen Verstand benutzt und Du Chaillu nicht vergessen.
»Warum bist du eigentlich dagegen, nach Aydindril zu gehen?« wollte Kahlan wissen.
»Das wüßte ich selber gerne«, antwortete Richard. »Auf jeden Fall wissen wir, wohin Jagang marschiert. Das müssen wir unbedingt verhindern. Wenn er die Midlands erobert, sind wir erledigt, ganz unabhängig davon, ob wir gegen die Chimären vorgehen oder nicht.«
Er begann, auf und ab zu gehen. »Und wenn die Chimären gar nicht die befürchtete große Bedrohung wären? Ich meine, letztlich natürlich schon, aber was wäre, wenn sie Jahre für die Erosion der Magie benötigten, bis diese wirklichen Schaden anrichtet? Schaden, der nicht wiedergutzumachen wäre? Soweit wir wissen, könnte das Jahrhunderte dauern.«
»Was ist bloß mit dir los, Richard? Sie töten bereits jetzt Menschen.« Kahlan deutete über das Grasland in die Richtung, wo das Dorf der Schlammenschen lag. »Sie haben Juni umgebracht. Sie haben einige Baka Tau Mana getötet. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihnen das Handwerk zu legen. Davon hast du selbst mich gerade überzeugt.«
»Lord Rahl«, sagte Cara, »ich gebe der Mutter Konfessor recht. Wir müssen nach Aydindril gehen.«
Du Chaillu erhob sich. »Darf ich sprechen, Caharin?«
Richard wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Ja, selbstverständlich.«
Sie wollte gerade ansetzen, als sie offenen Mundes innehielt. Ihr Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. »Dieser Mann, der sie anführt, dieser Jagang, ist er ein Mann der Magie?«
»Ja, in gewisser Weise jedenfalls. Er besitzt die Fähigkeit, in den Verstand der Menschen einzudringen und sie auf diese Weise zu kontrollieren. Er wird Traumwandler genannt. Darüber hinaus besitzt er jedoch keine Magie.«
Du Chaillu ließ sich seine Worte einen Augenblick durch den Kopf gehen. »Keine Armee kann lange ohne die Unterstützung der Bevölkerung ihres Landes durchhalten. Dann beherrscht er auf diese Weise also alle Menschen seines Landes – jeden, der auf seiner Seite steht?«
»Nein. Er kann das nicht bei allen gleichzeitig tun. Er muß sich die Menschen aussuchen. Ganz so wie ein Meister der Klinge sich im Kampf zuerst die wichtigsten Ziele aussucht. Er wählt die aus, die Magie besitzen, um deren Magie zu seinem Vorteil zu nutzen.«
»Dann werden die Hexen also von ihm gezwungen, Böses zu tun. Mit ihrer Magie halten sie sein Volk im Würgegriff?«
»Nein«, meinte Kahlan, die hinter Richard stand. »Das Volk unterwirft sich freiwillig.«
Du Chaillu schien das zu bezweifeln. »Ihr glaubt, daß Menschen einen solchen Mann freiwillig zu ihrem Führer wählen?«
»Tyrannen können nur mit Zustimmung ihres Volkes herrschen.«
»Dann ist sein Volk ebenfalls schlecht, nicht nur er selbst?«
»Es ist ein Volk wie alle anderen auch«, sagte Kahlan. »Wie Hunde bei einem Festessen versammeln sich die Menschen um den Tisch der Tyrannei und gieren nach jedem Brocken, der ihnen zugeworfen wird. Nicht jeder wird einen Tyrannen sozusagen schwanzwedelnd begrüßen, aber die meisten sind bereit dazu, vorausgesetzt, es gelingt ihm vorher, einen geifernden Haß in ihnen zu erzeugen und ihrer Gier Rechnung zu tragen, indem er ihnen das Gefühl gibt, sie handelten aus Pflichtgefühl. Viele greifen lieber einfach zu, als sich die Dinge zu verdienen. Tyrannen geben den Neidischen die Möglichkeit, sich in ihrer Gier behaglich einzurichten.«
»Schakale«, sagte Du Chaillu.
»Schakale«, pflichtete Kahlan ihr bei.
Du Chaillu schlug verwirrt die Augen nieder. »Dann ist es also noch viel schrecklicher. Die Vorstellung, daß dieses Volk von der Magie dieses Mannes oder vom Hüter persönlich besessen ist, wäre mir sehr viel angenehmer, als denken zu müssen, daß sie einer solchen Bestie aus freien Stücken folgen.«
»Wolltest du nicht etwas sagen?« fragte Richard. »Ich würde es gerne hören.«
Du Chaillu faltete die Hände. Ihre Miene wurde noch ernster.
»Auf unserem Weg hierher beschatteten wir die Armee, um zu sehen, wohin sie marschiert. Zur Sicherheit nahmen wir auch einige der Soldaten gefangen. Diese Armee kommt nur sehr langsam voran. Ihr Führer läßt jeden Abend für sich und seinen Harem Zelte aufschlagen. Die Zelte sind groß genug, um viele Menschen aufzunehmen, und verfügen über zahlreiche Annehmlichkeiten zu seiner Bequemlichkeit. Für die anderen wichtigen Männer werden ebenfalls Zelte errichtet. Jeder Abend gerät zum Fest. Ihr Führer, Jagang, gleicht einem mächtigen und reichen König auf Reisen.
Sie führen Karrenladungen voller Frauen mit – manche willig, manche nicht. Nachts werden sie unter den Soldaten herumgereicht. Diese Armee wird gleichermaßen von ihrer Vergnügungssucht getrieben wie von ihrer Gier nach Eroberungen. Sie ist bei der Suche nach Eroberungen sehr auf ihr Vergnügen bedacht.
Die Männer haben viel Gerät. Sie besitzen zahlreiche Ersatzpferde und haben ganze Herden Lebendvieh. Endlose Karrentrecks transportieren Lebensmittel und andere Vorräte jeder Art. Auf ihren Karren befördern sie alles, angefangen bei Getreidemühlen bis hin zu Essen für die Schmiede. Sie führen Tische und Stühle mit, Teppiche, feines Porzellan und Gläser, die sie mit Holzwolle gefüllt in hölzerne Kisten legen. Jeden Abend wird alles ausgepackt, um Jagangs Zelte in einen von den Häusern seiner wichtigen Begleiter umgebenen Palast zu verwandeln. Mit ihren großen Zelten und all den anderen Annehmlichkeiten, die sie mitführen, wirkt es fast wie eine Stadt auf Reisen.«
Du Chaillu machte eine gleitende Bewegung mit der flachen Hand. »Diese Armee bewegt sich wie ein langsam fließender Strom. Sie braucht ihre Zeit, aber nichts kann sie aufhalten. Sie drängt unablässig weiter, jeden Tag ein kleines Stück. Eine Stadt, die über das Land hinweggleitet. Es sind viele, und sie sind langsam, aber sie kommen mit unerbittlicher Gewißheit.
Ich wußte, daß ich den Caharin warnen mußte, daher wollten wir diese Männer nicht länger beschatten.« Sie ließ die Hand wie von einem heftigen Wind aufgewirbelten Staub in der Luft kreisen. »Wir nahmen unser schnelles Reisetempo wieder auf. Die Baka Tau Mana sind zu Fuß genauso schnell wie Reiter auf flinken Pferden.«
Richard war bereits mit ihr unterwegs gewesen. Die Prahlerei war übertrieben, wenn auch nicht sehr. Einmal hatte er sie auf einem Pferd reiten lassen. Sie hatte das Tier für einen Teufel gehalten.
»Während wir rasch in nordwestlicher Richtung über dieses endlose Land zogen, gelangten wir überraschend zu einer großen Stadt mit hohen Mauern.«
»Das dürfte Renwold gewesen sein«, meinte Kahlan. »Es ist die einzige größere Stadt in der Wildnis auf deiner Route hierher. Sie hat Mauern, wie du sie beschreibst.«
Du Chaillu nickte. »Renwold. Wir kannten ihren Namen nicht.« Ihr stechender Blick, gleich dem einer Königin, die ernste Neuigkeiten mitzuteilen hat, wanderte von Kahlan zu Richard. »Sie war von der Armee dieses Mannes, Jagang, heimgesucht worden.«
Du Chaillu blickte in die Ferne, als hätte sie sie wieder vor Augen. »Ich hätte nicht gedacht, daß Menschen so grausam zueinander sein können. Die Majendie, so sehr wir sie auch haßten, würden niemals tun, was diese Männer den Menschen dort angetan hatten.«
Du Chaillu kamen die Tränen, die schließlich überflossen und ihr über die Wangen rollten. »Sie haben die Menschen dort abgeschlachtet. Die Alten, die Jungen und die kleinen Kinder. Aber erst, nachdem sie tagelang…«
Du Chaillu brach in Schluchzen aus. Kahlan legte der Frau verständnisvoll einen Arm um die Schultern. In Kahlans Umarmung wirkte Du Chaillu plötzlich wie ein kleines Kind. Ein kleines Kind, das zuviel erlebt hatte.
»Ich weiß«, versuchte Kahlan sie zu trösten. »Ich weiß. Ich bin auch in einer großen, ummauerten Stadt gewesen, in der die Männer aus Jagangs Troß gewütet hatten, und ich weiß, was du gesehen hast. Ich bin zwischen den Toten innerhalb der Mauern von Ebinissia umhergelaufen. Ich habe das Gemetzel gesehen, das durch die Hand der Imperialen Ordnung angerichtet wurde. Ich habe gesehen, was diese Bestien zuvor mit den Lebenden gemacht hatten.«
Du Chaillu, die ihr Volk mit Tatkraft und Entschlossenheit führte, die mutig und voller Verachtung monatelang ihrer Gefangenschaft und der Aussicht auf ihre bevorstehende Opferung die Stirn geboten hatte, die mitangesehen hatte, wie ihre Ehemänner fielen, um einem Gesetz Genüge zu tun, dessen Hüterin sie war, die bereitwillig dem Tod ins Auge gesehen hatte, um Richard bei der Zerstörung der Türme der Verdammnis zu helfen, weil sie hoffte, ihr Volk könnte in sein Land zurückkehren, vergrub ihr Gesicht an Kahlans Schulter und weinte wie ein Kind, als sie die Bilder aus Renwold wieder vor sich sah.
Die Meister der Klinge wandten den Blick ab; sie wollten ihre Seelenfrau nicht so zutiefst betroffen sehen. Chandalen und seine Jäger, die nicht weit entfernt darauf warteten, daß die anderen ihre Beratung beendeten, wandten sich gleichermaßen ab.
Richard hätte nicht gedacht, daß irgend etwas Du Chaillu dazu bringen könnte, vor anderen Tränen zu vergießen.
»Dort war ein Mann«, erzählte Du Chaillu, unterbrochen von Schluchzen. »Der einzige Überlebende, den wir finden konnten.«
»Wie hat er überlebt?« Richard kam das ziemlich an den Haaren herbeigezogen vor. »Hat er das gesagt?«
»Er hatte den Verstand verloren. Jammernd flehte er die Gütigen Seelen um seine Frau und seine Kinder an. Unablässig weinte er wegen seiner Torheit, wie er es nannte, und bat die Seelen, ihm zu vergeben und ihm seine Lieben zurückzugeben. Er hielt den zerschmetterten Kopf eines Kindes in den Händen. Auf ihn redete er ein, als wäre er lebendig, und bat ihn um Vergebung.«
Kahlans Gesicht nahm einen traurigen Zug an. Langsam, mit offenkundigem Widerwillen, fragte sie: »Hatte er langes, weißes Haar? Eine rote Jacke, mit goldenen Litzen auf den Schultern?«
»Du kennst ihn?« fragte Du Chaillu.
»Botschafter Seidon. Er hat den Angriff nicht überlebt – er war zu diesem Zeitpunkt gar nicht in der Stadt, sondern in Aydindril.«
Kahlan sah hoch zu Richard. »Ich bat ihn, sich uns anzuschließen. Er weigerte sich mit der Begründung, er sei derselben Überzeugung wie der Rat der Sieben, daß sein Land Mardovia verwundbar wäre, sobald es sich auf die eine oder andere Seite schlüge. Er lehnte es ab, sich uns oder der Imperialen Ordnung anzuschließen, und meinte, Neutralität biete ihnen Sicherheit.«
»Was hast du ihm geantwortet?« wollte Richard wissen.
»Genau deine Worte – dein Erlaß, demzufolge es in diesem Krieg keine Unbeteiligten geben werde. Ich erklärte ihm, als Mutter Konfessor hätte ich verfügt, gegenüber der Imperialen Ordnung kein Erbarmen walten zu lassen. Ich erklärte Botschafter Seidon, wir – du und ich – seien in diesem Punkt einer Meinung, daß sein Land nur für uns oder gegen uns sein könne und die Imperiale Ordnung dies ebenso sehe.
Ich versuchte ihm die Folgen klarzumachen. Er wollte nichts davon hören. Ich bat ihn, das Leben seiner Familienangehörigen zu bedenken. Er behauptete, sie seien hinter den Mauern Renwolds sicher.«
»Diese Lektion wünsche ich niemandem«, meinte Richard leise.
Du Chaillu fing abermals an zu schluchzen. »Ich bete, daß der Kopf nicht seinem eigenen Kind gehört. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht in meinen Träumen gesehen.«
Richard berührte Du Chaillu sachte am Arm. »Das verstehen wir, Du Chaillu. Die Schreckensherrschaft der Imperialen Ordnung zielt darauf ab, zukünftige Opfer zu demoralisieren und sie so sehr einzuschüchtern, daß sie kapitulieren. Deshalb kämpfen wir gegen diese Menschen.«
Du Chaillu schaute zu ihm hoch und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange.
»Dann bitte ich dich, dorthin zu gehen, wohin die Imperiale Ordnung marschiert. Oder wenigstens jemanden dorthin zu schicken, der die Menschen warnt. Sorg dafür, daß sie fliehen, bevor sie gefoltert und abgeschlachtet werden wie die Menschen, die wir in dieser Stadt Renwold gesehen haben. Man muß diese Anderier warnen. Sie müssen unbedingt fliehen.« Wieder kamen ihr die Tränen, während sie von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde.
Richard spürte Kahlans Hand auf seinem Rücken und drehte sich um. »Dieses Land, Anderith, hat sich uns noch nicht ergeben. Sie hatten doch Abgesandte in Aydindril, die sich unseren Standpunkt angehört haben, oder nicht? Sie kennen doch unsere Position?«
»Ja«, meinte Kahlan. »Ihre Abgesandten sind ebenso gewarnt worden wie die der anderen Länder. Sie wurden über die Bedrohung unterrichtet und über unsere Absicht, sich ihr zu widersetzen. In Anderith weiß man, daß der Bund der Midlands der Vergangenheit angehört, und wir erwarten, daß man die Souveränität an das d’Haranische Reich abtritt.«
»Das d’Haranische Reich.« Die Worte hatten einen harten, kalten Beiklang. Hier war er, ein Waldführer, der sich fühlte wie ein Hochstapler auf einem Thron, von dessen Existenz er, außer vom Hörensagen, kaum etwas gewußt hatte, und trug die Verantwortung für ein ganzes Reich. »Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich entsetzliche Angst vor D’Hara. Ich befürchtete, es könnte sich alle Länder einverleiben. Und jetzt ist genau das unsere einzige Hoffnung.«
Die Ironie ließ Kahlan schmunzeln. »Nur der Name D’Hara ist noch derselbe wie zuvor. Die meisten Menschen wissen, daß du für die Freiheit der Menschen und nicht für ihre Versklavung kämpfst. Die Tyrannei trägt jetzt das eiserne Gewand der Imperialen Ordnung.
Anderith kennt die Bedingungen, es sind dieselben, die wir jedem Land gestellt haben. Wenn sie sich uns freiwillig anschließen, werden sie mit uns zusammen ein Volk bilden, ein Anrecht auf die gleiche ehrliche Behandlung wie alle haben und mittels gerechter und fairer Gesetze regiert werden, denen wir alle unterworfen sind. Sie wissen, daß es keine Ausnahmen gibt. Außerdem sind ihnen sowohl die Zwangsmaßnahmen als auch die Folgen bekannt, falls sie sich uns nicht anschließen.«
»Renwold wurde dasselbe mitgeteilt«, erinnerte er sie. »Dort hat man uns nicht geglaubt.«
»Nicht jeder ist bereit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Das kann man nicht erwarten, daher müssen wir uns mit denen befassen, die unsere Überzeugung teilen, daß wir für den Frieden kämpfen. Man kann für die, die nicht begreifen wollen, keine rechtschaffenen Menschen opfern und eine gute Sache aufs Spiel setzen. Das wäre ein Verrat an denen, die sich uns mutig angeschlossen haben.«
»Du hast Recht.« Richard stieß einen verhaltenen Seufzer aus. Er empfand ganz genauso, trotzdem war es ein Trost, es aus ihrem Mund bestätigt zu bekommen. »Besitzt Anderith eine große Armee?«
»Nun … das schon«, meinte Kahlan. »Aber die eigentliche Verteidigung Anderiths ist nicht ihre Armee, sondern eine Waffe mit Namen Dominie Dirtch.«
Er fand zwar, daß der Name einen d’Haranischen Einschlag hatte, trotzdem fiel ihm in Anbetracht der vielen Dinge, die ihm im Kopf herumgingen, die Übersetzung nicht sofort ein.
»Können wir die Imperiale Ordnung damit aufhalten?«
Kahlan blickte gedankenversunken in die Ferne, während sie die Spitzen der Grashalme abzupfte und über seine Frage nachdachte.
»Es handelt sich um eine alte Waffe der Magie. Aufgrund der Dominie Dirtch war Anderith praktisch zu allen Zeiten unangreifbar. Sie gehören den Midlands an, weil sie uns als Handelspartner brauchen, weil sie einen Markt für ihre riesigen Nahrungsmittelmengen benötigen, die sie produzieren. Mit den Dominie Dirtch sind sie jedoch so gut wie autonom und stehen praktisch außerhalb des Bundes der Midlands.
Die Bindung war nie besonders stark. Wie schon die Mütter Konfessor vor mir habe auch ich sie gezwungen, meine Autorität anzuerkennen und sich an die Regeln des Rates zu halten, wenn sie ihre Waren verkaufen wollten. Nichtsdestoweniger sind die Anderier ein stolzes Volk, das sich immer abgesondert und für besser als andere gehalten hat.«
»Das denken sie vielleicht, ich aber nicht – und bestimmt auch nicht Jagang. Was ist nun mit dieser Waffe? Könnte sie die Imperiale Ordnung aufhalten, was meinst du?«
»Nun, sie wurde seit Jahrhunderten nicht mehr in großem Stil eingesetzt.« Kahlan strich sich mit einer Halmspitze übers Kinn, während sie sich die Frage durch den Kopf gehen ließ. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, warum nicht. Ihre ungeheure Wirksamkeit schreckt jeden Angriff ab, zumindestens in normalen Zeiten. Seit der letzten Auseinandersetzung wurde sie nur bei vergleichsweise geringfügigen Streitigkeiten eingesetzt.«
»Was ist das für ein Schutzmechanismus?« fragte Cara. »Wie funktioniert er?«
»Die Dominie Dirtch bestehen aus einer Verteidigungskette kurz hinter der Grenze zur Wildnis. Es handelt sich um eine Reihe gewaltiger Glocken, die in großen Abständen, allerdings in Sichtweite zueinander, angeordnet sind. Die gesamte anderische Grenze wird von ihnen bewacht.«
»Glocken«, meinte Richard nachdenklich. »Wie bieten diese Glocken ihnen Schutz? Heißt das, man benutzt sie, um die Menschen zu warnen? Um die Truppen herbeizurufen?«
Kahlan wedelte mit ihrem Grashalm wie eine Lehrerin mit einer Rute, die verhindern will, daß ein Schüler die falschen Schlüsse zieht. Zedd hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf fast dieselbe Weise mit seinem Finger zu wedeln, dazu setzte er allerdings noch sein schelmisches Lächeln auf, damit Richard nicht den Eindruck bekam, schroff behandelt zu werden, während er korrigiert wurde. Kahlan jedoch verbesserte ihn nicht, sie unterrichtete ihn. Und soweit es die Midlands betraf, hatte Richard noch sehr viel zu lernen.
Der Begriff ›unterrichten‹ blieb ihm augenblicklich im Gedächtnis haften.
»Nein, um solche Glocken handelt es sich nicht«, sagte Kahlan. »Abgesehen von ihrer äußeren Form sind sie Glocken nicht sehr ähnlich. Sie sind aus Stein gemeißelt, der im Laufe der Zeit mit einer Schicht aus Flechten und ähnlichem überwachsen ist. Sie gleichen alten Grabmalen. Furchteinflößenden Grabmalen.
Wie sie aus dem Boden der Ebene ragen und sich in einer Reihe bis zum Horizont hinziehen, erinnern sie ein wenig an die Rückenwirbel eines riesigen, toten, endlos langen Ungeheuers.«
Richard kratzte sich staunend am Kinn. »Wie groß sind sie?«
»Sie ragen auf mächtigen Steinsockeln aus Gras und Weizen empor, deren Durchmesser etwa acht oder zehn Fuß beträgt.« Sie hielt sich die Hand über den Kopf. »Die Sockel haben ungefähr Körpergröße. In die einzelnen Fundamente hat man Stufen geschlagen, die bis zur Glocke hinaufführen. Die Glocken selbst sind mitsamt Halterung, ich weiß nicht, vielleicht acht oder neun Fuß hoch.
Die Rückseite einer jeden Glocke, aus demselben Stein gehauen, ähnelt einem runden … Schild, vergleichbar etwa dem Reflektor hinter einer Wandlampe. Die anderische Armee hält sämtliche Glocken jederzeit besetzt. Nähert sich ein Feind, tritt der Soldat auf Befehl hinter den Reflektor, und die Dominie Dirtch – eben diese Glocken – werden mit einem langen, hölzernen Klöppel angeschlagen.
Sie geben einen sehr tiefen, dunklen Klang von sich. Zumindest handelt es sich dem Vernehmen nach hinter den Dominie Dirtch um einen dunklen Klang. Kein Angreifer hat je überlebt, um berichten zu können, wie es auf der anderen Seite, in der Todeszone, klingt.«
Richards Erstaunen war Verblüffung gewichen. »Was machen die Glocken mit den Angreifern? Was bewirkt dieser Klang?«
Kahlan rollte die Halme zwischen den Fingern und zerdrückte sie dabei.
»Er löst ihnen glatt das Fleisch von den Knochen.«
Richard konnte sich etwas derart Entsetzliches nicht einmal vorstellen. »Ist das eine Legende, oder weißt du sicher, daß es sich um eine Tatsache handelt?«
»Ich habe die Folgen mit eigenen Augen gesehen – ein primitives Volk der Wildnis beschloß als Vergeltung für das Leid, das einer ihrer Frauen durch einen anderischen Soldaten widerfahren war, einen Raubzug in ihr Land zu unternehmen.«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es war ein grauenhafter Anblick, Richard. Ein Haufen blutiger Knochen inmitten eines … eines blutverkrusteten Fleischklumpens. Man konnte Haare darin erkennen – Teile der Kopfhaut. Und die Kleidung. Ich sah einige Fingernägel und das zu einer Spirale gedrehte Fleisch einer Fingerspitze, aber darüber hinaus vermochte ich kaum etwas zu erkennen. Wären da nicht die paar Stücke und Knochen gewesen, man hätte nicht einmal gewußt, daß es sich um einen Menschen handelte.«
»Dann besteht kein Zweifel; diese Glocken verwenden Magie«, sagte Richard. »Wie weit reicht ihre tödliche Wirkung? Und wie schnell wirkt sie?«
»Wie ich es verstanden habe, töten die Dominie Dirtch jeden vor ihnen, etwa so weit, wie das Auge reicht. Sind sie erst einmal angeschlagen worden, kann ein Eindringling nur noch ein, zwei Schritte weitergehen, bevor seine Haut einer katastrophalen Zerreißprobe ausgesetzt wird. Muskeln und Haut beginnen sich von den Knochen zu lösen. Sein Inneres – Herz, Lungen, alles – fällt unten aus dem Brustkorb, da sämtliche Eingeweide nachgeben. Man kann sich nicht dagegen schützen. Hat es einmal angefangen, sterben alle, die sich vor den Dominie Dirtch aufhalten.«
»Könnten sich bei Nacht Eindringlinge anschleichen?« fragte Richard.
Kahlan schüttelte den Kopf. »Das Gelände ist so flach, daß die Verteidiger meilenweit sehen können. Nachts können bei Bedarf Fackeln angezündet werden. Zusätzlich erstreckt sich vor der gesamten Linie ein Graben, so daß niemand ungesehen durch das Gras oder den Weizen heranrobben kann. Solange die Reihe der Dominie Dirtch bemannt ist, ist ein Passieren unmöglich. Zumindest hat dies seit Tausenden von Jahren niemand mehr geschafft.«
»Spielt die Zahl der Invasoren eine Rolle?«
»Soweit mir bekannt ist, sind die Dominie Dirtch imstande, jede beliebige Anzahl Soldaten zu töten, die sich vor ihnen zum Angriff auf Anderith und diese steinernen Glocken versammelt, solange sie von den verteidigenden Soldaten angeschlagen werden.«
»Also auch eine ganze Armee…«, meinte Richard leise bei sich.
»Ich weiß, was du denkst, Richard, aber seit die Chimären auf freiem Fuß sind, ist die Magie im Schwinden begriffen. Es wäre geradezu tollkühn, sich auf die Dominie Dirtch zu verlassen, um Jagangs Armee aufzuhalten.«
Richard betrachtete Du Chaillu, die ein Stück entfernt im Gras kauerte, den Kopf in den Händen. Sie weinte noch immer.
»Aber du hast doch gesagt, Anderith besitze eine große Armee.«
Kahlan stöhnte ungehalten. »Richard, du hast Zedd versprochen, wir würden nach Aydindril gehen.«
»Stimmt. Nur habe ich nicht gesagt, wann.«
»Aber du hast es durchblicken lassen.«
Er drehte sich um und sah ihr ins Gesicht. »Es wäre kein Bruch des Versprechens, vorher erst noch einen anderen Ort aufzusuchen.«
»Richard…«
»Kahlan, möglicherweise sieht Jagang jetzt, da die Magie schwindet, seine Chance, Anderith mit Erfolg zu erobern und dessen Nahrungsmittelvorräte zu erbeuten.«
»Das wäre schlecht für uns, doch die Midlands verfügen noch über andere Nahrungsmittelquellen.«
»Und wenn Nahrungsmittel nicht der einzige Grund sind, weswegen Jagang nach Anderith marschiert?« Richard zog vielsagend eine Braue hoch. »Er hat mit der Gabe gesegnete Personen in seinem Troß. Sie wissen ohne Zweifel ebensogut wie Zedd und Ann, daß die Magie im Schwinden begriffen ist. Was, wenn sie dahinterkommen, daß die Chimären der Grund dafür sind? Was, wenn Jagang darin seine Chance sieht, ein bis dahin unbesiegbares Land zu erobern, um schließlich, wenn die Dinge sich wieder ändern, wenn die Chimären vertrieben sind …?«
»Er kann unmöglich wissen, daß die Chimären der Auslöser sind, doch selbst wenn, woher soll er wissen, wie er sie vertreiben kann?«
»Er hat einige mit der Gabe Gesegnete dabei, mit der Gabe Gesegnete aus dem Palast der Propheten. Diese Männer und Frauen haben sich ausgiebig mit den Büchern in den dortigen Gewölbekellern befaßt, und das über viele Jahrhunderte. Ich vermag mir nicht vorzustellen, was sie alles wissen. Du etwa?«
Angesichts der Möglichkeiten und Zusammenhänge, die sich daraus ergaben, nahm Kahlans Gesicht einen bestürzten Zug an. »Du glaubst, sie wissen einen Weg, die Chimären zu vertreiben?«
»Keine Ahnung. Aber wenn doch – oder wenn sie nach Anderith marschieren und dort die Lösung finden –, stell dir vor, was das bedeuten würde. Jagangs Armee stände in gewaltiger Truppenstärke in den Midlands, hinter den Dominie Dirtch, und wir hätten keine Möglichkeit, sie aus dem Land zu jagen: Sie könnten nach Belieben, wann und wo immer sie wollen, in die Midlands vordringen. Anderith ist ein großes Land. Hat Jagang erst einmal die Kontrolle über die Dominie Dirtch, könnten wir keine Späher mehr jenseits der Grenzen einsetzen und wüßten somit nicht mehr, wo seine Truppen sich zusammenziehen. Wir können unmöglich die gesamte Grenze bewachen, seine Spione dagegen wären imstande, heimlich das Land zu verlassen, um in Erfahrung zu bringen, wo unsere Armeen stehen, um dann wieder zurückzuschleichen und Jagang Bericht zu erstatten.
Anschließend könnte er durch die Lücken des zu weit gespannten Netzes vordringen und einen Vorstoß in die Midlands wagen. Falls erforderlich, könnte er einen Schlag führen und sich anschließend sofort hinter die Dominie Dirtch zurückziehen. Mit ein wenig Planung und Geduld könnte er abwarten, bis er eine Schwachstelle findet, zum Beispiel, wenn unsere Truppen zu weit entfernt sind, um rechtzeitig eingreifen zu können, und mitsamt seiner gesamten Armee durch die Lücken in unseren Linien in die Midlands vordringen. Haben sie unsere Streitkräfte erst einmal hinter sich gelassen, könnten sie praktisch ungehindert wüten, wir dagegen könnten ihnen bei der Verfolgung bestenfalls ein wenig in die Hacken treten.
Ist er erst einmal sicher hinter dem steinernen Vorhang der Dominie Dirtch, würde die Zeit für ihn arbeiten. Er könnte eine Woche abwarten, einen Monat oder auch ein Jahr. Er könnte zehn Jahre warten, bis uns die Belastung pausenloser Wachsamkeit abgestumpft und geschwächt hätte. Anschließend könnte er unvermittelt einen Vorstoß wagen und über uns herfallen.«
»Gütige Seelen«, meinte Kahlan leise. Sie bedachte ihn mit einem stechenden Blick. »Das ist alles reine Spekulation. Was ist, wenn sie in Wirklichkeit gar keine Möglichkeit haben, die Chimären zu vertreiben?«
»Ich weiß es nicht, Kahlan. Ich sage lediglich ›Was wäre, wenn‹. Wir müssen entscheiden, was wir wollen. Treffen wir die falsche Entscheidung, könnten wir auf der ganzen Linie verlieren.«
Kahlan entfuhr ein Stoßseufzer. »Da hast du allerdings recht.«
Richard drehte sich um und sah Du Chaillu niederknien. Sie hatte die Hände gefaltet und hielt den Kopf, wie es schien, in ernstem Gebet gesenkt.
»Verfügt Anderith über Bücher, über irgendwelche Bibliotheken?«
»Nun, ja«, antwortete Kahlan. »Es gibt dort eine riesige Bibliothek der Kultur, wie sie dort genannt wird.«
Richard zog eine Braue hoch. »Wenn es eine Antwort gibt, warum dann unbedingt in Aydindril? In Kolos Tagebuch? Was wäre, wenn sich die Antwort, so es denn eine gibt, in ihrer Bibliothek befindet?«
»Vorausgesetzt, die Antwort läßt sich überhaupt in einem Buch finden.« Erschöpft griff Kahlan nach einer Strähne ihres Haars, das über ihre Schulter hing. »Ich gebe zu, Richard, das alles ist besorgniserregend, aber wir sind anderen gegenüber zu verantwortungsbewußtem Handeln verpflichtet. Menschenleben, ganze Nationen stehen auf dem Spiel. Sollte es darauf hinauslaufen, daß ein Land geopfert werden muß, um die übrigen zu retten, würde ich dieses Land, wenn auch widerstrebend und unter großen Qualen, seinem Schicksal überlassen und der Mehrheit gegenüber meine Pflicht tun.
Zedd hat uns erklärt, wir müßten nach Aydindril gehen, um das Problem von der anderen Seite her anzugehen. Er mag es anders genannt haben, das Problem bleibt mehr oder weniger dasselbe. Wenn das, was er von uns verlangt, den Chimären Einhalt gebietet, müssen wir es tun. Es ist unsere Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohl aller zu handeln.«
»Ich weiß.« Die Verantwortung wurde zunehmend zu einem zermürbenden Mühlstein. Im Grunde mußten sie beide Orte aufsuchen. »Aber eins macht mir Sorgen an dieser ganzen Geschichte, nur komme ich einfach nicht dahinter. Schlimmer noch, ich befürchte, es wird Menschenleben kosten, wenn wir die falsche Entscheidung treffen.«
Ihre Finger schlossen sich um seinen Arm. »Das weiß ich, Richard.«
Er warf die Hände in die Höhe und wandte sich ab. »Ich muß unbedingt einen Blick in dieses Buch ›Des Berges Zwilling‹ werfen.«
»Aber hat Ann nicht davon gesprochen, sie habe in ihrem Reisebuch an Verna geschrieben und Verna habe geantwortet, es sei zerstört worden?«
»Ja, es gibt also keine Möglichkeit…« Richard wirbelte zu ihr herum. »Reisebuch.« Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. »Diese Reisebücher, Kahlan, werden von den Schwestern benutzt, um miteinander in Verbindung zu bleiben, wenn eine von ihnen sich auf einer Reise weit von den anderen entfernt.«
»Ja, ich weiß.«
»Die Reisebücher wurden von den Zauberern aus alter Zeit für sie erschaffen – damals zu Zeiten des Großen Krieges.«
Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Ja, und?«
Richard hatte Mühe, seine Aufregung im Zaum zu halten. »Diese Bücher existieren jeweils paarweise. Man kann nur mit dem Zwilling desjenigen kommunizieren, das man selber besitzt.«
»Ich verstehe nicht, Richard, was…«
»Angenommen, die Zauberer haben es damals genauso gemacht? Die Burg der Zauberer in Aydindril hat laufend Zauberer mit Aufträgen ausgesandt. Was wäre, wenn sie sich auf diese Weise über das Geschehen überall auf dem laufenden gehalten hätten? Alles koordiniert hätten? Was wäre, wenn sie diese auf die gleiche Weise benutzt hätten wie die Schwestern des Lichts? Schließlich haben die Zauberer aus jener Zeit sowohl den Bann geschaffen, der den Palast umgibt, als auch die von den Schwestern benutzten Reisebücher.«
Sie hatte die Stirn in Falten gelegt. »Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich ganz verstehe…«
Richard faßte sie bei den Schultern. »Angenommen, bei dem Buch, das zerstört wurde, Des Berges Zwilling, handelt es sich um ein Reisebuch? Um das Gegenstück zu Joseph Anders Reisebuch?«